© Антология, 2005
© КАРО, 2005
Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten November neunzehnhundertachtundvierzig dort, wo die Straße von Lamboing (eines der Tessenbergdörfer) aus dem Walde der Twannbachschlucht hervortritt, einen blauen Mercedes, der am Straßenrande stand. Es herrschte Nebel, wie oft in diesem Spätherbst, und eigentlich war Clenin am Wagen schon vorbeigegangen, als er doch wieder zurückkehrte. Es war ihm nämlich beim Vorbeischreiten gewesen, nachdem er flüchtig durch die trüben Scheiben des Wagens geblickt hatte, als sei der Fahrer auf das Steuer niedergesunken. Er glaubte, dass der Mann betrunken sei, denn als ordentlicher Mensch kam er auf das Nächstliegende. Er wollte daher dem Fremden nicht amtlich, sondern menschlich begegnen. Er trat mit der Absicht ans Automobil, den Schlafenden zu wecken, ihn nach Twann zu fahren und im Hotel Bären bei schwarzem Kaffee und einer Mehlsuppe nüchtern werden zu lassen; denn es war zwar verboten, betrunken zu fahren, aber nicht verboten, betrunken in einem Wagen, der am Straßenrande stand, zu schlafen. Clenin öffnete die Wagentür und legte dem Fremden die Hand väterlich auf die Schultern. Er bemerkte jedoch im gleichen Augenblick, dass der Mann tot war. Die Schläfen waren durchschossen. Auch sah Clenin jetzt, daß die rechte Wagentüre offen stand. Im Wagen war nicht viel Blut, und der dunkelgraue Mantel, den die Leiche trug, schien nicht einmal beschmutzt. Aus der Manteltasche glänzte der Rand einer gelben Brieftasche. Clenin, der sie hervorzog, konnte ohne Mühe feststellen, dass es sich beim Toten um Ulrich Schmied handelte, Polizeileutnant der Stadt Bern.
Clenin wußte nicht recht, was er tun sollte. Als Dorfpolizist war ihm ein so blutiger Fall noch nie vorgekommen. Er lief am Straßenrande hin und her. Als die aufgehende Sonne durch den Nebel brach und den Toten beschien, war ihm das unangenehm. Er kehrte zum Wagen zurück, hob den grauen Filzhut auf, der zu Füßen der Leiche lag, und drückte ihr den Hut über den Kopf, so tief, dass er die Wunde an den Schläfen nicht mehr sehen konnte, dann war ihm wohler.
Der Polizist ging wieder zum andern Straßenrand, der gegen Twann lag, und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Dann faßte er einen Entschluß. Er schob den Toten auf den zweiten Vordersitz, setzte ihn sorgfältig aufrecht, befestigte den leblosen Körper mit einem Lederriemen, den er im Wageninnern gefunden hatte, und rückte selbst ans Steuer.
Der Motor lief nicht mehr, doch brachte Clenin den Wagen ohne Mühe die steile Straße nach Twann hinunter vor den Bären. Dort ließ er tanken, ohne dass jemand in der vornehmen und unbeweglichen Gestalt einen Toten erkannt hätte. Das war Clenin, der Skandale haßte, nur recht, und so schwieg er.
Wie er jedoch den See entlang gegen Biel fuhr, verdichtete sich der Nebel wieder, und von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Der Morgen wurde finster wie der Letzte Tag. Clenin geriet mitten in eine lange Automobilkette, ein Wagen hinter dem andern, die aus einem unerklärlichen Grunde noch langsamer fuhr, als es in diesem Nebel nötig gewesen wäre, fast ein Leichenzug, wie Clenin unwillkürlich dachte. Der Tote saß bewegungslos neben ihm und nur manchmal, bei einer Unebenheit der Straße etwa, nickte er mit dem Kopf wie ein alter, weiser Chinese, so dass Clenin es immer weniger zu versuchen wagte, die andern Wagen zu überholen. Sie erreichten Biel mit großer Verspätung.
Während man die Untersuchung der Hauptsache nach von Biel aus einleitete, wurde in Bern der traurige Fund Kommissär Bärlach übergeben, der auch Vorgesetzter des Toten gewesen war.
Bärlach hatte lange im Auslande gelebt und sich in Konstantinopel und dann in Deutschland als bekannter Kriminalist hervorgetan. Zuletzt war er der Kriminalpolizei Frankfurt am Main vorgestanden, doch kehrte er schon dreiunddreißig in seine Vaterstadt zurück. Der Grund seiner Heimreise war nicht so sehr seine Liebe zu Bern, das er oft sein goldenes Grab nannte, sondern eine Ohrfeige gewesen, die er einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte. In Frankfurt wurde damals über diese Gewalttätigkeit viel gesprochen, und in Bern bewertete man sie, je nach dem Stand der europäischen Politik, zuerst als empörend, dann als verurteilenswert, aber doch noch begreiflich, und endlich sogar als die einzige für einen Schweizer mögliche Haltung; dies aber erst fünfundvierzig.
