Der neue Twanner schien Bärlach nicht gutgetan zu haben, denn er erklärte am nächsten Morgen, er habe die ganze Nacht erbrechen müssen. Lutz, der dem Kommissär auf der Treppe begegnete, war über dessen Befinden ehrlich besorgt und riet ihm, zum Arzt zu gehen.
„Schon, schon“, brummte Bärlach und meinte, er liebe die ärzte noch weniger als die moderne wissenschaftliche Kriminalistik.
In seinem Bureau ging es ihm besser. Er setzte sich hinter den Schreibtisch und holte die eingeschlossene Mappe des Toten hervor.
Bärlach war noch immer in die Mappe vertieft, als sich um zehn Uhr Tschanz bei ihm meldete, der schon am Vortage spät nachts aus seinen Ferien heimgekehrt war.
Bärlach fuhr zusammen, denn im ersten Moment glaubte er, der tote Schmied komme zu ihm. Tschanz trug den gleichen Mantel wie Schmied und einen ähnlichen Filzhut. Nur das Gesicht war anders; es war ein gutmütiges, volles Antlitz.
„Es ist gut, dass Sie da sind, Tschanz“, sagte Bärlach. „Wir müssen den Fall Schmied besprechen. Sie sollen ihn der Hauptsache nach übernehmen, ich bin nicht so gesund.“
„Ja“, sagte Tschanz, „ich weiß Bescheid.“
Tschanz setzte sich, nachdem er den Stuhl an Bärlachs Schreibtisch gerückt hatte, auf den er nun den linken Arm legte. Auf dem Schreibtisch war die Mappe Schmieds aufgeschlagen.
Bärlach lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Ihnen kann ich es ja sagen“, begann er, „ich habe zwischen Konstantinopel und Bern Tausende von Polizeimännern gesehen, gute und schlechte. Viele waren nicht besser als das arme Gesindel, mit dem wir die Gefängnisse aller Art bevölkern, nur dass sie zufällig auf der andern Seite des Gesetzes standen. Aber auf den Schmied lasse ich nichts kommen, der war der begabteste. Der war berechtigt, uns alle einzustecken. Er war ein klarer Kopf, der wusste, was er wollte, und verschwieg, was er wusste, um nur dann zu reden, wenn es nötig war. An dem müssen wir uns ein Beispiel nehmen, Tschanz, der war uns über.“
Tschanz wandte seinen Kopf langsam Bärlach zu, denn er hatte zum Fenster hinausgesehen, und sagte: „Das ist möglich.“
Bärlach sah es ihm an, dass er nicht überzeugt war.
„Wir wissen nicht viel über seinen Tod“, fuhr der Kommissär fort, „diese Kugel, das ist alles“, und damit legte er die Kugel auf den Tisch, die er in Twann gefunden hatte. Tschanz nahm sie und schaute sie an.
„Die kommt aus einem Armeerevolver“, sagte er und gab die Kugel wieder zurück.
Bärlach klappte die Mappe auf seinem Schreibtisch zu: „Vor allem wissen wir nicht, was Schmied in Twann oder Lamlingen zu suchen hatte. Dienstlich war er nicht am Bielersee, ich hätte von dieser Reise gewußt. Es fehlt uns jedes Motiv, das seine Reise dorthin auch nur ein wenig wahrscheinlich machen würde.“
Tschanz hörte auf das, was Bärlach sagte, nur halb hin, legte ein Bein über das andere und bemerkte: „Wir wissen nur, wie Schmied ermordet wurde.“
„Wie wollen Sie das nun wieder wissen?“ fragte der Kommissär nicht ohne überraschung nach einer Pause.
„Schmieds Wagen hat das Steuer links, und Sie haben die Kugel am linken Straßenrand gefunden, vom Wagen aus gesehen; dann hat man in Twann den Motor die Nacht durch laufen gehört. Schmied wurde vom Mörder angehalten, wie er von Lamboing nach Twann hinunterfuhr. Wahrscheinlich kannte er den Mörder, weil er sonst nicht gestoppt hätte. Schmied öffnete die rechte Wagentüre, um den Mörder aufzunehmen, und setzte sich wieder ans Steuer. In diesem Augenblick wurde er erschossen. Schmied muß keine Ahnung von der Absicht des Mannes gehabt haben, der ihn getötet hat.“
Bärlach überlegte sich das noch einmal und sagte dann: „Jetzt will ich mir doch eine Zigarre anzünden“, und darauf, wie er sie in Brand gesteckt hatte: „Sie haben recht, Tschanz, so ähnlich muß es zugegangen sein zwischen Schmied und seinem Mörder, ich will Ihnen das glauben. Aber das erklärt immer noch nicht, was Schmied auf der Straße von Twann nach Lamlingen zu suchen hatte.“
Tschanz gab zu bedenken, dass Schmied unter seinem Mantel einen Gesellschaftsanzug getragen habe.
„Das wusste ich ja gar nicht“, sagte Bärlach.
„Ja, haben Sie denn den Toten nicht gesehen?“
„Nein, ich liebe Tote nicht.“
„Aber es stand doch auch im Protokoll.“
„Ich liebe Protokolle noch weniger.“
Tschanz schwieg.
Bärlach jedoch konstatierte: „Das macht den Fall nur noch komplizierter. Was wollte Schmied mit einem Gesellschaftsanzug in der Twannbachschlucht?“
Das mache den Fall vielleicht einfacher, antwortete Tschanz; es wohnten in der Gegend von Lamboing sicher nicht viele Leute, die in der Lage seien, Gesellschaften zu geben, an denen man einen Frack trage.
