Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Schwarz sagt zum Ich-Erzähler: „Es mag sein, dass unsere Zeit einmal die der Ironie genannt wird.“ Welche Ironie hatte in seinem Leben Platz?

2) Welche Gefühle löste bei Schwarz das Foto aus, das Helen ihm geschickt hatte?

3) Was meinen Sie, wozu brauchte Schwarz Gift? Welches Gefühl brachten ihm diese kleinen Kapseln?

4) Was können Sie über Schwarz’ Einstellung zum Gott sagen?

5) Auf welche Weise verließ Schwarz das Lager?

Texterläuterungen

Diarrhö(e) die, eine Krankheit, bei der man flüssigen Kot ausscheidet; Durchfall

Marseille, zweitgrößte Stadt Frankreichs und der bedeutenste französische Hafen am Mittelmeer

13

„Am Bahnhof stand ein Gendarm. Ich kehrte um. Obschon ich nicht glaubte, dass mein Verschwinden schon bekannt geworden sei, beschloss ich, lieber die Bahn fürs erste zu meiden. Sowenig es auch immer auf uns ankommt, solange wir im Lager sind, so wertvoll werden wir plötzlich, wenn wir entkommen. Während ein Stück Brot zu schade für uns ist, solange wir da sind, ist nichts zu teuer, um uns wieder einzufangen, und ganze Kompanien werden dazu mobilgemacht.

Ich fand einen Lastwagen, der mich ein Stück mitnahm. Der Fahrer schimpfte auf den Krieg, die Deutschen, die französische Regierung, die amerikanische Regierung und Gott; aber er teilte mit mir sein Mittagessen, bevor er mich absetzte. Ich ging eine Stunde auf der Landstraße weiter, bis ich zur nächsten Bahnstation kam. Da ich gelernt hatte, dass man sich nicht verstecken soll, wenn man nicht verdächtig werden will, verlangte ich eine Fahrkarte erster Klasse zum nächsten Ort. Der Beamte zögerte. Ich erwartete, dass er nach Papieren fragen wolle, und kam ihm zuvor, indem ich ihn anschnauzte. Er wurde verblüfft und unsicher und gab mir die Karte. Ich ging in ein Cafe und wartete dort bis zur Abfahrt des Zuges, der mit einer Stunde Verspätung talsächlich ankam.

Es gelang mir, in drei Tagen zu Helens Lager zu kommen. Einen Gendarmen, der mich stellte, schrie ich auf deutsch an, während ich ihm den Pass von Schwarz unter die Nase hielt. Er fuhr erschreckt zurück und war froh, dass ich ihn in Ruhe ließ. Österreich gehörte zu Deutschland, und ein österreichischer Pass wirkte bereits wie eine Visitenkarte der Gestapo. Es war sonderbar, zu was allem das Dokument des toten Schwarz fähig war. Zu vielem mehr als ein Mensch – dieses bedruckte Stück Papier!

Man musste einen Berg hinaufgehen, zwischen Ginster*, Heide, Rosmarin und Wald hindurch, um zu Helens Lager zu gelangen. Ich kam nachmittags an. Das Lager war mit Draht eingezäunt, aber es wirkte nicht so trübsinnig wie Le Vernet, wahrscheinlich weil es ein Frauenlager war. Die Frauen hatten sich fast alle bunte Kopftücher und eine Art von Turbanen gemacht, und sie trugen farbige Kleider; das wirkte sorglos. Ich konnte es vom Walde her sehen.

Es machte mich plötzlich mutlos. Ich hatte äußerste Trostlosigkeit erwartet, in die ich wie ein Don Quichote und ein St. Georg* einbrechen würde; jetzt aber schien man mich hier überhaupt nicht zu brauchen. Das Lager wirkte, als genüge es sich selbst. Wenn Helen hier war, würde sie mich längst vergessen haben.

