Книга: Drei Kameraden / Три товарища. Книга для чтения на немецком языке
Назад: VIII
Дальше: X

IX

Sonntag. Der Tag des Rennens. Köster hatte die letzte Woche jeden Tag trainiert. Abends hatten wir dann bis in die Nacht hinein Karl bis aufs kleinste Schräubchen kontrolliert, geschmiert und in Ordnung gebracht. Jetzt saßen wir am Ersatzteillager und warteten auf Köster, der zum Startplatz gegangen war.

Wir waren alle da: Grau, Valentin, Lenz, Patrice Hollmann und vor allem Jupp. Jupp im Overall, mit Rennbrille und Rennhaube. Er war Kösters Beifahrer, weil er am leichtesten war. Lenz hatte allerdings Bedenken gehabt. Er behauptete, Jupps riesige abstehende Ohren gäben zu viel Luftwiderstand; entweder verliere der Wagen zwanzig Kilometer an Geschwindigkeit oder er verwandle sich in ein Flugzeug.

„Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem englischen Vornamen?” fragte Gottfried Patrice Hollmann, die neben ihm saß.

„Meine Mutter war Engländerin. Sie hieß auch so. Pat.”

„Ah, Pat, das ist was anderes. Das spricht sich viel leichter.” Er holte ein Glas und eine Flasche hervor. „Also auf gute Kameradschaft, Pat! Ich heiße Gottfried.”

Ich starrte ihn an. Während ich immer noch mit der Anrede herumlavierte, machte er am hellen Nachmittag unverfroren solche Sachen! Und sie lachte dazu und nannte ihn tatsächlich Gottfried.

Aber das war nichts gegen Ferdinand Grau. Der war völlig verrückt geworden und ließ sie nicht aus den Augen. Er rezitierte rollende Verse und erklärte, sie malen zu müssen. Tatsächlich hockte er sich auf eine Kiste und fing an zu zeichnen.

„Hör mal, Ferdinand, alter Totenvogel”, sagte ich und nahm ihm den Block fort, „vergreif dich nicht an lebendigen Menschen. Bleib bei deinen Leichen. Und rede mehr ins Allgemeine. Mit dem Mädchen bin ich empfindlich.”

„Versauft ihr nachher mit mir den Rest der Erbtante meines Gastwirts?”

„Ob den ganzen Rest, weiß ich nicht. Aber einen Fuß sicher.”

„Gut. Dann will ich dich schonen, Knabe.”

* * *

Das Geknatter der Motoren wanderte wie Maschinengewehrfeuer um die Bahn.

Nebenan lärmten die Monteure in ihren wohlausgerüsteten Boxen. Wir selbst waren nur sehr dürftig versorgt. Ein bisschen Werkzeug, Zündkerzen, ein paar Räder mit Reservereifen, die wir umsonst von einer Fabrik bekommen hatten, ein paar kleinere Ersatzteile, – das war schon alles. Köster fuhr nicht für eine Fabrik. Wir mussten alles selbst bezahlen. Deshalb hatten wir nicht viel.

Otto kam. Hinter ihm Braumüller, der schon zum Rennen angezogen war. „Na, Otto”, sagte er, „wenn meine Kerzen heute halten, bist du verloren! Aber sie werden nicht halten.”

„Mal sehen”, erwiderte Köster.

Braumüller drohte zu Karl hinüber. „Nimm dich in acht vor meinem Nussknacker!”

Der Nussknacker war eine ganz schwere, neue Maschine, die Braumüller fuhr. Er galt als Favorit.

„Karl wird dir schon Beine machen, Theo!” rief Lenz zu ihm hinüber. Braumüller wollte in der alten ehrlichen Soldatensprache antworten, verschluckte sich aber, als er Patrice Hollmann bei uns sah, machte Stielaugen, grinste ziellos in die Gegend und schob ab.

„Voller Erfolg”, sagte Lenz befriedigt.

Das Gebell der Motorräder fegte über die Bahn. Köster musste sich fertigmachen. Karl war in der Klasse der Sportwagen gemeldet.

„Viel helfen können wir dir ja nicht, Otto”, sagte ich und sah nach dem Werkzeug.

Er winkte ab. „Ist auch nicht nötig. Wenn Karl Bruch macht, nützt selbst eine ganze Werkstatt nichts.”

