Книга: Drei Kameraden / Три товарища. Книга для чтения на немецком языке
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XXVII

Die nächsten Tage schneite es ununterbrochen. Pat hatte Fieber und musste zu Bett bleiben. Viele im Hause hatten Fieber.

„Es ist das Wetter”, sagte Antonio. „Zu warm und föhnig. Richtiges Fieberwetter.”

„Liebling, geh ein bisschen raus”, sagte Pat. „Kannst du Skifahren?”

„Nein. Wie sollte ich das können? Ich war ja nie im Gebirge.”

„Antonio wird es dir beibringen. Es macht ihm Spaß. Er mag dich gern.”

„Ich bleibe viel lieber hier.”

Sie richtete sich im Bett auf. Das Nachthemd fiel von ihren Schultern. Verdammt schmal waren sie. Verdammt schmal war auch der Nacken.

„Robby”, sagte sie, „tus mir zuliebe. Ich möchte nicht gern, dass du hier so am Krankenbett sitzt. Gestern und vorgestern, das war schon mehr als genug.”

„Ich sitze gern hier”, erwiderte ich. „Habe gar keine Sehnsucht, in den Schnee zu gehen.”

Sie atmete laut und ich hörte das unregelmäßige Scharren des Atems. „Ich habe darin mehr Erfahrung als du”, sagte sie und stützte sich auf die Ellenbogen. „Es ist besser für uns beide. Du wirst es nachher sehen.” Sie lächelte mühsam. „Heute nachmittag und heute abend kannst du noch genug hier sitzen. Morgens macht es mich unruhig, Liebling. Man sieht schrecklich aus, morgens, wenn man Fieber hat. Abends ist das ganz anders. Ich bin oberflächlich und dumm, – ich will nicht häßlich sein, wenn du mich siehst.”

„Aber Pat!” Ich stand auf. „Also gut, ich gehe ein bisschen mit Antonio raus. Mittags bin ich dann wieder hier. Hoffentlich breche ich mir nicht alle Knochen mit diesen Skidingern.”

„Du wirst es rasch lernen, Liebling.” Ihr Gesicht verlor die ängstliche Spannung. „Du wirst sehr schnell wunderbar laufen.”

„Und du willst mich sehr schnell wunderbar hier raus haben”, sagte ich und küsste sie. Ihre Hände waren feucht und heiß und ihre Lippen trocken und aufgesprungen.

* * *

Antonio wohnte im zweiten Stock. Er lieh mir ein paar Schuhe und Skier. Sie passten, denn wir waren gleich groß. Wir gingen zur Übungswiese, die ein Stück hinter dem Dorf lag. Antonio blickte mich unterwegs forschend an. „Fieber macht unruhig”, sagte er. „Sonderbare Sachen sind hier an solchen Tagen manchmal schon passiert.” Er legte die Skier vor sich hin und machte sie fest. „Das Schlimmste ist das Warten und das Nichtstunkönnen. Das macht verrückt und kaputt.”

„Die Gesunden auch”, erwiderte ich. „Dabei stehen zu müssen und nichts tun zu können.”

„Wollen wirs mal probieren?” fragte Antonio und stemmte die Skistöcke in den Schnee.

„Ja.”

Er zeigte mir, wie man die Skier anmachte und wie man das Gleichgewicht hielt. Es war nicht schwer. Ich fiel ziemlich oft, aber dann gewöhnte ich mich allmählich und es klappte schon ein wenig. Nach einer Stunde hörten wir auf. „Genug”, meinte Antonio. „Sie werden heute abend Ihre Muskeln schon spüren.”

Ich schnallte die Skier ab und fühlte, wie kräftig mein Blut strömte. „War gut, dass wir draußen waren, Antonio”, sagte ich.

Er nickte. „Das können wir jeden Vormittag machen. Man kommt auf andere Gedanken dabei.”

„Wollen wir irgendwo was trinken?” fragte ich. „Können wir. Einen Dubonnet bei Forster.”

