Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Warum konnte Helen nicht aus dem Lager fliehen? Wie charakteresiert das sie?

2) Erzählen Sie über das Gespräch zwischen Schwarz und der jüdischen Familie.

3) Wie gelang es Schwarz, eine Aufenthaltserlaubnis für eine Woche zu bekommen?

15

„Die Odyssee begann“, sagte Schwarz. „Die Wanderung durch die Wüste. Der Zug durch das Rote Meer. Sie kennen ihn sicher auch.“

Ich nickte. „Bordeaux. Das Abtasten der Grenzübergänge. Die Pyrenäen. Der langsame Sturm auf Marseille. Der Sturm auf die trägen Herzen und die Flucht vor den Barbaren. Dazwischen der Irrsinn der wildgewordenen Bürokratie. Keine Aufenthaltserlaubnis – aber auch keine Ausreiseerlaubnis. Und wenn man sie schließlich erhielt, war inzwischen das spanische Durchreisevisum abgelaufen, das man wiederum nur bekam, wenn man ein Einreisevisum für Portugal besaß, das oft noch von einem anderen abhängig war, was hieß, dass alles wieder von vorn zu beginnen hatte – das Warten vor den Konsulaten, diesen Vororten des Himmels und der Hölle! Ein Circulus vitiosus* des Wahnsinns!“

„Wir kamen vorerst in eine Windstille“, sagte Schwarz. „Helen brach am Abend zusammen. Ich hatte ein Zimmer in einem abgelegenen Gasthof gefunden. Wir waren zum erstenmal wieder legal – wir hatten zum erstenmal seit vielen Monaten wieder ein Zimmer für uns allein —, das war es, was den Weinkrampf bei ihr hervorrief. Wir saßen nachher schweigend in dem kleinen Garten des Gasthofs. Es war schon sehr kühl, aber wir wollten noch nicht schlafen gehen. Wir tranken eine Flasche Wein und blickten auf die Straße, die zum Lager führte und die man vom Garten aus sehen konnte. Eine tiefe Dankbarkeit saß mir fast schmerzhaft im Nacken. Alles war an diesem Abend ausgelöscht durch sie, sogar die Furcht, dass Helen krank sei. Sie sah nach ihrem Weinkrampf gelöst und sehr ruhig aus, wie eine Landschaft nach einem Regen, und so schön, wie man manchmal Gesichter auf alten Kameen sieht. Sie werden das verstehen“, sagte Schwarz. „In einem Dasein, wie wir es führen, hat Krankheit eine andere Bedeutung als sonst. Krankheit heißt bei uns, nicht mehr fliehen zu können.“

„Ich weiß“, erwiderte ich bitter.

„Am andern Abend sahen wir die abgeblendeten Lichter eines Wagens die Straße zum Lager emporkriechen. Helen wurde unruhig. Wir hatten uns den Tag über kaum aus unserm Zimmer gerührt. Wieder ein Bett zu haben und einen eigenen Raum war ein solches Erlebnis, dass man es nicht genug genießen konnte. Wir spürten auch beide, wie müde und erschöpft wir waren, und ich hätte mich gern für Wochen nicht aus dem Gasthof gerührt. Aber Helen wollte plötzlich fort. Sie wollte die Straße zum Lager nicht mehr sehen. Sie fürchtete, die Gestapo würde sie weiter suchen.

Wir packten unsere paar Sachen. Es war vernünftig, weiterzuwandern, solange wir noch eine Aufenthaltserlaubnis für unseren Bezirk hatten; wenn wir anderswo geschnappt würden, konnte man uns höchstens hierher zurückweisen, aber uns nicht gleich festnehmen, hofften wir.

Ich wollte nach Bordeaux; auf dem Wege aber hörten wir, dass es längst zu spät dafür sei. Ein kleiner Citroen-Zweisitzer nahm uns mit, und der Fahrer riet uns, zu versuchen, irgendwo anders unterzukommen. Es sei da ein kleines Schloss in der Nähe seines Zieles; er wisse, dass es leerstände, vielleicht könnten wir da für die Nacht kampieren*.