„Sollen wir nicht doch Schilder raushalten, damit du weißt, wie du liegst?”

Köster schüttelte den Kopf. „Ist ja Sammelstart. Da seh ichs schon. Außerdem passt Jupp auf.”

Jupp nickte eifrig. Er zitterte vor Aufregung und fraß andauernd Schokolade. Aber das war nur jetzt. Beim Startschuss wurde er sofort ruhig wie eine Schildkröte.

„Also los, Hals und Beinbruch!”

Wir schoben Karl vor.

Karl dampfte ab. Wir sahen ihm nach. „Guck mal, die komische Klamotte”, sagte plötzlich jemand neben uns.

Lenz richtete sich auf. „Meinen Sie den weißen Wagen?” fragte er mit rotem Kopf, aber noch ruhig.

„Eben”, erwiderte ihm der riesige Monteur aus der Nachbarbox wegwerfend über die Schulter weg und reichte seinem Nachbarn die Bierflasche. Lenz begann vor Wut zu stottern und schickte sich an, die niedrige Bretterwand zu übersteigen. Ich zerrte ihn zurück. „Lass den Quatsch”, fluchte ich, „wir brauchen dich hier. Wozu willst du schon vorher ins Lazarett!”

„Sehen Sie”, sagte ich zu Patrice Hollmann, „das ist angeblich der letzte Romantiker, dieser irrsinnige Ziegenbock! Können Sie glauben, dass er mal Gedichte geschrieben hat?”

Das wirkte sofort. Es war Gottfrieds wunde Stelle. „Lange vor dem Kriege”, entschuldigte er sich. „Außerdem, Baby, beim Rennen verrückt zu werden ist keine Schande. Was, Pat?”

„Verrückt sein ist überhaupt keine Schande.”

Gottfried salutierte. „Ein großes Wort!”

Das Donnern der Motoren übertönte alles Weitere. Die Luft bebte. Erde und Himmel bebten. Das Feld raste vorbei. „Vorletzter!” knurrte Lenz. „Das Biest hat beim Anfahren doch wieder gestottert.”

„Macht nichts”, sagte ich, „der Start ist Karls Schwäche. Er zieht langsam ab, aber dann hört er überhaupt nicht mehr auf.”

Die Wagen brummten heran. Sie zitterten in der Ferne wie Heuschrecken auf der Bahn, wurden größer und rasten auf der gegenüberliegenden Seite an den Tribünen vorbei in die große Kurve. Es waren noch sechs, Köster immer noch an vorletzter Stelle. Dann schoss die Meute heraus. Einer vorweg – der zweite und dritte dicht hinter ihm und dann Köster. Er war in der Kurve vorgegangen und fuhr jetzt als vierter.

* * *

Wieder dröhnte der ungeheure Herzschlag der Maschinen heran, an den Tribünen vorbei. Wir starrten zu Köster hinüber. Er schüttelte den Kopf; er wollte keine Reifen wechseln. Als er zurückkam, hatte er etwas aufgeholt. Er hing dem Dritten dicht am Hinterrad. So rasten sie in die unendliche Gerade.

„Verflucht!” Lenz nahm einen Schluck aus der Flasche.

„Er hat das trainiert”, sagte ich zu Patrice Hollmann. „In der Kurve rangehen ist seine Spezialität.”

„Auch einen Schluck aus der Pulle, Pat? fragte Lenz.

Ich sah ihn ärgerlich an. Er hielt, ohne zu blinzeln, meinen Blick aus.

„Lieber ein Glas”, sagte sie. „Aus der Flasche trinken habe ich noch nicht gelernt.”

„Da sieht mans!” Gottfried angelte nach dem Glas. „Das sind die Fehler der modernen Erziehung.”

In den folgenden Runden zog das Feld sich weiter auseinander. Braumüller führte. Die ersten vier hatten allmählich dreihundert Meter Vorsprung. Köster verschwand mit dem Dritten Kühler an Kühler hinter der Tribüne. Dann tobten die Wagen wieder heran. Wir sprangen auf. Wo war der Dritte geblieben? Otto kam allein hinter den beiden anderen herangefegt. Da, – endlich brummelte der Dritte heran. Zerfetzte Hinterreifen. Lenz grinste schadenfroh; der Wagen hielt vor der Nebenbox. Der riesige Monteur fluchte. Eine Minute später war die Maschine wieder flott.

