Wie Bärlach mit Lutz wieder im Wagen saß, und Blatter durch die flüchtenden Polizisten und Stadtmusikanten hindurch in die Allee einfuhr, machte der Doktor endlich seinem ärger Luft:
„Unerhört, dieser Gastmann“, rief er aus.
„Ich verstehe nicht“, sagte der Alte.
„Schmied verkehrte im Hause Gastmanns unter dem Namen Prantl.“
„Dann wird das eine Warnung sein“, antwortete Bärlach, fragte aber nicht weiter. Sie fuhren gegen den Muristalden, wo Lutz wohnte. Eigentlich sei es nun der richtige Moment, mit dem Alten über Gastmann zu sprechen, und dass man ihn in Ruhe lassen müsse, dachte Lutz, aber wieder schwieg er. Im Burgernziel stieg er aus, Bärlach war allein.
„Soll ich Sie in die Stadt fahren, Herr Kommissär?“ fragte der Polizist vorne am Steuer.
„Nein, fahre mich heim, Blatter.“
Blatter fuhr nun schneller. Der Regen hatte nachgelassen, ja, plötzlich am Muristalden wurde Bärlach für Augenblicke in ein blendendes Licht getaucht: die Sonne brach durch die Wolken, verschwand wieder, kam aufs Neue im jagenden Spiel der Nebel und der Wolkenberge, Ungetüme, die vom Westen herbeirasten, sich gegen die Berge stauten, wilde Schatten über die Stadt werfend, die am Flusse lag, ein willenloser Leib, zwischen die Wälder und Hügel gebreitet. Bärlachs müde Hand fuhr über den nassen Mantel, seine Augenschlitze funkelten, gierig sog er das Schauspiel in sich auf: die Erde war schön. Blatter hielt. Bärlach dankte ihm und verließ den Dienstwagen. Es regnete nicht mehr, nur noch der Wind war da, der nasse, kalte Wind. Der Alte stand da, wartete, bis Blatter den schweren Wagen gewendet hatte, grüßte noch einmal, wie dieser davonfuhr. Dann trat er an die Aare. Sie kam hoch und schmutzig braun. Ein alter verrosteter Kinderwagen schwamm daher, äste, eine kleine Tanne, dann, tanzend, ein kleines Papierschiff. Bärlach schaute dem Fluss lange zu, er liebte ihn. Dann ging er durch den Garten ins Haus.
Bärlach zog sich andere Schuhe an und betrat dann erst die Halle, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann und blätterte in Schmieds Mappe. Seine rechte Hand spielte mit Bärlachs türkischem Messer.
„Also du“, sagte der Alte.
„Ja, ich“, antwortete der andere.
Bärlach schloss die Türe und setzte sich in seinen Lehnstuhl dem Schreibtisch gegenüber. Schweigend sah er nach dem andern hin, der ruhig in Schmieds Mappe weiterblätterte, eine fast bäurische Gestalt, ruhig und verschlossen, tiefliegende Augen im knochigen, aber runden Gesicht mit kurzem Haar.
„Du nennst dich jetzt Gastmann“, sagte der Alte endlich.
Der andere zog eine Pfeife hervor, stopfte sie, ohne Bärlach aus den Augen zu lassen, setzte sie in Brand und antwortete, mit dem Zeigfinger auf Schmieds Mappe klopfend:
„Das weißt du schon seit einiger Zeit ganz genau. Du hast mir den Jungen auf den Hals geschickt, diese Angaben stammen von dir.“
Dann schloss er die Mappe wieder. Bärlach schaute auf den Schreibtisch, wo noch sein Revolver lag, mit dem Schaft gegen ihn gekehrt, er brauchte nur die Hand auszustrecken; dann sagte er:
„Ich höre nie auf, dich zu verfolgen. Einmal wird es mir gelingen, deine Verbrechen zu beweisen.“
„Du mußt dich beeilen, Bärlach“, antwortete der andere. „Du hast nicht mehr viel Zeit. Die ärzte geben dir noch ein Jahr, wenn du dich jetzt operieren läßt.“
„Du hast recht“, sagte der Alte. „Noch ein Jahr. Und ich kann mich jetzt nicht operieren lassen, ich muss mich stellen. Meine letzte Gelegenheit.“
„Die letzte“, bestätigte der andere, und dann schwiegen sie wieder, endlos, saßen da und schwiegen.