Wir hatten kaum eine Wahl. Am späten Nachmittag setzte uns der Fahrer ab. Vor uns im grauen Licht lag das Schlösschen, eigentlich eher ein Landhaus, dessen Fenster dunkel waren und keine Gardinen zeigten. Ich ging die Freitreppe hinauf und versuchte die Tür. Sie war offen und zeigte Spuren, dass sie gewaltsam geöffnet worden war. Meine Schritte hallten in der dämmerigen Halle. Ich rief und bekam ein gebrochenes Echo als Antwort. Die Räume waren vollkommen leer. Alles, was weggenommen werden konnte, war weggenommen worden. Geblieben aber waren die Räume des achtzehnten Jahrhunderts, die getäfelten Wände, die edlen Maße der Fenster, die Decken und die graziösen Treppen.

Wir gingen langsam hindurch. Niemand antwortete auf unsere Rufe. Ich suchte nach elektrischen Schaltern. Es waren keine da. Das Schlösschen hatte noch keine Elektrizität; es war geblieben, wie es erbaut war. Ein kleines Speisezimmer war da in Gold und Weiß – ein, Schlafzimmer in hellem Grün und Gold. Nicht ein einziges Möbel; die Besitzer mussten es ausgeräumt haben, um zu flüchten.

In einem Mansardenzimmer fanden wir endlich eine Truhe. Sie enthielt ein paar Masken, bunte, billige Kostüme, die von einem Fest stammen mussten, und ein paar Pakete Kerzen. Besser aber war eine eiserne Bettstelle mit einer Matratze. Wir suchten weiter und entdeckten etwas Brot in der Küche, ein paar Büchsen Sardinen, ein Büschel Knoblauch, ein halbgeleertes Glas Honig und im Keller ein paar Pfund Kartoffeln, ein paar Flaschen Wein und einen Stapel Holz. Es war ein Feenland!

Das Haus hatte fast überall Kamine. Wir verhängten das Fenster eines Zimmers, das wahrscheinlich ein Schlafzimmer gewesen war, mit einigen der Kostüme, die wir gefunden hatten. Ich ging noch einmal um das Haus und entdeckte einen Obst- und Gemüsegarten. Äpfel und Birnen hingen noch an den Bäumen. Ich sammelte sie und brachte sie herein.

Als es so dunkel war, dass man keinen Rauch mehr aufsteigen sehen konnte, machte ich ein Feuer im Kamin an, und wir begannen zu essen. Es war eine gespenstische und verzauberte Stimmung. Der Schein des Feuers flackerte über die herrlichen Boiserien, und unsere Schatten schwankten dazwischen wie Geister aus einer glücklichen Welt.

Es wurde warm, und Helen wechselte ihre Kleider, um die andern zu trocknen. Sie holte ihr Abendkleid aus Paris hervor und zog es an. Ich öffnete eine Flasche Wein. Wir hatten keine Gläser und tranken aus der Flasche. Helen zog sich später noch einmal um. Sie holte aus der Truhe einen Domino und eine Halbmaske und lief damit durch das dunkle Treppenhaus. Sie rief von oben und von unten und huschte umher, ihre Stimme hallte von überall wider, ich sah sie nicht mehr, ich hörte nur ihre Füße, bis sie plötzlich hinter mir im Dunkel stand und ich ihren Atem in meinem Nacken spürte.

„Ich dachte, ich hätte dich verloren“, sagte ich und hielt sie fest.

„Du verlierst mich nie“, flüsterte sie durch ihre schmale Maske. „Und weißt du, warum nicht? Weil du mich nie festhalten wolltest wie ein Bauer seinen Acker. Der glänzendste Mann ist langweilig dagegen.“

„Ich bin bestimmt kein glänzender Mann“, sagte ich überrascht.

