Er begreife nicht, wunderte sich Bärlach, warum die Polizei von Lamboing, Diesse und Lignieres nicht auf diesen Gastmann gekommen sei, sein Haus läge doch im offenen Feld, von Lamboing aus leicht zu überblicken, und eine Gesellschaft sei hier in keiner Weise zu verheimlichen, ja geradezu auffallend, besonders in einem so kleinen Jura-Nest. Tschanz antwortete, dass er dafür auch noch keine Erklärung wisse.
Darauf beschlossen sie, um das Haus herum zu gehen. Sie trennten sich; jeder nahm eine andere Seite.
Tschanz verschwand in der Nacht und Bärlach war allein. Er ging nach rechts. Er schlug den Mantelkragen hoch, denn er fror. Er fühlte wieder den schweren Druck auf dem Magen, die heftigen Stiche, und auf seiner Stirne lag kalter Schweiß. Er ging der Mauer entlang und bog dann wie sie nach rechts. Das Haus lag noch immer in völliger Finsternis da.
Er blieb von neuem stehen und lehnte sich gegen die Mauer. Er sah am Waldrand die Lichter von Lamboing, worauf er weiterschritt. Aufs neue änderte die Mauer ihre Richtung, nun nach Westen. Die Hinterwand des Hauses war erleuchtet, aus einer Fensterreihe des ersten Stocks brach helles Licht. Er vernahm die Töne eines Flügels, und wie er näher hinhorchte, stellte er fest, dass jemand Bach spielte.
Er schritt weiter. Er musste nun nach seiner Berechnung auf Tschanz stoßen, und er sah angestrengt auf das mit Licht überflutete Feld, bemerkte jedoch zu spät, dass wenige Schritte vor ihm ein Tier stand.
Bärlach war ein guter Tierkenner; aber ein so riesenhaftes Wesen hatte er noch nie gesehen. Obgleich er keine Einzelheiten unterschied, sondern nur die Silhouette erkannte, die sich von der helleren Fläche des Bodens abhob, schien die Bestie von einer so grauenerregenden Art, dass Bärlach sich nicht rührte. Er sah, wie das Tier langsam, scheinbar zufällig, den Kopf wandte und ihn anstarrte. Die runden Augen blickten wie zwei helle, aber leere Flächen.
Das Unvermutete der Begegnung, die Mächtigkeit des Tieres und das Seltsame der Erscheinung lahmten ihn. Zwar verließ ihn die Kühle seiner Vernunft nicht, aber er hatte die Notwendigkeit des Handelns vergessen. Er sah nach dem Tier, unerschrocken, aber gebannt. So hatte ihn das Böse immer wieder in seinen Bann gezogen, das große Rätsel, das zu lösen ihn immer wieder aufs neue verlockte.
Und wie nun der Hund plötzlich ansprang, ein riesenhafter Schatten, der sich auf ihn stürzte, ein entfesseltes Ungeheuer an Kraft und Mordlust, so dass er von der Wucht der sinnlos rasenden Bestie niedergerissen wurde, kaum dass er den linken Arm schützend vor seine Kehle halten konnte, gab der Alte keinen Laut von sich und keinen Schrei des Schreckens, so sehr schien ihm alles natürlich und in die Gesetze dieser Welt eingeordnet.
Doch schon hörte er, noch bevor das Tier den Arm, der ihm im Rachen lag, zermalmte, das Peitschen eines Schusses; der Leib über ihm zuckte zusammen, und warmes Blut ergoß sich über seine Hand. Der Hund war tot.
Schwer lag nun die Bestie auf ihm, und Bärlach fuhr mit der Hand über sie, über ein glattes, schweißiges Fell. Er erhob sich mühsam und zitternd, wischte die Hand am spärlichen Gras ab. Tschanz kam und verbarg im Näherschreiten den Revolver wieder in der Manteltasche.
„Sind Sie unverletzt, Kommissär?“ fragte er und sah misstrauisch nach dessen zerfetztem linken ärmel.
„Völlig. Das Biest konnte nicht durchbeißen.“
Tschanz beugte sich nieder und drehte den Kopf des Tieres dem Lichte zu, das sich in den toten Augen brach.