Er zog einen kleinen Taschenkalender hervor und erklärte, dass dies Schmieds Kalender sei.
„Ich kenne ihn“, nickte Bärlach, „es steht nichts drin, was wichtig ist.“
Tschanz widersprach: „Schmied hat sich für Mittwoch den zweiten November ein G notiert. An diesem Tage ist er kurz vor Mitternacht ermordet worden, wie der Gerichtsmediziner meint. Ein weiteres G steht am Mittwoch, dem sechsundzwanzigsten, und wieder am Dienstag dem achtzehnten Oktober.“
„G kann alles Mögliche heißen“, sagte Bärlach, „ein Frauenname oder sonst was.“
„Ein Frauenname kann es kaum sein“, erwiderte Tschanz, „Schmieds Freundin heißt Anna, und Schmied war solid.“
„Von der weiß ich auch nichts“, gab der Kommissär zu; und wie er sah, dass Tschanz über seine Unkenntnis erstaunt war, sagte er: „Mich interessiert eben nur, wer Schmieds Mörder ist, Tschanz.“
Der sagte höflich: „Natürlich“, schüttelte den Kopf und lachte: „Was Sie doch für ein Mensch sind, Kommissär Bärlach.“
Bärlach sprach ganz ernsthaft: „Ich bin ein großer alter schwarzer Kater, der gern Mäuse frisst.“
Tschanz wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte, und erklärte endlich: „An den Tagen, die mit G bezeichnet sind, hat Schmied jedesmal den Frack angezogen und ist mit seinem Mercedes davongefahren.“
„Woher wissen Sie das wieder?“
„Von Frau Schönler.“
„So so“, antwortete Bärlach und schwieg. Aber dann meinte er: „Ja, das sind Tatsachen.“
Tschanz schaute dem Kommissär aufmerksam ins Gesicht, zündete sich eine Zigarette an und sagte zögernd: „Herr Doktor Lutz sagte mir, Sie hätten einen bestimmten Verdacht.“
„Ja, den habe ich, Tschanz.“
„Da ich nun Ihr Stellvertreter in der Mordsache Schmied geworden bin, wäre es nicht vielleicht besser, wenn Sie mir sagen würden, gegen wen sich Ihr Verdacht richtet, Kommissär Bärlach?“
„Sehen Sie“, antwortete Bärlach langsam, ebenso sorgfältig jedes Wort überlegend wie Tschanz, „mein Verdacht ist nicht ein kriminalistisch wissenschaftlicher Verdacht. Ich habe keine Gründe, die ihn rechtfertigen. Sie haben gesehen, wie wenig ich weiß. Ich habe eigentlich nur eine Idee, wer als Mörder in Betracht kommen könnte; aber der, den es angeht, muss die Beweise, dass er es gewesen ist, noch liefern.“
„Wie meinen Sie das, Kommissär?“ fragte Tschanz.
Bärlach lächelte: „Nun, ich muss warten, bis die Indizien zum Vorschein gekommen sind, die seine Verhaftung rechtfertigen.“
„Wenn ich mit Ihnen zusammenarbeiten soll, muss ich wissen, gegen wen sich meine Untersuchung richten muß“, erklärte Tschanz höflich.
„Vor allem müssen wir objektiv bleiben. Das gilt für mich, der ich einen Verdacht habe, und für Sie, der den Fall zur Hauptsache untersuchen wird. Ob sich mein Verdacht bestätigt, weiß ich nicht. Ich warte Ihre Untersuchung ab. Sie haben Schmieds Mörder festzustellen, ohne Rücksicht darauf, dass ich einen bestimmten Verdacht habe. Wenn der, den ich verdächtige, der Mörder ist, werden Sie selbst auf ihn stoßen, freilich im Gegensatz zu mir auf eine einwandfreie, wissenschaftliche Weise; wenn er es nicht ist, werden Sie den Richtigen gefunden haben, und es wird nicht nötig gewesen sein, den Namen des Menschen zu wissen, den ich falsch verdächtigt habe.“
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte der Alte: „Sind Sie mit unserer Arbeitsweise einverstanden?“
Tschanz zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete: „Gut, ich bin einverstanden.“
„Was wollen Sie nun tun, Tschanz?“
Der Gefragte trat zum Fenster: „Für heute hat sich Schmied ein G angezeichnet. Ich will nach Lamboing fahren und sehen, was ich herausfinde. Ich fahre um sieben, zur selben Zeit wie das Schmied auch immer getan hat, wenn er nach dem Tessenberg gefahren ist.“
Er kehrte sich wieder um und fragte höflich, aber wie zum Scherz: „Fahren Sie mit, Kommissär?“
„Ja, Tschanz, ich fahre mit“, antwortete der unerwartet.
„Gut“, sagte Tschanz etwas verwirrt, denn er hatte nicht damit gerechnet, „um sieben.“
In der Türe kehrte er sich noch einmal um: „Sie waren doch auch bei Frau Schönler, Kommissär Bärlach. Haben Sie denn dort nichts gefunden?“ Der Alte antwortete nicht sogleich, sondern verschloß erst die Mappe im Schreibtisch und nahm dann den Schlüssel an sich.
„Nein, Tschanz“, sagte er endlich, „ich habe nichts gefunden. Sie können nun gehen.“