Ich blieb versteckt, um auszukundschaften, was ich tun sollte. In der Dämmerung kam eine Frau nahe an die Einzäunung. Andere kamen hinzu. Bald standen viele da. Sie standen still und sprachen kaum miteinander. Sie blickten mit Augen, die nichts sahen, durch den Draht. Das, was sie sehen wollten, war nicht da – Freiheit. Der Himmel wurde violett, die Schatten krochen vom Tal herauf, und man sah hie und da abgeschirmte Lichter. Die Frauen wurden zu Schatten, die ihre Farben verloren hatten und sogar ihre Körperlichkeit. Bleiche, formlose Gesichter schwebten in einer unregelmäßigen Reihe über den flachen, schwarzen Silhouetten hinter dem Draht. Dann lichteten sich die Reihen; eine nach der andern gingen sie zurück. Die Stunde der Verzwei flung war vorbei. Ich hörte später, dass man sie im Lager so nannte.

Nur noch eine Frau stand an der Einzäunung. Ich näherte mich ihr vorsichtig. „Erschrecken Sie nicht“, sagte ich französisch.

„Erschrecken?“ fragte sie nach einer Weile. „Wovor?“

„Ich möchte Sie um etwas bitten.“

„Du brauchst nicht zu bitten, du Schwein“, erwiderte sie. „Gibt es denn nicht anderes in euren dämlichen Knochen?“

Ich starrte sie an. „Was meinen Sie?“

„Stell dich nicht dümmer, als du bist! Geh zum Teufel und platze an deinen verdammten Gelüsten! Habt ihr denn keine Frauen im Dorf? Müßt ihr hier herumstehen, ihr jammervollen Hunde?“

Ich begriff, was sie meinte. „Sie irren sich“, sagte ich. „Ich muss eine Frau sprechen, die hier im Lager ist.“

„Das müsst ihr alle! Warum eine? Warum nicht zwei? Oder alle?“

„Hören Sie zu!“ sagte ich. „Meine Frau ist hier. Ich muss meine Frau sprechen!“

„Sie auch?“ Die Frau lachte. Sie schien nicht zornig zu sein, nur müde. „Ein neuer Trick! Jede Woche fällt euch was anderes ein!“

„Ich bin hier zum erstenmal!“

„Dafür bist du schon ganz munter. Geh zum Teufel!“

„Hören Sie doch zu“, sagte ich auf deutsch. „Ich möchte, dass Sie einer Frau im Lager Nachricht geben, dass ich hier bin. Ich bin Deutscher. Ich war selbst eingesperrt! In Le Vernet!“

„Sieh einer an“, sagte die Frau ruhig. „Deutsch kann er auch. Verfluchter Elsässer! Die Syphilis soll dich fressen, du Lump! Dich und deine verdammten Kollegen, die hier abends antreten! Jedem einzelnen von euch soll der Krebs wegfressen, was ihr uns da hinhaltet! Habt ihr denn überhaupt kein Gefühl, ihr Ferkel? Wisst ihr nicht, was ihr tut? Lasst uns in Ruhe! Lasst uns in Ruhe!“ sagte sie laut und hart. „Ihr habt uns eingesperrt, ist das nicht genug? Lasst uns in Ruhe!“ schrie sie.

Ich hörte andere kommen und sprang zurück. Die Nacht über blieb ich im Walde. Ich wusste nicht, wohin. Ich lag zwischen den Stämmen und sah das Licht ganz erlöschen und dann den Mond heraufkommen über die Landschaft, blass und wie weißes Gold und schon mit Nebeln und Dunst und der Kühle des Herbstes. Am Morgen ging ich zurück nach unten. Ich fand jemand, der meinen Anzug gegen einen blauen Monteur-Overall* tauschte.

Ich ging zurück zum Lager. Bei der Wache erklärte ich, ich müsse nach dem elektrischen Licht sehen. Mein Französisch war gut genug, so dass man mich einließ, ohne weiter zu fragen. Wer wollte auch schon freiwillig in ein Internierungslager?

Ich durchstreifte vorsichtig die Lagerstraßen. Die Frauen lebten wie in großen Kisten, die durch Vorhänge abgeteilt waren. Es gab einen unteren und einen oberen Stock in den Baracken. In der Mitte war ein Gang, und zu beiden Seiten hingen Vorhänge. Viele waren offen, und man konnte sehen, wie die Gelasse eingerichtet waren. Nur das Nötigste war da in den meisten; aber manche hatten trotzdem mit einem Tuch, ein paar Postkarten, einer Fotografie eine persönliche Note bekommen, so armselig sie auch war. Ich strich durch die halbdunklen Baracken, und die Frauen hörten auf zu arbeiten und sahen mich an. „Nachrichten?“ fragte mich eine.