„Über vierzig Jahre sind es her“, begann der andere von Neuem zu reden, „dass wir uns in irgendeiner verfallenen Judenschenke am Bosporus zum erstenmal getroffen haben. Ein unförmiges gelbes Stück Schweizerkäse von einem Mond hing bei dieser Begegnung damals zwischen den Wolken und schien durch die verfaulten Balken auf unsere Köpfe, das ist mir in noch guter Erinnerung. Du, Bärlach, warst damals ein junger Polizeifachmann aus der Schweiz in türkischen Diensten, herbestellt, um etwas zu reformieren, und ich – nun ich war ein herumgetriebener Abenteurer wie jetzt noch, gierig, dieses mein einmaliges Leben und diesen ebenso einmaligen, rätselhaften Planeten kennenzulernen. Wir liebten uns auf den ersten Blick, wie wir einander zwischen Juden im Kaftan und schmutzigen Griechen gegenübersaßen. Doch wie nun die verteufelten Schnäpse, die wir damals tranken, diese vergorenen Säfte aus weiß was für Datteln und diese feurigen Meere aus fremden Kornfeldern um Odessa herum, die wir in unsere Kehlen stürzten, in uns mächtig wurden, dass unsere Augen wie glühende Kohlen durch die türkische Nacht funkelten, wurde unser Gespräch hitzig. O ich liebe es, an diese Stunde zu denken, die dein Leben und das meine bestimmte!“
Er lachte.
Der Alte saß da und schaute schweigend zu ihm hinüber. „Ein Jahr hast du noch zu leben“, fuhr der andere fort, „und vierzig Jahre hast du mir wacker nachgespürt. Das ist die Rechnung. Was diskutierten wir denn damals, Bärlach, im Moder jener Schenke in der Vorstadt Tophane, eingehüllt in den Qualm türkischer Zigaretten? Deine These war, dass die menschliche Unvollkommenheit, die Tatsache, dass wir die Handlungsweise anderer nie mit Sicherheit vorauszusagen, und dass wir ferner den Zufall, der in alles hineinspielt, nicht in unsere überlegung einzubauen vermögen, der Grund sei, der die meisten Verbrechen zwangsläufig zutage fördern müsse. Ein Verbrechen zu begehen nanntest du eine Dummheit, weil es unmöglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren. Ich dagegen stellte die These auf, mehr um zu widersprechen als überzeugt, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen es möglich mache, Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden könnten, dass aus diesem Grunde die überaus größte Anzahl der Verbrechen nicht nur ungeahndet, sondern auch ungeahnt seien, als nur im Verborgenen geschehen. Und wie wir nun weiterstritten, von den höllischen Bränden der Schnäpse, die uns der Judenwirt einschenkte, und mehr noch, von unserer Jugend verführt, da haben wir im übermut eine Wette geschlossen, eben da der Mond hinter dem nahen Kleinasien versank, eine Wette, die wir trotzig in den Himmel hinein hängten, wie wir etwa einen fürchterlichen Witz nicht zu unterdrücken vermögen, auch wenn er eine Gotteslästerung ist, nur weil uns die Pointe reizt als eine teuflische Versuchung des Geistes durch den Geist.“
„Du hast recht“, sagte der Alte ruhig, „wir haben diese Wette damals miteinander geschlossen.“
„Du dachtest nicht, dass ich sie einhalten würde“, lachte der Andere, „wie wir am andern Morgen mit schwerem Kopf in der öden Schenke erwachten, du auf einer morschen Bank und ich unter einem noch von Schnaps feuchten Tisch.“
„Ich dachte nicht“, antwortete Bärlach, „dass diese Wette einzuhalten einem Menschen möglich wäre.“
Sie schwiegen.
„Führe uns nicht in Versuchung“, begann der Andere von Neuem. „Deine Biederkeit kam nie in Gefahr, versucht zu werden, doch deine Biederkeit versuchte mich. Ich hielt die kühne Wette, in deiner Gegenwart ein Verbrechen zu begehen, ohne dass du imstande sein würdest, mir dieses Verbrechen beweisen zu können.“
„Nach drei Tagen“, sagte der Alte leise und versunken in seiner Erinnerung, „wie wir mit einem deutschen Kaufmann über die Mahmud-Brücke gingen, hast du ihn vor meinen Augen ins Wasser gestoßen.“
„Der arme Kerl konnte nicht schwimmen und auch du warst in dieser Kunst so ungenügend bewandert, dass man dich nach deinem verunglückten Rettungsversuch halb ertrunken aus den schmutzigen Wellen des Goldenen Hornes ans Land zog“, antwortete der Andere unerschütterlich. „Der Mord trug sich an einem strahlenden türkischen Sommertag bei einer angenehmen Brise vom Meere her auf einer belebten Brücke in aller öffentlichkeit zwischen Liebespaaren der europäischen Kolonie, Muselmännern und ortsansässigen Bettlern zu, und trotzdem konntest du mir nichts beweisen. Du ließest mich verhaften, umsonst. Stundenlange Verhöre, nutzlos. Das Gericht glaubte meiner Version, die auf Selbstmord des Kaufmanns lautete.“
„Du konntest nachweisen, dass der Kaufmann vor dem Konkurs stand und sich durch einen Betrug vergeblich hatte retten wollen“, gab der Alte bitter zu, bleicher als sonst.
„Ich wählte mir mein Opfer sorgfältig aus, mein Freund“, lachte der Andere.
„So bist du ein Verbrecher geworden“, antwortete der Kommissär.