Wir standen auf dem Treppenabsatz. Durch die ein wenig geöffnete Tür des Schlafzimmers fiel ein Streifen des flackernden Kaminlichles auf die Bronzeornamente des Geländers und Helens Schultern und Mund.

„Du weißt nicht, was du bist“, murmelte sie und sah mich mit glitzernden Augen an, die, wie die einer Schlange, durch die Maske kein Weiß zeigten, sondern nur starr und glänzend waren. „Aber du solltest wissen, wie trostlos all diese Don Juans sind! Wie Kleider, die man einmal trägt. Aber du – du bist das Herz.“

Vielleicht waren es die Kostüme, die wir trugen, die es uns leichter machten, solche Worte zu gebrauchen. Ich hatte ebenso wie sie einen Domino angezogen, etwas gegen meinen Willen, aber meine übrigen Sachen waren, wie die ihren, noch nass vom Tage und trockneten neben dem Kamin. Die ungewohnten Kleider in der geisterhaften Umgebung der belle Epoque* veränderten uns und öffneten unsere Lippen zu andern Worten als sonst. Treue und Untreue verloren ihre bürgerliche Schwere und ihre Einseitigkeit; das eine konnte das andere sein, es gab nicht nur das eine oder das andere, sondern viele Schattierungen, und die Namen verloren ihre Bedeutung.

„Wir sind Tote“, flüsterte Helen. „Beide. Wir haben keine Gesetze mehr. Du bist tot, mit einem toten Pass, und ich bin heute im Krankenhaus gestorben. Sieh unsere Kleider an! Wie bunte und goldene Fledermäuse huschen wir in einem gestorbenen Jahrhundert umher.

Man nannte es das schöne Jahrhundert, und das war es auch mit seinen Menuetten*, seiner Grazie und seinem Rokokohimmel* – aber an seinem Ende stand die Guillotine*, so wie sie immer überall steht, nach jedem Fest im kühlen Morgen, blitzend und unerbittlich. Wo wird unsere stehen, Liebster?“

„Lass das, Helen“, sagte ich.

„Sie wird nirgendwo stehen“, flüsterte sie. „Wo ist für Tote eine Guillotine? Sie kann uns nicht mehr zerschneiden, man kann das Licht nicht zerschneiden und nicht den Schatten, aber hat man nicht unsere Arme zerbrechen wollen, immer wieder? Halte mich, hier in dieser Verzauberung und dem goldenen Dunkel, und vielleicht wird etwas davon in uns bleiben und die arme Stunde unseres letzten Atems erleuchten.“

„Sprich nicht so, Helen“, sagte ich und fühlte einen leichten Schauder.

„Erinnere dich immer so an mich wie jetzt“, flüsterte sie, ohne auf mich zu hören. „Wer weiß, was aus uns noch wird…“

„Wir werden nach Amerika gehen, und der Krieg wird einmal zu Ende sein“, sagte ich.

„Ich klage nicht“, erwiderte sie dicht an meinem Gesicht. „Wie könnten wir klagen? Was wäre sonst aus uns geworden? Ein mittelmäßiges, langweiliges Paar, das in Osnabrück ein mittelmäßiges, langweiliges Leben geführt hätte mit mittelmäßigen Gefühlen und einer Urlaubsreise im Jahr…“

Ich musste lachen. „So kann man es auch auffassen.“

Sie war sehr heiter an diesem Abend und feierte ihn wie ein Fest. Mit einer Kerze und goldenen Pantöffelchen, die sie in Paris gekauft und über alles hinweg gerettet hatte, lief sie in den Keller und brachte eine neue Flasche Wein herauf. Ich stand oben an der Treppe und sah sie durch das Dunkel heraufsteigen, das beleuchtete, zu mir gehobene Gesicht vor den vielfäl tigen Schatten. Ich war glücklich, wenn man Glück einen Spiegel nennen kann, der ein geliebtes Gesicht spiegelt, rein und vollkommen vor vielen Schatten.