„Ja – für jemand, der Helen heißt, Helen Baumann.“

Die Frau dachte nach. Eine zweite kam hinzu. „Ist das nicht das Naziluder*, das in der Kantine arbeitet?“ fragte sie. „Die, die mit dem Arzt rumhurt?“

„Sie ist keine Nazi“, sagte ich.

„Die in der Kantine auch nicht“, erwiderte die erste Frau. „Ich glaube, sie heißt Helen.“

„Sind hier Nazis?“ fragte ich.

„Natürlich. Hier ist alles durcheinander. Wo sind die Deutschen jetzt?“

„Ich habe keine gesehen.“

„Es soll eine Militärkommission kommen. Haben Sie etwas davon gehört?“

„Nein.“

„Sie sollen kommen, um die Nazis aus den Lagern zu befreien. Aber die Gestapo soll auch kommen. Wissen Sie davon was?“

„Nein.“

„Die Deutschen sollen sich nicht um die unokkupierte Zone kümmern.“

„Das sähe ihnen ähnlich.“

„Sie wissen nichts davon?“

„Gerüchte, sonst nichts.“

„Von wem ist die Nachricht für Helen Baumann?“ Ich zögerte. „Von ihrem Mann. Er ist frei.“

Die zweite Frau lachte. „Der wird staunen!“

„Kann man in die Kantine gehen?“ fragte ich.

„Warum nicht? Sind Sie kein Franzose?“

„Elsässer.“

„Haben Sie Angst?“ fragte die zweile Frau. „Warum? Haben Sie was zu verbergen?“

„Gibt es heute noch jemand, der nichts zu verbergen hat?“

„Das können Sie ruhig noch einmal sagen“, erwiderte die erste Frau. Die zweite sagte nichts. Sie musterte mich, als wäre ich ein Spion. Ihr Maiglöckchen-Parfüm umstand sie wie eine Wolke.

„Danke“, sagte ich. „Wo ist die Kantine?“ Die erste Frau beschrieb mir den Weg. Ich ging durch das Halbdunkel der Baracke, als hätte ich Spießruten* zu laufen. Zu beiden Seiten tauchten Gesich ter und forschende Augen auf. Ich fühlte mich, als wäre ich in einen Amazonenstaat geraten. Dann kam die Straße wieder, die Sonne und der müde Geruch der Gefangenschaft, der über jedem Lager steht wie eine graue Lasur.

Ich war wie blind. Ich hatte nie an Helens Treue oder Untreue gedacht. Es war zu sehr am Rande gewesen, zu unbedeutend; zu viel war geschehen, und nur am Leben zu bleiben war so wichtig gewesen, dass das andere dagegen kaum existiert hatte. Selbst wenn es mich gequält hätte in Le Veraet, dann wäre es abstrakt gewesen, ein Gedanke, eine Vorstellung, von mir selbst erfunden und ausgelöscht und wieder aufgenommen. Jetzt aber stand ich zwischen ihren Gefährlinnen. Ich hatte sie am Abend vorher an der Einzäunung gesehen, und nun sah ich sie wieder, hungrige Frauen, die seit vielen Monaten allein waren und die trotz der Gefangenschaft Frauen waren und es gerade deswegen stärker fühlten. Was sonst war ihnen geblieben?

Ich ging zur Baracke mit der Kantine. Eine blasse Frau mit roten Haaren stand da zwischen anderen, die Lebensmittel kauften. „Was wollen denn Sie?“ fragte sie. Ich schloss die Augen und machte eine Bewegung mit dem Kopf. Dann trat ich beiseite. Sie überblickte rasch ihre Kunden. „In fünf Minuten“, flüsterte sie. „Gut oder schlecht?“

Ich begriff, dass sie meinte, ob ich gute oder schlechte Nachrichten bringe. Ich zog die Schultern hoch. „Gut“, sagte ich dann und ging hinaus.