Die nächsten Runden änderten nichts am Klassement. Lenz legte die Stoppuhr beiseite und rechnete. „Karl hat noch Reserven”, verkündete er dann.

„Ich fürchte, die andern auch”, sagte ich.

„Kleingläubiger!” Er warf mir einen vernichtenden Blick zu.

Wie ein glasklares Tier lagerte die Spannung jetzt über dem weiten Platz und den Tribünen, als die Wagen zum Endkampf ansetzten. „Fasst alle Holz an”, sagte ich und umklammerte einen Hammerstiel. Lenz griff an meinen Kopf. Ich stieß ihn weg. Er grinste und fasste an die Barriere.

In einer Wolke von Gewittern fegten die drei Wagen heraus, heran, wir schrien wie die Verrückten, auch Valentin und Graus ungeheurer Bass waren jetzt dabei, – Köster war der Wahnsinn geglückt, er hatte den zweiten in der Kurve von oben her überholt, weil der sich verschätzt und im schärferen Bogen innen Fahrt verloren hatte, und jetzt stieß er wie ein Habicht auf Braumüller los, der plötzlich nur noch zwanzig Meter vor ihm lag und scheinbar Fehlzündungen hatte. „Gib ihm, Otto! Gib ihm! Friss den Nussknacker”, brüllten wir und winkten.

Die Wagen verschwanden in der letzten Kurve. Lenz betete laut zu allen Göttern Asiens und Südamerikas um Hilfe und schwenkte sein Amulett. Ich riss meins ebenfalls heraus. Patrice Hollmann stützte sich auf meine Schulter, das Gesicht spähend weit nach vorn gereckt wie das Antlitz einer Gallionsfigur.

Da kamen sie heran. Braumüllers Motor spuckte immer noch, er setzte alle Augenblicke wieder aus. Ich machte die Augen zu; Lenz drehte sich um, den Rücken zur Bahn – wir wollten das Schicksal bestechen. Ein Ruf riss uns herum. Wir sahen gerade noch, wie Köster mit zwei Metern Vorsprung als erster durchs Ziel ging.

Lenz wurde wahnsinnig. Er schleuderte das Werkzeug zur Erde und machte einen Handstand auf den Reifen.

„Wie sagten Sie vorhin?” brüllte er, als er wieder senkrecht stand, zu dem herkulischen Monteur hinüber, „Klamotte?”

„Ach, Mensch, quak mich nicht an”, erwiderte der Monteur missmutig. Und zum ersten Male, seit ich ihn kannte, kriegte der letzte Romantiker bei einer Beleidigung keinen Wutanfall, sondern einen Veitstanz vor Lachen.

* * *

Wir warteten auf Otto. Er hatte noch bei der Rennleitung zu tun.

„Gottfried”, sagte auf einmal eine heisere Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. Da stand ein menschliches Gebirge in zu engen, gestreiften Hosen, zu engem Marengojackett und schwarzer Melone.

„Alfons!” rief Patrice Hollmann.

„Persönlich”, gab er zu.

„Wir haben gewonnen, Alfons!” rief sie.

„Heftig, heftig. Dann komm ich wohl zu spät, was?”

„Du kommst nie zu spät, Alfons”, sagte Lenz.

„Wollte euch eigentlich was zu futtern bringen. Kalter Schweinebraten und etwas Pökelrippchen. Schon zugeschnitten.”

„Gib her und setz dich, du Goldjunge!” rief Gottfried. „Wir legen gleich los.”

Er machte das Paket auf. „Mein Gott”, sagte Patrice Hollmann, „das ist ja für ein Regiment.”

„Kann man immer erst nachher entscheiden”, meinte Alfons.

„Übrigens – etwas Eiskümmel ist auch da.”

Er holte zwei Flaschen heraus. „Pfropfen sind schon gezogen.”

„Heftig, heftig”, sagte Patrice Hollmann. Er blinzelte ihr wohlwollend zu.

Karl blubberte heran. Köster und Jupp sprangen heraus. Jupp sah aus wie ein junger Napoleon. Seine Ohren leuchteten wie Kirchenfenster. Er hatte einen entsetzlich geschmacklosen, riesigen Silberpokal in den Armen. „Der sechste”, sagte Köster lachend. „Dass den Leuten auch nie was anderes einfällt.”