„Zähne wie ein Raubtier“, sagte er und schüttelte sich, „das Biest hätte Sie zerrissen, Kommissär.“
„Sie haben mir das Leben gerettet, Tschanz.“
Der wollte noch wissen: „Tragen Sie denn nie eine Waffe bei sich?“
Bärlach berührte mit dem Fuß die unbewegliche Masse vor ihm. „Selten, Tschanz“, antwortete er, und sie schwiegen.
Der tote Hund lag auf der kahlen, schmutzigen Erde, und sie schauten auf ihn nieder. Es hatte sich zu ihren Füßen eine große schwarze Fläche ausgebreitet: Blut, das dem Tier wie ein dunkler Lavastrom aus dem Rachen quoll.
Wie sie nun wieder aufschauten, bot sich ihnen ein verändertes Bild. Die Musik war verstummt, die erleuchteten Fenster hatte man aufgerissen, und Menschen in Abendkleidern lehnten sich hinaus. Bärlach und Tschanz schauten einander an, denn es war ihnen peinlich, gleichsam vor einem Tribunal zu stehen, und dies mitten im gottverlassenen Jura, in einer Gegend, wo Hase und Fuchs einander gute Nacht wünschten, wie der Kommissär in seinem ärger dachte.
Im mittleren der fünf Fenster stand ein einzelner Mann, abgesondert von den übrigen, der mit einer seltsamen und klaren Stimme rief, was sie da trieben.
„Polizei“, antwortete Bärlach ruhig und fügte hinzu, dass sie unbedingt Herrn Gastmann sprechen müssten.
Der Mann entgegnete, er sei erstaunt, dass man einen Hund töten müsse, um mit Herrn Gastmann zu sprechen; und im übrigen habe er jetzt Lust und Gelegenheit, Bach zu hören, worauf er das Fenster wieder schloß, doch mit sicheren Bewegungen und ohne Hast, wie er auch ohne Empörung, sondern vielmehr mit großer Gleichgültigkeit gesprochen hatte.
Von den Fenstern her war ein Stimmengewirr zu hören. Sie vernahmen Rufe, wie „Unerhört“, „Was sagen Sie, Herr Direktor?“, „Skandalös“, „Unglaublich, diese Polizei, Herr Großrat“. Dann traten die Menschen zurück, ein Fenster um das andere wurde geschlossen, und es war still.
Es blieb den beiden Polizisten nichts anderes übrig, als zurückzugehen. Vor dem Eingang an der Vorderseite der Gartenmauer wurden sie erwartet. Es war eine einzelne Gestalt, die dort aufgeregt hin und her lief.
„Schnell Licht machen“, flüsterte Bärlach Tschanz zu, und im aufblitzenden Strahl der Taschenlampe zeigte sich ein dickes, aufgeschwemmtes, zwar nicht unmarkantes, aber etwas einseitiges Gesicht über einem eleganten Abendanzug. An einer Hand funkelte ein schwerer Ring. Auf ein leises Wort von Bärlach hin erlosch das Licht wieder.
„Wer sind Sie zum Teufel, Mano?“ grollte der Dicke.
„Kommissär Bärlach – Sind Sie Herr Gastmann?“
„Nationalrat von Schwendi, Mano, Oberst von Schwendi. Herrgottsdonnernocheinmal, was fällt Ihnen ein, hier herumzuschießen?“
„Wir führen eine Untersuchung durch und müssen Herrn Gastmann sprechen, Herr Nationalrat“, antwortete Bärlach gelassen.
Der Nationalrat war aber nicht zu beruhigen. Er donnerte: „Wohl Separatist, he?“
Bärlach beschloss, ihn bei dem anderen Titel zu nehmen und meinte vorsichtig, dass sich der Herr Oberst irre, er habe nichts mit der Jurafrage zu tun.
Bevor jedoch Bärlach weiterfahren konnte, wurde der Oberst noch wilder als der Nationalrat. Also Kommunist, stellte er fest, Sternenhagel, er lasse sich’s als Oberst nicht bieten, daß man herumschieße, wenn Musik gemacht werde. Er verbitte sich jede Demonstration gegen die westliche Zivilisation. Die schweizerische Armee werde sonst Ordnung schaffen!