Nach einer Weile kam die Frau und winkte mir. „Man muss vorsichtig sein“, erklärte sie. „Für wen haben Sie Nachrichten?“

„Helen Baumann. Ist sie hier?“

„Warum?“

Ich schwieg. Ich sah die Sommersprossen über der Nase und die unruhigen Augen. „Arbeitet sie in der Kantine?“ fragte ich.

„Was wollen Sie?“ fragte die Frau zurück. „Auskunft? Ein Monteur? Für wen?“

„Für ihren Mann.“

„Das letztemal“, sagte die Frau bitter, „fragte jemand dasselbe für eine andere Frau, Sie wurde drei Tage später abgeholt. Wir hatten uns verabredet, sie solle uns Nachricht geben, wenn es gut gegangen sei. Wir haben nie Nachricht bekommen, Sie falscher Monteur!“

„Ich bin ihr Mann“, sagte ich.

„Und ich bin Greta Garbo*“, sagte die Frau. „Weshalb sonst sollte ich Sie fragen?“ „Nach Helen Baumann“, sagte die Frau, „ist oft gefragt worden. Von merkwürdigen Leuten. Wollen Sie die Wahrheit? Helen Baumann ist tot. Sie ist vor zwei Wochen gestorben und beerdigt worden. Das ist die Wahrheit. Ich dachte, Sie brächten Nachrichten von draußen.“

„Sie ist tot?“

„Tot. Und nun lassen Sie mich in Ruhe.“

„Sie ist nicht tot“, sagte ich. „In den Baracken weiß man das besser.“

„In den Baracken wird viel Unsinn geredet.“

Ich sah die rothaarige Frau an. „Wollen Sie ihr einen Brief geben? Ich gehe – aber ich möchte einen Brief hinterlassen.“

„Wozu?“

„Wozu nicht? Ein Brief bedeutet nichts. Er tötet nicht und liefert nicht aus.“

„Nein?“ sagte die Frau. „Seit wann leben Sie?“

„Das weiß ich nicht. Ich habe es auch nur stückweise getan und wurde oft unterbrochen. Können Sie mir ein Stück Papier und einen Bleistift verkaufen?“

„Da ist beides“, sagte die Frau und zeigte auf einen kleinen Tisch. „Wozu wollen Sie an eine Tote schreiben?“

„Weil das heute oft geschieht.“

Ich schrieb auf einen Zettel: „Helen, ich bin hier. Draußen. Heute abend. Am Drahtzaun. Ich warte.“

Ich klebte den Brief nicht zu. „Wollen Sie ihn ihr geben?“ fragte ich die Frau.

„Es gibt heute viele Verrückte“, antwortete sie.

„Ja oder nein?“

Sie las den Brief, den ich ihr hinhielt. „Ja oder nein?“ wiederholte ich.

„Nein“, sagte sie.

Ich legte den Brief auf den Tisch. „Zerstören Sie ihn wenigstens nicht“, sagte ich.

Sie erwiderte nichts. „Ich komme zurück und bringe Sie um, wenn Sie verhindern, dass dieser Brief in die Hände meiner Frau kommt“, sagte ich.

„Sonst noch was?“ fragte die Frau und starrte mich mit ihren flachen grünen Augen in dem verbrauchten Gesicht an.

Ich schüttelte den Kopf und ging zur Tür. „Sie ist nicht hier?“ fragte ich und drehte mich noch einmal um.

Die Frau starrte mich an und antwortete nicht.

„Ich bin noch zehn Minuten im Lager“, sagte ich. „Ich komme noch einmal wieder, um zu fragen.“

Ich ging durch die Lagergasse. Ich glaubte der Frau nicht; ich wollte einige Zeit warten und dann in die Kantine zurückgehen, um Helen zu suchen. Aber plötzlich fühlte ich, wie mich der Mantel unsichtbarer Protektion verließ – ich war auf einmal riesenhaft groß und wehrlos und musste mich verstecken.

Ich trat aufs Geratewohl in eine Tür.

„Was wollen Sie?“ fragte mich eine Frau.

„Ich soll die elektrische Leitung nachsehen. Ist hier etwas kaputt?“ sagte jemand neben mir, der ich war.

