Es war zehn Uhr, als Tschanz Clenin und Charnel verließ, um zum Restaurant bei der Schlucht zu fahren, wo Bärlach wartete. Er hielt jedoch, wo der Feldweg zu Gastmanns Haus abzweigte, den Wagen noch einmal an. Er stieg aus und ging langsam zu der Gartentüre und dann der Mauer entlang. Das Haus war noch wie zuvor, dunkel und einsam, von den riesigen Pappeln umstellt, die sich im Winde bogen. Die Limousinen standen immer noch im Park. Tschanz ging jedoch nicht rund um das Haus herum, sondern nur bis zu einer Ecke, von wo er die erleuchtete Hinterfront überblicken konnte. Hin und wieder zeichneten sich Menschen an den gelben Scheiben ab, und Tschanz presste sich eng an die Mauer, um nicht gesehen zu werden. Er blickte auf das Feld. Doch lag der Hund nicht mehr auf der kahlen Erde, jemand musste ihn fortgeschafft haben, nur die Blutlache gleißte noch schwarz im Licht der Fenster. Tschanz kehrte zum Wagen zurück.
Im Restaurant zur Schlucht war Bärlach jedoch nicht mehr zu finden. Er habe die Gaststube schon vor einer halben Stunde verlassen, um nach Twann zu gehen, nachdem er einen Schnaps getrunken, meldete die Wirtin; kaum fünf Minuten habe er sich im Wirtshaus aufgehalten.
Tschanz überlegte sich, was der Alte denn getrieben habe, aber er konnte seine überlegungen nicht länger fortsetzen; die nicht allzu breite Straße verlangte seine ganze Aufmerksamkeit. Er fuhr an der Brücke vorbei, bei der sie gewartet hatten, und dann den Wald hinunter.
Da hatte er ein sonderbares und unheimliches Erlebnis, das ihn nachdenklich stimmte. Er war schnell gefahren und sah plötzlich in der Tiefe den See aufleuchten, einen nächtlichen Spiegel zwischen weißen Felsen. Er musste den Tatort erreicht haben. Da löste sich eine dunkle Gestalt von der Felswand und gab deutlich ein Zeichen, der Wagen solle anhalten.
Tschanz stoppte unwillkürlich und öffnete die rechte Wagentüre, obgleich er dies im nächsten Augenblick bereute, denn es durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass, was ihm jetzt begegnete, auch Schmied begegnet war, bevor er wenige Atemzüge darauf erschossen wurde. Er fuhr in die Manteltasche und umklammerte den Revolver, dessen Kälte ihn beruhigte. Die Gestalt kam näher. Da erkannte er, dass es Bärlach war, doch wich seine Spannung nicht, sondern er wurde weiß vor heimlichem Entsetzen, ohne sich über den Grund der Furcht Rechenschaft geben zu können. Bärlach beugte sich nieder, und sie sahen sich ins Antlitz, stundenlang scheinbar, doch handelte es sich nur um einige Sekunden. Keiner sprach ein Wort, und ihre Augen waren wie Steine. Dann setzte sich Bärlach zu ihm, der nun die Hand von der verborgenen Waffe ließ.
„Fahr weiter, Tschanz“, sagte Bärlach, und seine Stimme klang gleichgültig.
Der andere zuckte zusammen, wie er hörte, dass ihn der Alte duzte, doch von nun an blieb der Kommissär dabei.
Erst nach Biel unterbrach Bärlach das Schweigen und fragte, was Tschanz in Lamboing erfahren habe, „wie wir das Nest nun wohl doch endgültig auf französisch nennen müssen“.
Auf die Nachricht, dass sowohl Charnel wie auch Clenin einen Besuch des ermordeten Schmied bei Gastmann für unmöglich hielten, sagte er nichts; und hinsichtlich des von Clenin erwähnten Schriftstellers in Schernelz meinte er, er werde diesen noch selber sprechen.
Tschanz gab lebhafter Auskunft als sonst, aufatmend, dass man wieder redete, und weil er seine sonderbare Erregung übertönen wollte, doch schon vor Schupfen schwiegen sie wieder beide.
Kurz nach elf hielt man vor Bärlachs Haus im Altenberg, und der Kommissär stieg aus.