„Nur den Milchtopf?” fragte Alfons sachlich, „keinen cash?”

„Doch”, beruhigte ihn Otto, „auch cash.”

„Dann schwimmen wir ja geradezu in Geld”, sagte Grau.

„Scheint ein netter Abend zu werden.”

„Bei mir?” fragte Alfons.

„Ehrensache”, erwiderte Lenz.

„Erbsensuppe mit Schweinebauch, Pfoten und Ohren”, sagte Alfons, und sogar Patrice Hollmann machte ein Gesicht voll Hochachtung. „Gratis natürlich”, fügte er hinzu.

Braumüller kam heran, fluchend über sein Pech, die Hand voll verölter Zündkerzen. „Beruhige dich, Theo”, rief Lenz. „Der erste Preis im nächsten Kinderwagenrennen ist dir sicher.”

„Gebt ihr mir Revanche mit Kognak?” fragte Braumüller.

„In Biergläsern sogar”, sagte Grau.

„Keine Chance für Sie, Herr Braumüller”, erklärte Alfons als Sachverständiger. „Habe Köster noch nie blau gesehen.”

„Habe Karl auch noch nie vor mir gesehen”, gab Braumüller zurück. „Außer heute.”

„Trags mit Würde”, sagte Grau. „Hier hast du ein Glas. Wir wollen auf den Niedergang der Kultur durch die Maschine trinken.”

* * *

Patrice Hollmann hatte nach dem Essen bei Alfons für mein Gefühl zu viel Erfolg. Ich erwischte Grau dabei, wie er ihr erneut vorschlug, sie zu malen. Sie lachte und erklärte, es dauere ihr zu lange; photographieren sei bequemer.

„Das ist auch mehr sein Fach”, sagte ich anzüglich. „Vielleicht malt er Sie nach einer Photographie.”

„Ruhe, Robby”, erwiderte Ferdinand unbeirrt und starrte Pat aus seinen riesigen, blauen Kinderaugen an. „Der Schnaps macht dich bösartig, – mich menschlich. Das ist der Unterschied zwischen unseren Generationen.”

„Er ist so an zehn Jahre älter als ich”, warf ich ein.

„Das ist heute eine Generation Unterschied”, fuhr Ferdinand fort. „Ein Leben Unterschied. Ein Jahrtausend Unterschied. Was wisst ihr Burschen denn vom Dasein! Ihr fürchtet euch ja vor euren eigenen Gefühlen.

Ich hörte nur mit einem Ohr hin; mit dem andern horchte ich zu Braumüller hinüber. Er erklärte Patrice Hollmann gerade etwas schwankend, dass sie unbedingt bei ihm Autofahren lernen müsse. Er werde ihr alle seine Tricks zeigen.

Bei der nächsten Gelegenheit nahm ich ihn beiseite. „Es ist sehr ungesund, Theo, für einen Sportsmann, sich zu viel um Frauen zu kümmern.”

„Für mich nicht”, meinte Braumüller, „ich habe eine fabelhafte Natur.”

Ich hatte keine Sorge, dass einer von ihnen wirklich etwas unternehmen wollte; das gab es nicht unter uns. Aber ich wusste nicht so genau, wie es mit dem Mädchen war; – es konnte ja leicht sein, dass einer der andern ihr großartig gefiel. Wir kannten uns noch zu wenig, als dass ich sicher gewesen wäre. Wann war man überhaupt schon sicher?

„Wollen wir leise verschwinden?” fragte ich.

Sie nickte.

* * *

Wir gingen durch die Straßen. Es war diesig geworden. Nebel fielen langsam über die Stadt, grüne und silberne Nebel. Ich nahm Pats Hand und steckte sie in meine Manteltasche. So gingen wir lange Zeit.

„Müde?” fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und lächelte.

Ich zeigte auf die Cafes, an denen wir vorüberkamen. „Wollen wir irgendwo hinein?”

„Nein. Nicht schon wieder.”

Wir gingen weiter und kamen an den Friedhof. Er war wie eine stille Insel in der steinernen Häuserflut. Die Bäume rauschten. Ihre Wipfel waren schon nicht mehr zu sehen. Wir suchten eine leere Bank und setzten uns.