Der Andere spielte gedankenverloren mit dem türkischen Messer. „Dass ich so etwas ähnliches wie ein Verbrecher bin, kann ich nun nicht gerade ableugnen“, sagte er endlich nachlässig. „Ich wurde ein immer besserer Verbrecher und du ein immer besserer Kriminalist: Den Schritt jedoch, den ich dir voraus hatte, konntest du nie einholen. Immer wieder tauchte ich in deiner Laufbahn auf wie ein graues Gespenst, immer wieder trieb mich die Lust, unter deiner Nase sozusagen immer kühnere, wildere, blasphemischere Verbrechen zu begehen, und immer wieder bist du nicht imstande gewesen, meine Taten zu beweisen. Die Dummköpfe konntest du besiegen, aber ich besiegte dich.“
Dann fuhr er fort, den Alten aufmerksam und wie belustigt beobachtend: „So lebten wir denn. Du ein Leben unter deinen Vorgesetzten, in deinen Polizeirevieren und muffigen Amtsstuben, immer brav eine Sprosse um die andere auf der Leiter deiner bescheidenen Erfolge erklimmend, dich mit Dieben und Fälschern herumschlagend, mit armen Schluckern, die nie recht ins Leben kamen, und mit armseligen Mörderchen, wenn es hochkam, ich dagegen bald im Dunkeln, im Dickicht verlorener Großstädte, bald im Lichte glänzender Positionen, ordenübersät, aus übermut das Gute übend, wenn ich Lust dazu hatte, und wieder aus einer anderen Laune heraus das Schlechte liebend. Welch ein abenteuerlicher Spaß! Deine Sehnsucht war, mein Leben zu zerstören, und meine war es, mein Leben dir zum Trotz zu behaupten. Wahrlich, eine Nacht kettete uns für ewig zusammen!“
Der Mann hinter Bärlachs Schreibtisch klatschte in die Hände, es war ein einziger, grausamer Schlag: „Nun sind wir am Ende unserer Laufbahn“, rief er aus. „Du bist in dein Bern zurückgekehrt, halb gescheitert, in diese verschlafene, biedere Stadt, von der man nie recht weiß, wie viel Totes und wie viel Lebendiges eigentlich noch an ihr ist, und ich bin nach Lamboing zurückgekommen, auch dies nur aus einer Laune heraus: Man rundet gern ab, denn in diesem gottverlassenen Dorf hat mich irgendein längst verscharrtes Weib einmal geboren, ohne viel zu denken und reichlich sinnlos, und so habe ich mich denn auch, dreizehnjährig, in einer Regennacht fortgestohlen. Da sind wir nun also wieder. Gib es auf, Freund, es hat keinen Sinn. Der Tod wartet nicht.“
Und jetzt warf er, mit einer fast unmerklichen Bewegung der Hand, das Messer, genau und scharf Bärlachs Wange streifend, tief in den Lehnstuhl. Der Alte rührte sich nicht. Der andere lachte:
„Du glaubst nun also, ich hätte diesen Schmied getötet?“
„Ich habe diesen Fall zu untersuchen“, antwortete der Kommissär.
Der Andere stand auf und nahm die Mappe zu sich.
„Die nehme ich mit.“
„Einmal wird es mir gelingen, deine Verbrechen zu beweisen“, sagte nun Bärlach zum zweiten Male: „Und jetzt ist die letzte Gelegenheit.“
„In der Mappe sind die einzigen, wenn auch dürftigen Beweise, die Schmied in Lamboing für dich gesammelt hat. Ohne diese Mappe bist du verloren. Abschriften oder Fotokopien besitzest du nicht, ich kenne dich.“
„Nein“, gab der Alte zu, „ich habe nichts dergleichen.“
„Willst du nicht den Revolver brauchen, mich zu hindern?“ fragte der Andere spöttisch.
„Du hast die Munition herausgenommen“, antwortete Bärlach unbeweglich.
„Eben“, sagte der Andere und klopfte ihm auf die Schultern. Dann ging er am Alten vorbei, die Türe öffnete sich, schloss sich wieder, draußen ging eine zweite Türe. Bärlach saß immer noch in seinem Lehnstuhl, die Wange an das kalte Eisen des Messers gelehnt. Doch plötzlich ergriff er die Waffe und schaute nach. Sie war geladen. Er sprang auf, lief in den Vorraum und dann zur Haustür, die er aufriss, die Waffe in der Faust:
Die Straße war leer.
Dann kam der Schmerz, der ungeheure, wütende, stechende Schmerz, eine Sonne, die in ihm aufging, ihn aufs Lager warf, zusammenkrümmte, mit Fiebergluten überbrühte, schüttelte. Der Alte kroch auf Händen und Füßen herum wie ein Tier, warf sich zu Boden, wälzte sich über den Teppich und blieb dann liegen, irgendwo in seinem Zimmer, zwischen den Stühlen, mit kaltem Schweiß bedeckt. „Was ist der Mensch?“ stöhnte er leise, „was ist der Mensch?“