„Ich danke dir noch einmal, Tschanz“, sagte er und schüttelte ihm die Hand. „Wenn’s auch genierlich ist, davon zu reden; aber du hast mir das Leben gerettet.“
Er blieb noch stehen und sah dem verschwindenden Schlußlicht des schnell davonfahrenden Wagens nach. „Jetzt kann er fahren, wie er will.“
Er betrat sein unverschlossenes Haus, und in der Halle mit den Büchern fuhr er mit der Hand in die Manteltasche und entnahm ihr eine Waffe, die er behutsam auf den Schreibtisch neben die Schlange legte. Es war ein großer, schwerer Revolver.
Dann zog er langsam den Wintermantel aus. Als er ihn jedoch abgelegt hatte, war sein linker Arm mit dicken Tüchern umwickelt, wie es bei jenen Brauch ist, die ihre Hunde zum Anpacken einüben.
Am andern Morgen erwartete der alte Kommissär aus einer gewissen Erfahrung heraus einige Unannehmlichkeiten, wie er die Reibereien mit Lutz nannte. „Man kennt ja die Samstage“, meinte er zu sich, als er über die Altenbergbrücke schritt, „da zeigen die Beamten die Zähne bloß aus schlechtem Gewissen, weil sie die Woche über nichts Gescheites gemacht haben.“ Er war feierlich schwarz gekleidet, denn die Beerdigung Schmieds war auf zehn Uhr angesetzt. Er konnte ihr nicht ausweichen, und das war es eigentlich, was ihn ärgerte.
Von Schwendi sprach kurz nach acht vor, aber nicht bei Bärlach, sondern bei Lutz, dem Tschanz eben das in der letzten Nacht Vorgefallene mitgeteilt hatte.
Von Schwendi war in der gleichen Partei wie Lutz, in der Partei der konservativen liberalsozialistischen Sammlung der Unabhängigen, hatte diesen eifrig gefördert und war seit dem gemeinsamen Essen anschließend an eine engere Vorstandssitzung mit ihm auf Du, obgleich Lutz nicht in den Großrat gewählt worden war; denn in Bern, erklärte von Schwendi, sei ein Volksvertreter mit dem Vornamen Lucius ein Ding der absoluten Unmöglichkeit.
„Es ist ja wirklich allerhand“, fing er an, kaum dass seine dicke Gestalt in der Türöffnung erschienen war, „wie es da deine Leute von der Berner Polizei treiben, verehrter Lutz. Schießen meinem Klienten Gastmann den Hund zusammen, eine seltene Rasse aus Südamerika, und stören die Kultur, Anatol Kraushaar-Raffaeli, weltbekannter Pianist. Der Schweizer hat keine Erziehung, keine Weltoffenheit, keine Spur von einem europäischen Denken. Drei Jahre Rekrutenschule das einzige Mittel dagegen.“
Lutz, dem das Erscheinen seines Parteifreundes peinlich war und der sich vor seinen endlosen Tiraden fürchtete, bat von Schwendi, Platz zu nehmen.
„Wir sind in eine höchst schwierige Untersuchung verstrickt“, bemerkte er eingeschüchtert. „Du weißt es ja selbst, und der junge Polizist, der sie zur Hauptsache führt, darf für schweizerische Maßstäbe als ganz gut talentiert gelten. Der alte Kommissär, der auch noch dabei war, gehört zum rostigen Eisen, das gebe ich zu. Ich bedaure den Tod eines so seltenen südamerikanischen Hundes, bin ja selber Hundebesitzer und tierliebend, werde auch eine besondere, strenge Untersuchung durchführen. Die Leute sind eben kriminalistisch völlig ahnungslos. Wenn ich da an Chicago denke, sehe ich unsere Lage direkt trostlos.“
Er machte eine kurze Pause, konsterniert, dass ihn von Schwendi unverwandt schweigend anglotzte, und fuhr dann fort, aber nun schon ganz unsicher, er sollte wissen, ob der ermordete Schmied bei von Schwendis Klienten Gastmann Mittwoch zu Besuch gewesen sei, wie die Polizei aus gewissen Gründen annehmen müsse.
„Lieber Lutz“, antwortete der Oberst, „machen wir uns keine Flausen vor. Das wisst ihr von der Polizei alles ganz genau; ich kenne doch meine Brüder.“
„Wie meinen Sie das, Herr Nationalrat?“ fragte Lutz verwirrt, unwillkürlich wieder in das Sie zurückfallend; denn beim Du war es ihm nie recht wohl gewesen.