„Hier ist nichts kaputt. Aber hier war nie etwas heil.“

Ich sah, dass die Frau einen weißen Kittel trug.

„Ist dies das Hospital?“ fragte ich.

„Dies ist die Krankenbaracke. Sind Sie hierherbestellt worden?“

„Meine Firma hat mich von unten geschickt. Die Leitungen sollen nachgesehen werden.“

„Sehen Sie nach, was Sie wollen“, sagte die Frau.

Ein Mann in Uniform kam vorbei. „Was gibt’s?“

Die Frau im weißen Kittel erklärte es ihm. Ich sah den Mann an. Mir kam vor, dass ich ihn von irgendwoher kannte.

„Elektrizität?“ sagte er. „Medizin und Vitamine wären verdammt wichtiger!“

Er schleuderte seine Kappe auf den Tisch und ging hinaus.

„Hier ist alles in Ordnung“, sagte ich zu der Frau in Weiß. „Wer war das?“

„Der Arzt, wer sonst? Die andern kümmern sich doch um nichts!“

„Haben Sie viele Kranke?“

„Genug.“

„Und Tote?“

Sie sah mich an. „Wozu wollen Sie das wissen?“

„Nur so“, erwiderte sich. „Warum ist hier jeder so misstrauisch?“

„Nur so“, wiederholte die Frau. „Bloß aus Kaprize, Sie ahnungsloser Engel mit einer Heimat und einem Pass! Nein, wir hatten keine Toten seit vier Wochen. Aber vorher hatten wir genug.“

Vor vier Wochen hatte ich noch einen Brief von Helen gehabt. Sie musste also noch dasein.

„Danke“, sagte ich.

„Was ist da zu danken?“ fragte die Frau bitter. „Danken Sie lieber Gott, dass Ihre Eltern Ihnen ein Vaterland gegeben haben, das Sie lieben können, auch wenn es unglücklich ist und in seinem Unglück noch Unglücklichere einsperrt und für Raubtiere zur Verfügung hält, um sie töten zu können – dieselben Raubtiere, die Ihr Land unglücklich gemacht haben! Und nun machen Sie weiter Licht“, fügte sie hinzu. „Es wäre besser, wenn in manchen Köpfen mehr Licht gemacht würde!“

„War schon eine deutsche Kommission hier?“ fragte ich rasch.

„Weshalb wollen Sie denn das wissen?“

„Ich habe gehört, dass man darauf wartet.“

„Macht es Ihnen Spass, das zu wissen?“

„Nein. Ich muss jemand warnen.“

„Wen?“ sagte die Frau und richtete sich auf.

„Helen Baumann“, erwiderte ich.

Die Frau sah mich an. „Wovor?“ fragte sie dann.

„Kennen Sie sie?“

„Warum?“

Wieder war da die Mauer des Misstrauens, die ich erst später verstand. „Ich bin ihr Mann“, sagte ich,

„Können Sie das beweisen?“

„Nein. Ich habe andere Papiere als sie. Aber vielleicht genügt es, wenn ich Ihnen sage, dass ich kein Franzose bin.“

Ich holte den Pass des toten Schwarz hervor.

„Ein Nazipass“, sagte die Frau. „Das habe ich mir gedacht. Wozu machen Sie das?“

Ich verlor die Geduld. „Um meine Frau wiederzusehen. Sie ist hier. Sie hat es mir selbst geschrieben.“

„Haben Sie den Brief?“

„Nein. Ich habe ihn vernichtet, als ich floh. Wozu die Geheimnistuerei hier?“

„Das möchte ich auch wissen“, sagte die Frau. Aber von Ihnen.“

Der Arzt kam zurück. „Sind Sie hier nötig?“ fragte er die Frau.

„Nein.“

„Dann kommen Sie mit. Sind Sie fertig?“ fragte er mich.