Das Feuer erlosch langsam. Sie schlief unter den bunten Sachen ein. Es war eine seltsame Nacht. Erst spät hörte ich das Dröhnen von Flugzeugen, unter dem die Rokokospiegel leise klirrten.

* * *

Wir blieben vier Tage allein. Dann musste ich ins nächste Dorf, um einzukaufen. Ich hörte dort, dass von Bordeaux zwei Schiffe abgehen sollten. „Sind die Deutschen noch nicht da?“ fragte ich.

„Sie sind da, und sie sind nicht da“, antwortete man mir. „Es kommt darauf an, wer Sie sind.“

Ich besprach es mit Helen. Sie war zu meinem Erstaunen ziemlich gleichgültig. „Schiffe, Helen!“ sagte ich aufgeregt. „Fort von hier! Nach Afrika. Nach Lissabon. Irgendwohin. Von da kann man weiter.

„Warum bleiben wir nicht hier?“ erwiderte sie. „Im Garten gibt es Obst und Gemüse. Ich kann es kochen, solange wir Holz haben. Brot bekommen wir im Dorf. Haben wir noch Geld?“

„Wir haben noch etwas. Und ich habe noch eine Zeichnung. Ich kann sie in Bordeaux verkaufen, damit wir Reisegeld haben.“

„Wer kauft jetzt Zeichnungen?“

„Leute, die ihr Geld anlegen wollen.“

Sie lachte. „Dann verkaufe sie und lass uns hierblei ben.“

„Ich wollte, wir könnten es!“

Sie hatte sich in das Haus verliebt. Auf der einen Seite lag ein kleiner Park, dahinter der Obst und Gemüsegarten. Sogar ein Teich und eine Sonnenuhr waren da. Helen liebte das Haus, und das Haus schien sie zu lieben. Es war ein Rahmen, der zu ihr passte, und wir waren zum erstenmal nicht in Hotels oder Barakken. Das Leben in den Maskenkostümen und der Atmosphäre von heiterer Vergangenheit gab auch mir eine verzauberte Hoffnung – manchmal sogar einen Glauben an ein Leben nach dem Tode —, als hätten wir bereits eine erste Bühnenprobe dafür hinter uns. Es wäre auch mir recht gewesen, wenn wir einige hundert Jahre so hätten leben können.

* * *

Trotzdem aber dachte ich weiter an die Schiffe in Bordeaux. Es schien mir unwahrscheinlich, dass sie auslaufen könnten, wenn die Stadt schon teilweise besetzt war – aber dies war die Zeit des Zwielichtkrieges. Frankreich hatte einen Waffenstillstand, aber noch keinen Frieden, es hatte angeblich eine Okkupationszone und eine freie Zone, aber es hatte keine Macht, Abmachungen zu verteidigen, und außerdem war da die deutsche Armee und die Gestapo, und beide arbeiteten nicht immer Hand in Hand.

„Ich muss es herausfinden“, sagte ich. „Du bleibst hier, und ich versuche, nach Bordeaux zu kommen.“

Helen schüttelte den Kopf. „Ich bleibe nicht allein hier. Ich gehe mit dir.“

Ich verstand sie. Es gab keine abgetrennten gefährlichen und ungefährlichen Gebiete mehr. Man konnte lebendig aus einem feindlichen Hauptquartier entkommen und auf einer entlegenen Insel von Gestapoagenten gefasst werden; alle Maßstäbe von früher hatten sich verschoben.

Wir kamen auf die zufällige Weise hin, die Sie wahrscheinlich kennen“, sagte Schwarz. „Wenn man hinterher darüber nachdenkt, begreift man nicht, wie sie möglich war. Zu Fuß, in einem Lastwagen – einmal ritten wir sogar eine Strecke auf zwei breiten, gutmütigen Ackerpferden, die ein Knecht zum Verkauf fortbrachte.