Da der Nationalrat sichtlich desorientiert war, musste Bärlach zum Rechten sehen.
„Tschanz, was der Herr Nationalrat sagt, kommt nicht ins Protokoll“, befahl er sachlich.
Der Nationalrat war mit einem Schlag nüchtern.
„In was für ein Protokoll, Mano?“
Als Kommissär von der Berner Kriminalpolizei, erläuterte Bärlach, müsse er eine Untersuchung über den Mord an Polizeileutnant Schmied durchführen. Es sei eigentlich seine Pflicht, alles, was die verschiedenen Personen auf bestimmte Fragen geantwortet hätten, zu Protokoll zu geben, aber weil der Herr – er zögerte einen Moment, welchen Titel er jetzt wählen sollte – Oberst offenbar die Lage falsch einschätze, wolle er die Antwort des Nationalrats nicht zu Protokoll geben.
Der Oberst war bestürzt. „Ihr seid von der Polizei“, sagte er, „das ist etwas anderes.“
Man solle ihn entschuldigen, fuhr er fort, heute Mittag habe er in der türkischen Botschaft gespeist, am Nachmittag sei er zum Vorsitzenden der Oberst-Vereinigung Heißt ein Haus zum Schweizerdegen gewählt worden, anschließend habe er einen Ehren-Abendschoppen am Stammtisch der Helveter zu sich nehmen müssen, zudem sei vormittags eine Sondersitzung der Partei-Fraktion gewesen, der er angehöre, und jetzt dieses Fest bei Gastmann mit einem immerhin weltbekannten Pianisten. Er sei todmüde.
Ob es nicht möglich sei, Herrn Gastmann zu sprechen, fragte Bärlach noch einmal.
„Was wollt Ihr eigentlich von Gastmann?“ antwortete von Schwendi. „Was hat der mit dem ermordeten Polizeileutnant zu tun?“
„Schmied war letzten Mittwoch sein Gast und ist auf der Rückfahrt bei Twann ermordet worden.“
„Da haben wir den Dreck“, sagte der Nationalrat. „Gastmann ladet eben auch alles ein, und da gibt es solche Unfälle.“
Dann schwieg er und schien nachzudenken.
„Ich bin Gastmanns Advokat“, fuhr er endlich fort. „Warum seid Ihr denn eigentlich ausgerechnet diese Nacht gekommen? Ihr hättet doch wenigstens telephonieren können.“
Bärlach erklärte, dass sie erst jetzt entdeckt hätten, was es mit Gastmann auf sich habe.
Der Oberst gab sich noch nicht zufrieden.
„Und was ist das mit dem Hund?“
„Er hat mich überfallen, und Tschanz musste schießen.“
„Dann ist es in Ordnung“, sagte von Schwendi nicht ohne Freundlichkeit. „Gastmann ist jetzt wirklich nicht zu sprechen; auch die Polizei muss eben manchmal Rücksicht auf gesellschaftliche Gepflogenheiten nehmen. Ich werde morgen auf Ihr Bureau kommen und noch heute schnell mit Gastmann reden. Habt Ihr vielleicht ein Bild von Schmied?“
Bärlach entnahm seiner Brieftasche eine Photographie und gab sie ihm.
„Danke“, sagte der Nationalrat.
Dann nickte er und ging ins Haus.
Nun standen Bärlach und Tschanz wieder allein vor den rostigen Stangen der Gartentüre; das Haus war wie zuvor.