Wir saßen schweigend nebeneinander. Der Nebel machte alles unwirklich, – auch uns. Ich sah das Mädchen an – in ihren weitgeöffneten Augen glänzte der Laternenschein. „Komm”, sagte ich, „komm dicht zu mir – sonst treibt dich der Nebel weg – ”

Sie wandte mir ihr Gesicht zu.

Nie werde ich dieses Gesicht vergessen – nie werde ich vergessen, wie es sich dann zu mir neigte, wie es Ausdruck gewann, wie es sich schweigend erfüllte mit Zärtlichkeit und Zartheit, mit einer leuchtenden Stille, als erblühe es – nie werde ich vergessen, wie ihre Lippen mir entgegenkamen, wie ihre Augen sich den meinen näherten, wie sie dicht vor mir standen und mich ansahen, fragend, ernst, groß und schimmernd – und wie sie sich dann langsam schlossen, als ergäben sie sich —

Der Nebel zog und zog. Die Kreuze der Grabsteine ragten blass aus den Schwaden. Ich deckte meinen Mantel über uns. Die Stadt war versunken. Die Zeit war gestorben —

„Jetzt wird es Zeit aufzubrechen”, sagte ich zu Pat.

* * *

Wir gingen die Straße am Friedhof entlang und überquerten den Rummelplatz. Die Karussells ragten wie brausende Türme von Musik und Glanz in die diesige Luft, das Teufelsrad sprühte in Purpur, Gold und Gelächter und das Labyrinth schimmerte in blauen Feuern.

Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach zwölf. „Komm”, sagte ich, „wir gehen zu mir, – da sind wir für uns.”

Sie antwortete nicht, aber wir gingen zurück.

* * *

Ich schloss die Tür auf. Einen Augenblick überlegte ich. Dann knipste ich das Licht an. Der Schlauch des Korridors gähnte gelb und scheußlich. „Mach die Augen zu”, sagte ich leise zu Pat, „der Anblick ist nur für abgebrühte Nerven.” Ich nahm sie mit einem Ruck hoch und ging langsam mit meinem gewöhnlichen Schritt, als wäre ich allein, vorbei an Koffern und Gaskochern, bis zu meinem Zimmer.

„Schauerlich, was?” sagte ich verlegen und starrte auf die Plüschgarnitur, die sich uns entgegenbreitete.

„Es ist gar nicht so schauerlich”, sagte Pat.

„Doch, doch”, erwiderte ich und ging zum Fenster. „Aber die Aussicht ist wenigstens schön. Vielleicht rücken wir die Sessel ans Fenster.”

Pat ging im Zimmer umher. „Es ist gar nicht schlimm. Vor allem ist es wunderbar warm.”

„Frierst du?”

„Ich habe es gern warm”, sagte sie und hob ein wenig die Schultern. „Ich mag Kälte und Regen nicht. Ich kann sie auch nicht vertragen.”

„Himmel – und wir haben die ganze Zeit draußen im Nebel gesessen – ”

„Um so besser ist es jetzt hier – ”

Sie dehnte sich und ging wieder mit ihren schönen Schritten durchs Zimmer. Ich war sehr befangen und sah mich rasch um. – Gottlob, es lag nicht viel umher. Meine zerrissenen Hausschuhe schubste ich mit einer Fußdrehung nach hinten unters Bett.

Pat stand vor dem Kleiderschrank und schaute hinauf. Oben lag ein alter Koffer, den Lenz mir geschenkt hatte. Er war bunt beklebt mit Zetteln von seinen Abenteurerfahrten. „Rio de Janeiro – ” las sie, „Manaos – Santiago – Buenos Aires – Las Palmas – ”

Sie schob den Koffer zurück und kam auf mich zu. „Da bist du überall schon gewesen?”

Ich murmelte irgend etwas. Sie nahm meinen Arm. „Komm, erzähl mir davon, erzähl mir von all diesen Städten, es muss doch herrlich gewesen sein, so weit zu reisen – ”

Und ich? Ich sah sie vor mir, schön, jung, voll Erwartung, ein Schmetterling, verflogen durch einen glücklichen Zufall in mein abgebrauchtes, schäbiges Zimmer, in mein belangloses, sinnloses Leben, bei mir und doch nicht bei mir – ein Atemzug nur, und er konnte sich heben und wieder davonfliegen – scheltet mich, verdammt mich, ich konnte es nicht, ich konnte nicht nein sagen, nicht sagen, dass ich nie dagewesen war, jetzt nicht —