Es waren bereits Truppen in Bordeaux. Die Stadt war nicht besetzt, aber es waren Truppen da. Der Schock war stark; man erwartete, jede Minute festgenommen zu werden. Helen trug ein unauffälliges Kostüm; es war außer dem Abendkleid, einem Paar Hosen und zwei Sweatern ungefähr alles, was sie an Garderobe besaß. Ich hatte den Monteuranzug. Einen zweiten Anzug hatte ich im Rucksack.

Wir ließen die Sachen in einer Kneipe. Es war überall auffällig, Gepäck zu haben, obschon auch zahlreiche Franzosen mit Koffern unterwegs waren. „Wir werden zu einem Reisebüro gehen und nach den Schiffen fragen“, sagte ich. Wir kannten niemand in der Stadt.

Es existierte tatsächlich noch ein Büro. In den Fenstern hingen alte Plakate. „Verbringt den Herbst in Lissabon“ – „Algier, die Perle Afrikas“ – „Ferien in Florida“ – „Sonniges Granada“. Die meisten waren ausgebleicht, aber die von Lissabon und Granada leuchteten noch prachtvoll farbig.

Wir brauchten nicht zu warten, bis wir zum Schalter kamen. Ein vierzehnjähriger Experte informierte uns. Es stimme nicht mit den Schiffen. Gerüchte dieser Art hätten seit Wochen umhergeschwirrt. Tatsache sei, dass lange vor der Besetzung ein englisches Schiff da gewesen sei, um Polen und Emigranten abzuholen, die sich zur polnischen Legion gemeldet hatten, einer Truppe von Freiwilligen, die in England zusammengestellt wurde. Zur Zeit ginge kein Schiff.

Ich fragte, was alle die Leute im Raum dann wollten. „Die meisten dasselbe wie Sie“, erwiderte der Experte.

„Und Sie?“ fragte ich.

„Ich habe aufgegeben wegzukommen“, sagte er. „Ich mache daraus meinen Broterwerb. Ich bin Dolmetscher, Ratgeber, Fachmann in Visa-Angelegenheiten, Experte in Unterkünften…“

Ich wunderte mich nicht. Not macht früh reif, und Jugend kennt keine Trübung des Blickes durch Sentimentalität und Vorurteile. Wir gingen in ein Cafe, und der Experte gab mir einen Überblick über die Lage. Es war möglich, dass die Truppen abziehen würden; aber Bordeaux war für Aufenthaltserlaubnisse trotzdem schwierig; für Visa ganz schlecht. Bayonne* wurde für spanische Visa als gut im Augenblick befunden, aber es war überfüllt. Am besten schien Marseille zu sein; aber das war ein langer Weg. Wir haben ihn alle gemacht, später. Sie auch?“ fragte Schwarz.

„Ja“, sagte ich. „Den Kreuzweg.“

Schwarz nickte. „Ich versuchte natürlich das amerikanische Konsulat auf dem Wege. Aber Helen hatte einen gültigen deutschen Pass aus der Nazizeit; wie konnten wir da beweisen, dass wir in Todesgefahr waren? Die Juden, die ohne Papiere voll Angst vor den Türen lagen, schienen in größerer Gefahr zu sein. Unsere Pässe wurden Zeugen gegen uns, sogar der des toten Schwarz.