„Noch nicht. Ich komme morgen noch einmal wieder.“

Ich ging zurück zur Kantine. Die rothaarige Frau stand mit zwei anderen an einem Tisch und verkaufte ihnen Unterzeug. Ich wartete und fühlte wieder, dass mein Glück auslief; ich musste fort, wenn ich noch aus dem Lager herauswollte. Die Wachen würden abgelöst werden, und einer neuen hätte ich alles noch einmal erklären müssen. Helen sah ich nicht. Die Frau vermied meinen Blick. Sie zog die Verhandlungen in die Länge. Dann kamen noch einige dazu, und ich sah einen Offizier vor dem Fenster vorbeigehen. Ich verließ die Kantine.

Die alten Wachen waren noch am Ausgang, Sie erinnerten sich und ließen mich passieren. Ich ging und hatte dasselbe Gefühl wie in Le Vernet: dass sie mir nachkommen würden, um mich zu fangen. Der Schweiß brach mir aus.

Ein alter Lastwagen kam die Straße herauf. Ich konnte nirgendwohin ausweichen und ging am Rande der Straße weiter, den Blick auf dem Boden. Der Wagen passierte mich und hielt dicht hinter mir. Ich widerstand der Versuchung zu laufen. Der Wagen konnte rasch drehen, und dann halte ich keine Chance. Ich hörte rasche Tritte hinter mir. Jemand rief: „He, Monteur!“

Ich drehte mich um. Ein älterer Mann in Uniform kam heran. „Verstehen Sie was von Motoren?“

„Nein. Ich bin Elektriker.“

„Vielleicht ist es auch die elektrische Zündung. Schauen Sie doch mal unsern Motor nach.“

„Ja, sehen Sie einmal nach“, sagte der zweite Fahrer. Ich blickte auf. Es war Helen. Sie stand hinter dem Soldaten und starrte mich an und hielt den Finger auf den Mund. Sie trug Hosen und einen Sweater und war sehr dünn.

„Sehen Sie einmal nach“, wiederholte sie und ließ mich an sich vorbeigehen. „Vorsicht!“ murmelie sie. „Tu so, als verständest du etwas! Nichts ist kaputt.“

Der Soldat schlenderte hinter uns her. „Wo kommst du her?“ flüsterte sie.

Ich öffnete die knarrende Motorhaube. „Geflohen. Wie kann ich dich treffen?“

Sie beugte sich mit mir über den Motor. „Ich kaufe für die Kantine ein. Übermorgen. Sei im Dorf! Im ersten Cafe links. Um neun Uhr morgens.“

„Und vorher?“

„Dauert’s lange?“ fragte der Soldat.

Helen holte ein Paket Zigaretten aus ihrer Hosentasche und hielt es ihm hin. „Nur ein paar Minuten. Nichts Wichtiges.“

Der Soldat zündete seine Zigarette an und setzte sich an den Straßenrand.

„Wo?“ fragte ich Helen, über den Motor gebeugt. „Im Wald? An der Umzäunung? Ich war gestern da. Heule abend?“

Sie zögerte einen Augenblick. „Gut. Heute abend. Ich kann nicht vor zehn Uhr.“

„Warum nicht?“

„Dann sind die andern weg. Also um zehn. Und sonst übermorgen früh. Sei vorsichtig.“ „Wie sind die Gendarmen hier?“

Der Soldat kam heran. „Nicht so schlimm“, sagte Helen auf französisch. „Sofort fertig.“

„Es ist ein alter Wagen“, erklärte ich.

Der Soldat lachte. „Die neuen haben die Boches*. Und die Minister. Fertig?“

„Fertig“, sagte Helen.

„Gut, dass wir Sie getroffen haben“, erklärte der Soldat. „Ich verstehe von Autos nur, dass sie Benzin brauchen.“

Er kletterte auf den Wagen. Helen folgte ihm. Sie schaltete ein. Wahrscheinlich hatte sie nur die Zündung abgestellt gehabt. Der Motor lief. „Danke“, sagte sie und lehnte sich aus dem Sitz zu mir herunter. Ihre Lippen formten unhörbare Worte. „Sie sind ein erstklassiger Fachmann“, sagte sie dann und fuhr an.

Ich stand ein paar Sekunden in dem blauen Ölrauch. Ich empfand fast nichts, so wie man raschen Wechsel von großer Hitze und Kälte als dasselbe empfindet. Dann, langsam, während ich mechanisch weiterging, begann ich zu denken, und mit dem Denken kam die Unruhe und die Erinnerung an das, was ich gehört hatte, und die leise, zitternde, bohrende Qual des Zweifels.