Von Schwendi lehnte sich zurück, faltete die Hände auf der Brust und fletschte die Zähne, eine Pose, der er im Grunde sowohl den Oberst als auch den Nationalrat verdankte.
„Dökterli“, sagte er, „ich möchte nun wirklich einmal ganz genau wissen, warum ihr meinem braven Gastmann den Schmied auf den Hals gehetzt habt. Was sich nämlich dort im Jura abspielt, das geht die Polizei nun doch wohl einen Dreck an, wir haben noch lange nicht die Gestapo.“
Lutz war wie aus den Wolken gefallen. „Wieso sollen wir deinem uns vollständig unbekannten Klienten den Schmied auf den Hals gehetzt haben?“ fragte er hilflos. „Und wieso soll uns ein Mord nichts angehen?“
„Wenn ihr keine Ahnung davon habt, dass Schmied unter dem Namen Doktor Prantl, Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte in München, den Gesellschaften beiwohnte, die Gastmann in seinem Hause in Lamboing gab, muss die ganze Polizei unbedingt aus kriminalistischer Ahnungslosigkeit abdanken“, behauptete von Schwendi und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand aufgeregt auf Lutzens Pult.
„Davon ist uns nichts bekannt, lieber Oskar“, sagte Lutz, erleichtert, dass er in diesem Augenblick den lang gesuchten Vornamen des Nationalrates gefunden hatte. „Ich erfahre eben eine große Neuigkeit.“
„Aha“, meinte von Schwendi trocken und schwieg, worauf Lutz sich seiner Unterlegenheit immer mehr bewusst wurde und ahnte, dass er nun Schritt für Schritt in allem werde nachgeben müssen, was der Oberst von ihm zu erreichen suchte. Er blickte hilflos nach den Bildern Traffelets, auf die marschierenden Soldaten, die flatternden Schweizer Fahnen, den zu Pferd sitzenden General. Der Nationalrat bemerkte die Verlegenheit des Untersuchungsrichters mit einem gewissen Triumph und fügte schließlich seinem Aha bei, es gleichzeitig verdeutlichend:
„Die Polizei erfährt also eine große Neuigkeit; die Polizei weiß also wieder gar nichts.“
Wie unangenehm es auch war und wie sehr das rücksichtslose Vorgehen von Schwendis seine Lage unerträglich machte, so musste doch der Untersuchungsrichter zugeben, dass Schmied weder dienstlich bei Gastmann gewesen sei, noch habe die Polizei von dessen Besuchen in Lamboing eine Ahnung gehabt. Schmied habe dies rein persönlich unternommen, schloss Lutz seine peinliche Erklärung. Warum er allerdings einen falschen Namen angenommen habe, sei ihm gegenwärtig ein Rätsel.
Von Schwendi beugte sich vor und sah Lutz mit seinen rotunterlaufenen, verschwommenen Augen an. „Das erklärt alles“, sagte er, „Schmied spionierte für eine fremde Macht.“
„Wie meinst du das?“ fragte Lutz hilfloser denn je.
„Ich meine“, sagte der Nationalrat, „dass die Polizei vor allem jetzt einmal untersuchen muss, aus was für Gründen Schmied bei Gastmann war.“
„Die Polizei sollte vor allen Dingen zuerst etwas über Gastmann wissen, lieber Oskar“, widersprach Lutz.