Das erste, was Bärlach im Fall Schmied tat, war, dass er anordnete, die Angelegenheit die ersten Tage geheim zu behandeln – eine Anordnung, die er nur mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit durchzubringen vermochte. „Man weiß zu wenig und die Zeitungen sind sowieso das überflüssigste, was in den letzten zweitausend Jahren erfunden worden ist“, meinte er.
Bärlach schien sich von diesem geheimen Vorgehen offenbar viel zu versprechen, im Gegensatz zu seinem „Chef“, Dr. Lucius Lutz, der auch auf der Universität über Kriminalistik las. Dieser Beamte, in dessen stadtbernisches Geschlecht ein Basler Erbonkel wohltuend eingegriffen hatte, war eben von einem Besuch der New Yorker und Chicagoer Polizei nach Bern zurückgekehrt und erschüttert „über den vorweltlichen Stand der Verbrecherabwehr der schweizerischen Bundeshauptstadt“, wie er zu Polizeidirektor Freiberger anlässlich einer gemeinsamen Heimfahrt im Tram offen sagte.
Noch am gleichen Morgen ging Bärlach – nachdem er noch einmal mit Biel telephoniert hatte – zu der Familie Schönler an der Bantigerstraße, wo Schmied gewohnt hatte. Bärlach schritt zu Fuß die Altstadt hinunter und über die Nydeggbrücke, wie er es immer gewohnt war, denn Bern war seiner Ansicht nach eine viel zu kleine Stadt für „Trams und dergleichen“.
Die Haspeltreppen stieg er etwas mühsam hinauf, denn er war über sechzig und spürte das in solchen Momenten; doch befand er sich bald vor dem Hause Schönler und läutete. Es war Frau Schönler selbst, die öffnete, eine kleine, dicke, nicht unvornehme Dame, die Bärlach sofort einließ, da sie ihn kannte.
„Schmied mußte diese Nacht dienstlich verreisen“, sagte Bärlach, „ganz plötzlich musste er gehen, und er hat mich gebeten, ihm etwas nachzuschicken. Ich bitte Sie, mich in sein Zimmer zu führen, Frau Schönler.“
Die Dame nickte, und sie gingen durch den Korridor an einem großen Bilde in schwerem Goldrahmen vorbei. Bärlach schaute hin, es war die Toteninsel.
„Wo ist Herr Schmied denn?“ fragte die dicke Frau, indem sie das Zimmer öffnete.
„Im Ausland“, sagte Bärlach und schaute nach der Decke hinauf.
Das Zimmer lag zu ebener Erde, und durch die Gartentüre sah man in einen kleinen Park, in welchem alte, braune Tannen standen, die krank sein mussten, denn der Boden war dicht mit Nadeln bedeckt. Es musste das schönste Zimmer des Hauses sein. Bärlach ging zum Schreibtisch und schaute sich aufs neue um. Auf dem Diwan lag eine Krawatte des Toten.
„Herr Schmied ist sicher in den Tropen, nicht wahr, Herr Bärlach“, fragte ihn Frau Schönler neugierig. Bärlach war etwas erschrocken: „Nein, er ist nicht in den Tropen, er ist mehr in der Höhe.“
Frau Schönler machte runde Augen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Mein Gott, im Himalaya?“
„So ungefähr“, sagte Bärlach, „Sie haben es beinahe erraten.“ Er öffnete eine Mappe, die auf dem Schreibtisch lag, und die er sogleich unter den Arm klemmte.
„Sie haben gefunden, was Sie Herrn Schmied nachschicken müssen?“
„Das habe ich.“
Er schaute sich noch einmal um, vermied es aber, ein zweites Mal nach der Krawatte zu blicken.
„Er ist der beste Untermieter, den wir je gehabt haben, und nie gab’s Geschichten mit Damen oder so“, versicherte Frau Schönler.