Wir standen am Fenster, der Nebel drängte und quoll gegen die Scheiben, – und ich spürte: hinter ihm lauerte es wieder, das Verschwiegene, Verborgene, Vergangene, die feuchten Tage des Grauens, die Öde, der Schmutz, die Fetzen verwesten Daseins, die Ratlosigkeit, die verirrte Kraftmeierei eines ziellos abschnurrenden Lebens – aber hier, vor mir im Schatten, bestürzend nahe, der leise Atem, die unfassbare Gegenwart, Wärme, klares Leben, – ich musste es halten, ich musste es gewinnen – „Rio – sagte ich – „Rio de Janeiro – ein Hafen wie ein Märchen. In sieben Bogen schwingt das Meer um die Bucht und die Stadt steigt weiß und flimmernd darüber auf – ” Ich begann zu erzählen von heißen Städten und endlosen Ebenen, von den gelben Schlammfluten der Flüsse, von schimmernden Inseln und Krokodilen, von den Wäldern, die die Straßen fressen, vom Schrei der Jaguare nachts, wenn der Flussdampfer durch den Brodem von Vanille, Schwüle, Orchideenduft, Verwesung und Dunkel gleitet, ich hatte das alles von Lenz gehört, aber jetzt schien es mir fast, als wäre ich es selbst gewesen, so wunderlich mischten sich Erinnerung und Sehnsucht danach mit dem Wunsch, zu dem geringen und dunklen Wirrwarr meines Lebens etwas Glanz hinzuzutun, um nicht dieses unbegreiflich schöne Gesicht vor mir zu verlieren, diese jähe Hoffnung, dieses beglückende Blühen, für das ich allein viel zu wenig war. Später konnte ich das alles einmal erklären, später, wenn ich mehr war, wenn alles sicherer war, später, aber nicht jetzt – „Manaos”, sagte ich. „Buenos Aires”, und jedes Wort war eine Bitte und eine Beschwörung.

* * *

Es war still geworden. Der Lärm der Straße war verstummt; – eine einsame Laterne flackerte auf dem Bürgersteig. Die zarten Blätter der Bäume, von unten beschienen, sahen fast weiß aus, durchsichtig beinahe, und die Wipfel waren schimmernde, helle Segel —

„Horch, der Regen, Pat – ”

„Ja – ”

Sie lag neben mir. Ihr Haar hob sich dunkel von den weißen Kissen ab. Das Gesicht erschien sehr bleich unter dem Düster des Haares. Eine Schulter war hochgeschoben, sie glänzte von irgendeinem Licht wie matte Bronze, und ein schmaler Streifen Licht fiel auch auf ihren Arm. „Sieh nur – ” sagte sie und hob auch die Hände hinein.

„Ich glaube, es kommt von der Laterne draußen”, sagte ich.

Sie richtete sich auf. Jetzt war auch ihr Gesicht im Licht, es lief über die Schultern und die Brust, gelb, wie der Schein von Wachskerzen, es veränderte sich, floss zusammen, wurde zu Orange, blaue Kreise flirrten hindurch und dann stand plötzlich ein warmes Rot hinter ihr wie eine Gloriole, glitt höher und wanderte langsam über die Decke des Zimmers.

„Es ist die Zigarettenreklame von drüben.”

„Siehst du, wie schön dein Zimmer ist”, sagte sie, „Es ist schön, weil du da bist”, sagte ich. „Es wird jetzt auch nie mehr das Zimmer von früher sein – weil du hiergewesen bist.”

Sie kniete im Bett, ganz von fahlem Blau umweht. „Aber – ” sagte sie, „ich werde doch noch oft hier sein – oft.”

Ich lag still da und sah sie an. Ich sah alles wie durch einen weichen, klaren Schlaf, entspannt, gelöst, ruhig und sehr glücklich. „Wie schön du so bist, Pat! Viel schöner als in allen Kleidern.”

Sie lächelte und beugte sich zu mir herunter. „Du musst mich sehr lieben, Robby. Ich weiß nicht, was ich machen soll ohne Liebe!”

Ihre Augen hielten mich fest. Ihr Gesicht war dicht über mir. Es war bewegt, ganz aufgeschlossen, voll leidenschaftlicher Kraft. „Du musst mich festhalten”, flüsterte sie, „ich brauche jemand, der mich festhält. Ich falle sonst. Ich habe Angst.”