Wir beschlossen, zu unserem Schlösschen zurückzukehren. Zweimal hielten uns Gendarmen an; beide Male machte ich mir die Depression zunutze – ich schnauzte die Gendarmen an, hielt ihnen die Pässe unter die Nase und berief mich als Österreich-Deutscher auf die Militärverwaltung. Helen lachte, sie fand das alles komisch. Ich war das erstemal auf die Idee gekommen, als ich in der Kneipe unser Gepäck zurückverlangt hatte. Der Wirt hatte erklärt, nie Gepäck von uns erhalten zu haben. „Wenn Sie wollen, können Sie ja die Polizei rufen“, sagte er und blinzelte mich lächelnd an. „Aber das wollen Sie doch wohl nicht!“

„Das brauche ich nicht“, erwiderte ich. „Geben Sie die Sachen her!“

Der Wirt nickte dem Schankburschen zu. „Henri, der Herr möchte gehen.“

Henri kam mit aufgekrempelten Ärmeln heran.

„Ich würde mir das überlegen, Henri“, sagte ich zu ihm. „Oder brennen Sie darauf, zu sehen, wie ein deutsches Konzentrationslager von innen aussieht?“

„Ta gueule“, erwiderte Henri und hob die Anne nach mir.

„Schießen Sie, Sergeant!“ sagte ich scharf und sah an seinem Kopf vorbei.

Henri fiel darauf herein. Er sah sich um, und da er die Arme noch halb erhoben hatte, trat ich ihm mit aller Kraft in seine Geschlechtsteile. Er brüllte auf und ging zu Boden. Der Wirt griff nach einer Flasche und kam um die Theke herum.

Ich nahm eine Flasche Dubonnet, die auf dem Zinkbelag stand, schlug sie gegen eine Ecke und hielt den zackigen Rest in der Hand. Der Wirt blieb stehen. Hinter mir splitterte eine zweite Flasche. Ich sah mich nicht um; ich konnte den Wirt nicht aus den Augen lassen. „Ich bin’s“, sagte Helen und schrie den Wirt an: „Salaud! Gib die Sachen heraus, oder du hast kein Gesicht mehr!“

Sie kam um mich herum, ihre zerbrochene Flasche in der Hand, und ging gebückt auf den Wirt los. Ich hielt sie mit der freien Hand fest. Sie musste eine Pernodflasche* erwischt haben, denn alles roch plötzlich nach Anis. Ein Strom von Hafenflüchen ergoss sich über den Wirt. Helen zerrte, halb geduckt, an meiner Hand, um loszukommen. Der Wirt trat rasch hinter die Theke zurück.

„Was geht hier vor?“ fragte jemand von der Tür her auf deutsch.

Der Wirt begann zu grinsen. Helen wandte sich um. Der deutsche Unteroffizier, den ich vorher für Henri erfunden hatte, stand jetzt wirklich da.

„Ist er verletzt?“ fragte der Unteroffizier.

„Das Schwein da?“ Helen zeigte auf Henri, der noch immer die Fäuste zwischen die Beine presste und, die Knie angezogen, auf dem Boden hockte. „Das ist kein Blut! Das ist Dubonnet!“

„Sind Sie Deutsche?“ fragte der Unteroffizier.

„Ja“, erwiderte ich. „Und wir sind bestohlen worden.“ „Haben Sie Papiere?“

Der Wirt grinste; er schien etwas Deutsch zu verstehen.

„Natürlich“, fauchte Helen. „Und ich bitte Sie, uns zu unserem Recht zu verhelfen!“ Sie hielt ihren Pass hoch. „Ich bin die Schwester des Obersturmbannführers Jürgens. Hier…“, sie zeigte auf das Datum des Passes. „Wir wohnen im Schloss – „ sie nannte einen Namen, den ich nie gehört hatte —,und sind auf einen Tag nach Bordeaux gefahren. Unsere Sachen haben wir hiergelassen, bei diesem Dieb. Jetzt behauptet er, er hätte sie nie bekommen. Helfen Sie uns, bitte!“

Sie fuhr wieder auf den Wirt los.

„Ist das wahr?“ fragte der Unteroffizier ihn.

„Natürlich ist es wahr! Die deutsche Frau lügt nicht!“ zitierte Helen einen der idiotischen Aussprüche des Regimes.