Bärlach ging zur Türe: „Hin und wieder werde ich einen Beamten schicken oder selber kommen. Schmied hat noch wichtige Dokumente hier, die wir vielleicht brauchen.“
„Werde ich von Herrn Schmied eine Postkarte aus dem Ausland erhalten?“ wollte Frau Schönler noch wissen. „Mein Sohn sammelt Briefmarken.“
Aber Bärlach runzelte die Stirne und bedauerte, indem er Frau Schönler nachdenklich ansah: „Wohl kaum, denn von solchen dienstlichen Reisen schickt man gewöhnlich keine Postkarten. Das ist verboten.“
Da schlug Frau Schönler aufs neue die Hände über dem Kopf zusammen und meinte verzweifelt: „Was die Polizei nicht alles verbietet!“
Bärlach ging und war froh, aus dem Hause hinaus zu sein.
Tief in Gedanken versunken, aß er gegen seine Gewohnheit nicht in der Schmiedstube, sondern im Du Théâtre zu Mittag, aufmerksam in der Mappe blätternd und lesend, die er von Schmieds Zimmer geholt hatte, und kehrte dann nach einem kurzen Spaziergang über die Bundesterrasse gegen zwei Uhr auf sein Bureau zurück, wo ihn die Nachricht erwartete, dass der tote Schmied nun von Biel angekommen sei. Er verzichtete jedoch darauf, seinem ehemaligen Untergebenen einen Besuch abzustatten, denn er liebte Tote nicht und ließ sie daher meistens in Ruhe. Den Besuch bei Lutz hätte er auch gern unterlassen, doch musste er sich fügen. Er verschloss Schmieds Mappe sorgfältig in seinem Schreibtisch, ohne sie noch einmal durchzublättern, zündete sich eine Zigarre an und ging in Lutzens Bureau, wohl wissend, dass sich der jedesmal über die Freiheit ärgerte, die sich der Alte mit seinem Zigarrenrauchen herausnahm. Nur einmal vor Jahren hatte Lutz eine Bemerkung gewagt; aber mit einer verächtlichen Handbewegung hatte Bärlach geantwortet, er sei unter anderem zehn Jahre in türkischen Diensten gestanden und habe immer in den Zimmern seiner Vorgesetzten in Konstantinopel geraucht, eine Bemerkung, die um so gewichtiger war, als sie nie nachgeprüft werden konnte.
Dr. Lucius Lutz empfing Bärlach nervös, da seiner Meinung nach noch nichts unternommen worden war, und wies ihm einen bequemen Sessel in der Nähe seines Schreibtisches an.
„Noch nichts aus Biel?“ fragte Bärlach.
„Noch nichts“, antwortete Lutz.
„Merkwürdig“, sagte Bärlach, „dabei arbeiten die doch wie wild.“
Bärlach setzte sich und sah flüchtig nach den Traffelet-Bildern, die an den Wänden hingen, farbige Federzeichnungen, auf denen bald mit und bald ohne General unter einer großen flatternden Fahne Soldaten entweder von links nach rechts oder von rechts nach links marschierten.
„Es ist“, begann Lutz, „wieder einmal mit einer immer neuen, steigenden Angst zu sehen, wie sehr die Kriminalistik in diesem Lande noch in den Kinderschuhen steckt. Ich bin, weiß Gott, an vieles im Kanton gewöhnt, aber das Verfahren, wie man es hier einem toten Polizeileutnant gegenüber offenbar für natürlich ansieht, wirft ein so schreckliches Licht auf die berufliche Fähigkeit unserer Dorfpolizei, dass ich noch jetzt erschüttert bin.“
„Beruhigen Sie sich, Doktor Lutz“, antwortete Bärlach, „unsere Dorfpolizei ist ihrer Aufgabe sicher ebenso sehr gewachsen wie die Polizei von Chicago, und wir werden schon noch herausfinden, wer den Schmied getötet hat.“
„Haben Sie irgendwen im Verdacht, Kommissär Bärlach?“
Bärlach sah Lutz lange an und sagte endlich: „Ja, ich habe irgendwen im Verdacht, Doktor Lutz.“
„Wen denn?“
„Das kann ich Ihnen noch nicht sagen.“
„Nun, das ist ja interessant“, sagte Lutz, „ich weiß, dass Sie immer bereit sind, Kommissär Bärlach, einen Fehlgriff gegen die großen Erkenntnisse der modernen wissenschaftlichen Kriminalistik zu beschönigen. Vergessen Sie jedoch nicht, dass die Zeit fortschreitet und auch vor dem berühmtesten Kriminalisten nicht haltmacht. Ich habe in New York und Chicago Verbrechen gesehen, von denen Sie in unserem lieben Bern doch wohl nicht die richtige Vorstellung haben. Nun ist aber ein Polizeileutnant ermordet worden, das sichere Anzeichen, dass es auch hier im Gebäude der öffentlichen Sicherheit zu krachen beginnt, und da heißt es rücksichtslos eingreifen.“
„Gewiß, das tue er ja auch,“ antwortete Bärlach.