„Du siehst nicht so aus, als ob du Angst hättest”, erwiderte ich.

„Doch. Ich tue nur so. Ich habe oft Angst.”

„Ich werde dich schon festhalten”, sagte ich, immer noch in diesem unwirklichen Traumwachen, diesem verschwebenden hellen Schlaf. „Ich werde dich schon richtig festhalten, Pat. Du wirst dich wundern.” Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Wirklich?”

Ich nickte. Ihre Schultern leuchteten grün wie in tiefem Wasser. Ich ergriff ihre Hände und zog sie zu mir herab, – eine Welle, eine leuchtende, atmende, weiche Woge, die anstieg und alles verlöschte.

Sie schlief in meinem Arm. Ich erwachte oft und sah sie an. Ich dachte, die Nacht könne nie zu Ende gehen. Wir trieben irgendwo, jenseits der Zeit. Es war alles so schnell gekommen, ich begriff es noch gar nicht. Ich begriff noch gar nicht, dass mich ein Mensch lieben konnte. Ich verstand wohl, dass ich für einen Mann ein ganz guter Kamerad sein konnte; aber ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb eine Frau mich lieben sollte. Ich dachte, dass es wohl nur diese Nacht sein würde und glaubte, beim Erwachen würde es vorbei sein.

Die Dunkelheit wurde grau. Ich lag ganz still. Mein Arm unter Pats Kopf war eingeschlafen, ich konnte nichts mehr fühlen. Aber ich rührte mich nicht. Erst als sie sich im Schlaf umdrehte und sich gegen das Kissen drückte, konnte ich ihn wegnehmen. Ich stand ganz leise auf und putzte mir geräuschlos die Zähne und rasierte mich. Ich nahm auch etwas Kölnisch Wasser und rieb es mir auf das Haar und in den Nacken. Es war sonderbar, so lautlos in dem grauen Zimmer, mit den Gedanken und draußen den dunklen Umrissen der Bäume. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Pat die Augen offen hatte und mich betrachtete. Ich hielt inne. „Komm”, sagte sie.

Ich ging zu ihr und setzte mich auf das Bett. „Ist alles noch wahr?” sagte ich.

„Weshalb fragst du?”

„Ich weiß nicht. Weil es Morgen ist, vielleicht.”

Es wurde heller. „Du musst mir jetzt meine Sachen geben”, sagte sie.

Ich nahm die dünne Seidenwäsche vom Boden auf. Sie war leicht und so wenig. Ich hielt sie in der Hand. Schon das war ganz anders, dachte ich. Wer so etwas trug, musste schon ganz anders sein. Nie würde ich ihn begreifen, nie.

Ich gab ihr die Sachen. Sie legte mir den Arm um den Nacken und küsste mich.

Dann brachte ich sie nach Hause. Wir sprachen nicht mehr viel. Wir gingen nebeneinander her in der silbrigen Frühe.

„Heute?” fragte ich Pat vor der Haustür.

Sie lächelte. „Um sieben?” fragte ich.

Sie sah gar nicht müde aus. Sie war frisch, als hätte sie lange geschlafen. Sie küsste mich zum Abschied. Ich blieb vor dem Hause stehen, bis ich sah, dass in ihrem Zimmer das Licht anging.

Dann ging ich zurück. Unterwegs fiel mir vieles ein, was ich ihr hätte sagen sollen, viele schöne Worte. Dann ging ich zu den Markthallen. Ich wusste, dass man hier für den gleichen Preis dreimal soviel Blumen bekam, wie in den Läden. Ich kaufte für alles Geld, das ich noch bei mir hatte, Tulpen. Sie sahen herrlich aus, ganz frisch, mit Wassertropfen in den Kelchen. Ich bekam einen großen Arm voll. Die Verkäuferin versprach mir, sie um elf Uhr zu Pat zu schicken. Sie lachte mich an, als sie es versprach, und legte noch einen dicken Busch Veilchen dazu. „Mindestens vierzehn Tage wird die Dame ihre Freude daran haben”, sagte sie. „Nur ab und zu ein Pyramidon ins Wasser tun.”

Ich nickte und gab ihr das Geld. Dann ging ich langsam nach Hause.

Назад: VIII
Дальше: X