„Und wer sind Sie?“ fragte mich der Unteroffizier.

„Der Chauffeur“, erklärte ich und zupfte an meinem Monteuranzug.

„Also los!“ schrie der Unteroffizier den Wirt an. Der Mann hinter der Theke hatte aufgehört zu grinsen.

„Sollen wir Ihnen die Bude schließen?“ fragte der Unteroffizier.

Helen übersetzte mit großem Genuss und fügte noch eine Anzahl „salauds“ und „sales etrangers“ hinzu. Das letzte entzückte mich besonders; einen Franzosen in seinem eigenen Land einen dreckigen Ausländer zu nennen, konnte nur von jemand voll genossen werden, der dasselbe oft genug selbst genannt worden war.

„Henri!“ bellte der Wirt. „Wo hast du die Sachen gelassen? Ich weiß von nichts“, erklärte er dem Unteroffizier, „der Bursche muss das getan haben.“

„Er lügt“, übersetzte Helen. „Er schiebt die Schuld auf den Gorilla dort. Raus mit den Sachen“, sagte sie zum Wirt. „Sofort! Oder wir holen die Gestapo!“

Der Wirt gab Henri einen Tritt. Er schlich davon. „Entschuldigen Sie“, sagte der Wirt zum Unteroffizier. „Ein Missverständnis. Ein Gläschen?“

„Cognac“, erwiderte Helen. „Den besten.“

Der Wirt stellte ein Glas auf den Schanktisch. Helen starrte ihn an. Er fügte zwei Gläser hinzu.

„Sie sind eine tapfere Frau“, sagte der Unteroffizier.

„Die deutsche Frau fürchtet sich vor nichts“, zitierte Helen die NaziIdeologie und legte die zerbrochene Pernodflasche weg.

„Was für einen Wagen fahren Sie?“ fragte mich der Unteroffizier.

Ich sah ihm fest in seine harmlosen grauen Augen. „Mercedes, den Wagen des Führers, selbstverständlich!“

Er nickte. „Es ist schön hier, was? Nicht so wie zu Hause, aber doch schön, finden Sie nicht?

„Sehr schön. Nicht wie zu Hause, das ist klar.“

Wir tranken. Der Cognac war hervorragend. Henri kam mit unseren Sachen und legte sie auf einen Stuhl. Ich kontrollierte den Rucksack. Es war alles da.

„In Ordnung“, sagte ich zu dem Unteroffizier.

„Es war Schuld des Burschen“, erklärte der Wirt. „Du bist entlassen, Henri! Scher dich raus!“

„Danke, Unteroffizier“, sagte Helen. „Sie sind ein deutscher Mann und ein Kavalier.“

Der Unteroffizier salutierte. Er war unter fünfundzwanzig Jahre alt. „Da wäre noch die Rechnung für den Dubonnet und die Flasche Pernod, die zerbrochen worden sind“, sagte der Wirt, der wieder Mut gefasst hatte.

Helen übersetzte. „Kein Kavalier“, fügte sie hinzu. „Es war Notwehr.“

Der Unteroffizier nahm die nächste Flasche von der Theke. „Erlauben Sie“, meinte er galant. „Schließlich sind wir nicht umsonst die Sieger!“

„Madame trinkt keinen Cointreau*“, erklärte ich. „Nehmen Sie den Cognac, Unteroffizier, auch wenn er schon angebrochen ist.“

Der Unteroffizier präsentierte Helen mit der Flasche. Ich steckte sie in den Rucksack. Wir verabschiedeten uns vor der Tür. Ich hatte Sorge, dass der Soldat uns bis zu unserm Mercedes begleiten wolle; aber Helen machte das ausgezeichnet.

„So was kann bei uns nicht passieren“, sagte der junge Mann stolz beim Abschied. „Bei uns herrscht Ordnung.“

Ich sah ihm nach. Ordnung, dachte ich. Mit Foltern, Genickschüssen und Massenmord! Gib mir lieber hunderttausend kleine Betrüger wie diesen Wirt!