„Gastmann ist für die Polizei ganz ungefährlich“, antwortete von Schwendi, „und ich möchte auch nicht, dass du dich mit ihm abgibst oder sonst jemand von der Polizei. Es ist dies sein Wunsch, er ist mein Klient, und ich bin da, um zu sorgen, dass seine Wünsche erfüllt werden.“
Diese unverfrorene Antwort schmetterte Lutz so nieder, dass er zuerst gar nichts zu erwidern vermochte. Er zündete sich eine Zigarette an, ohne in seiner Verwirrung von Schwendi eine anzubieten. Erst dann setzte er sich in seinem Stuhl zurecht und entgegnete:
„Die Tatsache, dass Schmied bei Gastmann war, zwingt leider die Polizei, sich mit deinem Klienten zu befassen, lieber Oskar.“
Von Schwendi ließ sich nicht beirren. „Sie zwingt die Polizei vor allem, sich mit mir zu befassen, denn ich bin Gastmanns Anwalt“, sagte er. „Du kannst froh sein, Lutz, dass du an mich geraten bist; ich will ja nicht nur Gastmann helfen, sondern auch dir. Natürlich ist der ganze Fall meinem Klienten unangenehm, aber dir ist er viel peinlicher, denn die Polizei hat bis jetzt noch nichts herausgebracht. Ich zweifle überhaupt daran, dass ihr jemals Licht in diese Angelegenheit bringen werdet.“
„Die Polizei“, antwortete Lutz, „hat beinahe jeden Mord aufgedeckt, das ist statistisch bewiesen. Ich gebe zu, dass wir im Falle Schmied in gewisse Schwierigkeiten geraten sind, aber wir haben doch auch schon – er stockte ein wenig – beachtliche Resultate zu verzeichnen. So sind wir von selbst auf Gastmann gekommen, und wir sind denn auch der Grund, warum dich Gastmann zu uns geschickt hat. Die Schwierigkeiten liegen bei Gastmann und nicht bei uns, an ihm ist es, sich über den Fall Schmied zu äußern, nicht an uns. Schmied war bei ihm, wenn auch unter falschem Namen; aber gerade diese Tatsache verpflichtet die Polizei, sich mit Gastmann abzugeben, denn das ungewohnte Verhalten des Ermordeten belastet doch wohl zunächst Gastmann. Wir müssen Gastmann einvernehmen und können nur unter der Bedingung davon absehen, dass du uns völlig einwandfrei erklären kannst, warum Schmied bei deinem Klienten unter falschem Namen zu Besuch war, und dies mehrere Male, wie wir festgestellt haben.“
„Gut“, sagte von Schwendi, „reden wir ehrlich miteinander. Du wirst sehen, daß nicht ich eine Erklärung über Gastmann abzugeben habe, sondern dass ihr uns erklären müsst, was Schmied in Lamboing zu suchen hatte. Ihr seid hier die Angeklagten, nicht wir, lieber Lutz.“
Mit diesen Worten zog er einen weißen Bogen hervor, ein großes Papier, das er auseinanderbreitete und auf das Pult des Untersuchungsrichters legte.
„Das sind die Namen der Personen, die bei meinem guten Gastmann verkehrt haben“, sagte er. „Die Liste ist vollständig. Ich habe drei Abteilungen gemacht. Die erste scheiden wir aus, die ist nicht interessant, das sind die Künstler. Natürlich kein Wort gegen Kraushaar-Raffaeli, der ist Ausländer; nein, ich meine die inländischen, die von Utzenstorf und Merligen. Entweder schreiben sie Dramen über die Schlacht am Morgarten und Niklaus Manuel, oder sie malen nichts als Berge. Die zweite Abteilung sind die Industriellen. Du wirst die Namen sehen, es sind Männer von Klang, Männer, die ich als die besten Exemplare der schweizerischen Gesellschaft ansehe. Ich sage dies ganz offen, obwohl ich durch die Großmutter mütterlicherseits von bäuerlichem Blut abstamme.“
„Und die dritte Abteilung der Besucher Gastmanns?“ fragte Lutz, da der Nationalrat plötzlich schwieg und den Untersuchungsrichter mit seiner Ruhe nervös machte, was natürlich von Schwendis Absicht war.
„Die dritte Abteilung“, fuhr von Schwendi endlich fort, „macht die Angelegenheit Schmied unangenehm, für dich und auch für die Industriellen, wie ich zugebe; denn ich muss nun auf Dinge zu sprechen kommen, die eigentlich vor der Polizei streng geheim gehalten werden müssten. Aber da ihr von der Berner Polizei es nicht unterlassen konntet, Gastmann aufzuspüren, und da es sich nun peinlicherweise herausstellt, dass Schmied in Lamboing war, sehen sich die Industriellen gezwungen, mich zu beauftragen, die Polizei, soweit dies für den Fall Schmied notwendig ist, zu informieren. Das Unangenehme für uns besteht nämlich darin, dass wir politische Vorgänge von eminenter Wichtigkeit aufdecken müssen, und das Unangenehme für euch, dass ihr die Macht, die ihr über die Menschen schweizerischer und nichtschweizerischer Nationalität in diesem Land besitzt, über die dritte Abteilung nicht habt.“
„Ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagst“, meinte Lutz.
„Du hast eben auch nie etwas von Politik verstanden, lieber Lucius“, entgegnete von Schwendi. „Es handelt sich bei der dritten Abteilung um Angehörige einer fremden Gesandtschaft, die Wert darauf legt, unter keinen Umständen mit einer gewissen Klasse von Industriellen zusammen genannt zu werden.“