„Dann sei es ja gut,“ entgegnete Lutz und hustete.
An der Wand tickte eine Uhr.
Bärlach legte seine linke Hand sorgfältig auf den Magen und drückte mit der rechten die Zigarre im Aschenbecher aus, den ihm Lutz hingestellt hatte. Er sei, sagte er, seit längerer Zeit nicht mehr so ganz gesund, der Arzt wenigstens mache ein langes Gesicht. Er leide oft an Magenbeschwerden, und er bitte deshalb Doktor Lutz, ihm einen Stellvertreter in der Mordsache Schmied beizugeben, der das Hauptsächliche ausführen könnte, Bärlach wolle dann den Fall mehr vom Schreibtisch aus behandeln. Lutz war einverstanden. „Wen denken Sie sich als Stellvertreter?“ fragte er.
„Tschanz“, sagte Bärlach. „Er ist zwar noch in den Ferien im Berner Oberland, aber man kann ihn ja heimholen.“
Lutz entgegnete: „Ich bin mit ihm einverstanden. Tschanz ist ein Mann, der immer bemüht ist, kriminalistisch auf der Höhe zu bleiben.“
Dann wandte er Bärlach den Rücken zu und schaute zum Fenster auf den Waisenhausplatz hinaus, der voller Kinder war.
Plötzlich überkam ihn eine unbändige Lust, mit Bärlach über den Wert der modernen wissenschaftlichen Kriminalistik zu disputieren. Er wandte sich um, aber Bärlach war schon gegangen.
Wenn es auch schon gegen fünf ging, beschloss Bärlach doch noch an diesem Nachmittag nach Twann zum Tatort zu fahren. Er nahm Blatter mit, einen großen aufgeschwemmten Polizisten, der nie ein Wort sprach, den Bärlach deshalb liebte, und der auch den Wagen führte. In Twann wurden sie von Clenin empfangen, der ein trotziges Gesicht machte, da er einen Tadel erwartete. Der Kommissär war jedoch freundlich, schüttelte Clenin die Hand und sagte, dass es ihn freue, einen Mann kennenzulernen, der selber denken könne. Clenin war über dieses Wort stolz, obgleich er nicht recht wusste, wie es vom Alten gemeint war. Er führte Bärlach die Straße gegen den Tessenberg hinauf zum Tatort. Blatter trottete nach und war mürrisch, weil man zu Fuß ging.
Bärlach verwunderte sich über den Namen Lamboing. „Lamlingen heißt das auf deutsch“, klärte ihn Clenin auf.
„So, so“, meinte Bärlach, „das ist schöner.“
Sie kamen zum Tatort. Die Straßenseite zu ihrer Rechten lag gegen Twann und war mit einer Mauer eingefasst.
„Wo war der Wagen, Clenin?“
„Hier“, antwortete der Polizist und zeigte auf die Straße, „fast in der Straßenmitte“, und, da Bärlach kaum hinschaute: „Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte den Wagen mit dem Toten noch hier stehenlassen.“
„Wieso?“ sagte Bärlach und schaute die Jurafelsen empor. „Tote schafft man so schnell als möglich fort, die haben nichts mehr unter uns zu suchen. Sie haben schon recht getan, den Schmied nach Biel zu führen.“
Bärlach trat an den Straßenrand und sah nach Twann hinunter. Nur Weinberge lagen zwischen ihm und der alten Ansiedlung. Die Sonne war schon untergegangen. Die Straße krümmte sich wie eine Schlange zwischen den Häusern, und am Bahnhof stand ein langer Güterzug.
„Hat man denn nichts gehört da unten, Clenin?“ fragte er. „Das Städtchen ist doch ganz nah, da müsste man jeden Schuss hören.“
„Man hat nichts gehört als den Motor die Nacht durch laufen, aber man hat nichts Schlimmes dabei gedacht.“
„Natürlich, wie sollte man auch.“
Er sah wieder auf die Rebberge. „Wie ist der Wein dieses Jahr, Clenin?“
„Gut. Wir können ihn ja dann versuchen.“
„Das ist wahr, ein Glas Neuen möchte ich jetzt gerne trinken.“ Und er stieß mit seinem rechten Fuß auf etwas Hartes. Er bückte sich und hielt ein vorne breitgedrücktes, längliches, kleines Metallstück zwischen den hageren Fingern. Clenin und Blatter sahen neugierig hin.
„Eine Revolverkugel“, sagte Blatter.
„Wie Sie das wieder gemacht haben, Herr Kommissär!“ staunte Clenin.
„Das ist nur Zufall“, sagte Bärlach, und sie gingen nach Twann hinunter.