Ich lag im Walde und wartete. Die Klagemauer, wie Helen die Frauen nannte, die still und blind in den Abend sahen, lichtete sich. Bald waren die meisten fort, zurückgehuscht. Es wurde dunkel. Ich starrte auf die Pfeiler der Einzäunung. Sie wurden zu Schatten, und dann erschien zwischen ihnen ein neuer dunkler Schatten.

„Wo bist du?“ flüsterte Helen.

„Hier!“

Ich tastete mich zu ihr hinüber. „Kannst du heraus?“ fragte ich.

„Später. Wenn alle weg sind. Warte.“ Ich schlich zurück in das Gehölz, gerade weit genug, um nicht gesehen zu werden, wenn jemand eine Taschenlampe auf den Wald richten würde. Ich lag auf dem Boden und roch den starken Geruch des toten Laubes. Ein schwacher Wind kam auf, und um mich raschelte es, als kröchen tausend Spione auf mich zu. Meine Augen gewöhnten sich mehr und mehr an die Dunkelheit, und ich sah jetzt Helens Schatten und darüber ungewiss ihr bleiches Gesicht, dessen Züge ich nicht erkennen konnte. Sie hing wie eine schwarze Pflanze mit einer weißen Blüte im Slacheldraht, und dann wieder schien sie eine dunkle namenlose Figur aus dunklen Zeiten zu sein, und gerade dass ich ihr Gesicht nicht erkennen konnte, machte es zu allen Gesichtern aller Leidenden der Welt. Ein Stück weiter weg erkannte ich eine zweite Frau, die ebenso wie Helen stand, und dann eine dritte und eine vierte weiter weg – sie standen wie ein Fries* von Karyatiden, die einen Himmel von

Trauer und Hoffnung trugen.

Es war fast unerträglich, und ich blickte fort. Als ich wieder hinsah, waren die anderen drei lautlos verschwunden, und ich sah, dass Helen sich bückte und am Stacheldraht zerrte. „Halt ihn auseinander“, sagte sie.

Ich trat auf den unteren Draht und hob die nächsten an.

„Warte“, flüsterte Helen.

„Wo sind die anderen?“ fragte ich.

„Zurück. Eine ist eine Nazi. Ich konnte deshalb nicht früher durch. Sie hätte mich verraten. Die, die weinte.“

Helen zog ihre Bluse und ihren Rock aus und reichte sie mir durch den Draht. „Sie dürfen keine Risse bekommen“, sagte sie. „Ich habe keine anderen mehr.“

Es war wie bei armen Familien, bei denen es weniger wichtig ist, dass Kinder sich die Knie zerschlagen, als dass sie die Strümpfe zerreißen, da die Wunden heilen, aber man Strümpfe neu kaufen muss.

Ich fühlte die Kleider in meinen Händen. Helen beugte sich nieder und kroch vorsichtig durch den Draht. Sie erhielt einen Riss an der Schulter. Wie eine sehr dünne schwarze Schlange stieg das Blut aus der Haut. Sie erhob sich. „Können wir fliehen?“ fragte ich.

„Wohin?“

Ich wusste keine Antwort. Wohin? „Nach Spanien“, sagte ich. „Nach Portugal. Nach Afrika.“

„Komm“, sagte Helen. „Komm und lass uns nicht darüber sprechen. Niemand kann von hier fliehen ohne Papiere. Deshalb passen sie ja nicht einmal genau auf.“

Sie ging mir voran in den Wald. Sie war fast nackt und geheimnisvoll und sehr schön. Es war nur eine Ahnung von Helen, meiner Frau aus den letzten Monaten, übrig geblieben; gerade genug, um sie süß und schmerzlich zu erkennen unter dem Hauch der Vergangenheit, in dem die Haut sich fröstelnd und voll Erwartung zusammenzog. Dafür aber war jemand da, fast ohne Namen noch, herabgestiegen aus dem Karyatidenfries, umgeben von neun Monaten einer Fremde, die mehr war als zwanzig Jahre in einem normalen Dasein.“

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