„Gegen einen Nationalrat kann man nichts machen“, sagte Bärlach, „und wenn er noch Oberst und Advokat dazu ist, hat er drei Teufel auf einmal im Leib. Da stehen wir mit unserem schönen Mord und können nichts damit anfangen.“
Tschanz schwieg und schien nachzudenken. Endlich sagte er: „Es ist neun Uhr, Kommissär. Ich halte es nun für das Beste, zum Polizisten von Lamboing zu fahren und sich mit ihm über diesen Gastmann zu unterhalten.“
„Es ist recht“, antwortete Bärlach. „Das können Sie tun. Versuchen Sie abzuklären, warum man in Lamboing nichts vom Besuch Schmieds bei Gastmann weiß. Ich selber gehe in das kleine Restaurant am Anfang der Schlucht. Ich muss etwas für meinen Magen tun. Ich erwarte Sie dort.“
Sie schritten den Feldweg zurück und gelangten zum Wagen. Tschanz fuhr davon und erreichte nach wenigen Minuten Lamboing.
Er fand den Polizisten im Wirtshaus, wo er mit Clenin, der von Twann gekommen war, an einem Tische saß, abseits von den Bauern, denn offenbar hatten sie eine Besprechung. Der Polizist von Lamboing war klein, dick und rothaarig. Er hieß Jean Pierre Charnel.
Tschanz setzte sich zu ihnen, und das Mißtrauen, das die beiden dem Kollegen aus Bern entgegenbrachten, schwand bald. Nur sah Charnel nicht gern, dass er nun anstatt französisch deutsch sprechen musste, eine Sprache, in der es ihm nicht ganz geheuer war. Sie tranken Weißen, und Tschanz aß Brot und Käse dazu, doch verschwieg er, dass er eben von Gastmanns Haus komme, vielmehr fragte er, ob sie noch immer keine Spur hätten.
„Non“, sagte Charnel, „keine Spur von assassin. On a rien trouvé, gar nichts gefunden.“
Er fuhr fort, dass nur einer in dieser Gegend in Betracht falle, ein Herr Gastmann in Kolliers Haus, das er gekauft habe, zu dem immer viele Gäste kämen, und der auch am Mittwoch ein großes Fest gegeben habe. Aber Schmied sei nicht dort gewesen, Gastmann habe gar nichts gewusst, nicht einmal den Namen gekannt. „Schmied n’etait pas chez Gastmann, impossible. Ganz und gar unmöglich.“
Tschanz hörte sich das Kauderwelsch an und entgegnete, man sollte noch bei andern nachfragen, die auch an diesem Tag bei Gastmann gewesen seien.
Das habe er, warf nun Clenin ein, in Schernelz über Ligerz wohne ein Schriftsteller, der Gastmann gut kenne und der oft bei ihm sei, auch am Mittwoch hätte er mitgemacht. Er habe auch nichts von Schmied gewusst, auch nie den Namen gehört und glaube nicht, dass überhaupt je ein Polizist bei Gastmann gewesen sei.
„So, ein Schriftsteller?“ sagte Tschanz und runzelte die Stirne, „ich werde mir wohl dieses Exemplar einmal vorknöpfen müssen. Schriftsteller sind immer dubios, aber ich komme diesen übergebildeten schon noch bei.“
„Was ist denn dieser Gastmann, Charnel?“ fragte er weiter.
„Un monsieur très riche“, antwortete der Polizist von Lamboing begeistert. „Haben Geld wie das Heu und très noble. Er geben Trinkgeld an meine fiancée – und er wies stolz auf die Kellnerin – comme un roi, aber nicht mit Absicht um haben etwas mit ihr. Jamais.“
„Was hat er denn für einen Beruf?“
„Philosophe.“
„Was verstehen Sie darunter, Charnel?“
„Ein Mann, der viel denken und nichts machen.“
„Er muss doch Geld verdienen?“
Charnel schüttelte den Kopf. „Er nicht Geld verdienen, er Geld haben. Er zahlen Steuern für das ganze Dorf Lamboing. Das genügt für uns, dass Gastmann ist der sympathischste Mensch im ganzen Kanton.“
„Es wird gleichwohl nötig sein“, entschied Tschanz, „dass wir uns diesen Gastmann noch gründlich vornehmen. Ich werde morgen zu ihm fahren.“
„Dann aber Achtung vor seine Hund“, mahnte Charnel. „Un chien très dangereux.“
Tschanz stand auf und klopfte dem Polizisten von Lamboing auf die Schulter. „Oh, mit dem werde ich schon fertig.“