„Wie fühlst du dich?“ fragte Helen.

„Gut. Ich wusste nicht, dass du so fluchen kannst.“

Sie lachte. „Ich habe es im Lager gelernt. Wie das befreit! Ein Jahr Internierung ist plötzlich von meinen Schultern geglitten! Aber wo hast du gelernt, mit zerbrochenen Flaschen zu kämpfen und Leute zu Eunuchen* zu treten?“

„Im Kampf um die Menschenrechte“, erwiderte ich. „Wir leben im Zeitalter der Paradoxe. Zur Erhaltung des Friedens führen wir Krieg.“

Es war fast so. Man war gezwungen, zu lügen und zu betrügen, um sich zu verteidigen und am Leben zu bleiben. In den nächsten Wochen stahl ich den Bauern Obst von den Bäumen und Milch aus den Kellern. Es war eine glückliche Zeit. Sie war gefährlich, lächerlich, manchmal trostlos und oft komisch – aber sie war nie bitter. Ich habe Ihnen soeben den Zwischenfall mit dem Wirt erzählt; ähnliche Situationen gab es bald mehr. Sie kennen das wahrscheinlich auch?“

Ich nickte. „Wenn man sie so auffassen konnte, waren sie oft komisch.“

„Ich lernte es“, erwiderte Schwarz. „Durch Helen. Sie war ein Mensch, in den sich keine Vergangenheit mehr sammelte. Das, was ich nur manchmal gefühlt hatte, wurde in ihr strahlende Wirklichkeit. Die Vergangenheit brach bei ihr jeden Tag ab wie das Eis hinter dem Reiter über den Bodensee. Dafür drängte sich alles in die Gegenwart. Das, was sich bei anderen über ein Leben verteilt, konzentrierte sich bei ihr auf den Augenblick; aber es war keine starre Konzentration. Sie war völlig gelöst, heiter wie Mozart und unerbittlich wie der Tod. Die Begriffe Moral und Verantwortung, in ihrem dumpfen Sinne, existierten nicht mehr; höhere, fast ätherische Gesetze traten an ihre Stelle. Sie hatte keine Zeit mehr für etwas anderes. Wie ein Feuerwerk sprühte sie, aber ohne Asche. Sie wollte nicht gerettet werden; ich glaubte das damals noch nicht. Sie wusste, dass sie nicht zu retten war. Da ich aber darauf bestand, ließ sie es zu – und ich, Narr, schleppte sie den Kreuzweg entlang, alle zwölf Stationen, von Bordeaux nach Bayonne und dann den endlosen Weg nach Marseille und zurück bis hierher.

* * *

Als wir zu dem Schlösschen zurückkamen, war es besetzt. Wir sahen Uniformen, Soldaten, die hölzerne Werktische heranschleppten, und ein paar Offiziere, die in Fliegerbreeches* und glänzenden hohen Stiefeln wie fremdartige Pfauen umherstolzierten.

Wir beobachteten sie vom Park aus, hinter einer Buche und einer marmornen Göttin versteckt. Es war ein seidener später Nachmittag. „Haben wir noch etwas drüben?“ fragte ich.

„Die Apfel an den Bäumen, die Luft, den goldenen Oktober und unsere Träume“, sagte Helen.

„Die haben wir überall hinterlassen“, erwiderte ich. „Wie fliegende Spinnweben im Herbst.“

Der Offizier auf der Terrasse gab ein paar scharfe Kommandos. „Die Stimme des zwanzigsten Jahrhunderts“’, sagte Helen. „Lass uns gehen. Wo schlafen wir heute nacht?“

„Wir werden irgendwo im Heu schlafen“, sagte ich. „Vielleicht auch in einem Bett. Auf jeden Fall aber zusammen.“

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