Wir tranken den Dubonnet und gingen zum Sanatorium hinauf. Im Büro sagte mir die Sekretärin, der Briefträger wäre für mich dagewesen; er hätte hinterlassen, ich solle zur Post kommen. Es sei Geld für mich da. Ich sah nach der Uhr. Es war noch Zeit und ich ging zurück. Auf der Post zahlte man mir zweitausend Mark aus. Ein Brief von Köster war dabei. Ich solle mir keine Sorgen machen; es sei noch mehr da. Ich brauche nur zu schreiben.

Ich starrte auf die Scheine. Wo hatte er das nur her? Und so schnell? Ich kannte doch auch unsere Quellen. Und plötzlich wusste ich es. Ich sah den rennfahrenden Konfektionär Bollwies vor mir, wie er gierig an Karl herumklopfte, abends vor der Bar, als er seine Wette verloren hatte, und sagte: „Für den Wagen bin ich jederzeit Käufer.” Verflucht! Köster hatte Karl verkauft! Daher auf einmal das Geld! Karl, von dem er gesagt hatte, er verlöre lieber eine Hand als den Wagen. Karl war nicht mehr da. Er war jetzt in den dicken Händen des Anzugsfabrikanten und Otto, dessen Ohr ihn auf Kilometer erkannte, würde ihn durch die Straßen heulen hören wie einen verstoßenen Hund.

Ich steckte den Brief Kösters und das kleine Paket mit den Morphiumampullen ein. Ratlos stand ich noch immer vor dem Postschalter. Ich hätte das Geld am liebsten sofort zurückgeschickt, aber es ging nicht, wir brauchten es. Ich glättete die Scheine und steckte sie ein. Dann ging ich hinaus. Verflucht, von jetzt an würde ich um jedes Auto einen Bogen machen müssen. Autos waren Freunde, aber Karl war uns noch viel mehr gewesen. Ein Kamerad! Karl, das Chausseegespenst. Wir hatten zusammengehört. Karl und Köster, Karl und Lenz, Karl und Pat. Ich stampfte zornig und hilflos den Schnee von meinen Füßen. Lenz war tot. Karl war fort. Und Pat? Mit geblendeten Augen starrte ich in den Himmel, diesen grauen, endlosen Himmel eines irren Gottes, der das Leben und das Sterben erfunden hatte, um sich zu unterhalten.

Nachmittags schlug der Wind um, es wurde klarer und kälter und abends ging es Pat besser. Sie konnte am nächsten Morgen aufstehen, und ein paar Tage später, als Roth, der Mann, der geheilt war, abreiste, konnte sie sogar mit zur Bahn gehen.

Ein ganzer Schwarm begleitete Roth. Es war hier so üblich, wenn einer abfuhr.

* * *

Der Zug fuhr ab. Roth winkte mit seinem Hut. Die Zurückbleibenden riefen ihm alles mögliche nach und lachten. Ein Mädchen lief stolpernd ein Stück hinter dem Zug her und schrie mit überkippender, dünner Stimme: „Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!” Dann kam sie zurück und brach in Tränen aus. Die andern machten verlegene Mienen. „Halloh!” rief Antonio. „Wer am Bahnhof weint, muss eine Buße zahlen! Das ist altes Sanatoriumsgesetz! Buße für die Kasse des nächsten Festes!”

Er hielt mit großer Geste die Hand hin. Die anderen lachten wieder. Auch das Mädchen lächelte unter Tränen über sein armes, spitzes Gesicht und zog ein abgeschabtes Portemonnaie aus der Manteltasche. Mir wurde ganz elend dabei. Diese Gesichter rundum, das war ja gar kein Lachen, das war eine krampfhafte, qualvolle Lustigkeit, es waren Grimassen. „Komm”, sagte ich zu Pat und nahm sie fest unter den Arm.

Wir gingen schweigend die Dorfstraße hinunter. An der nächsten Konditorei hielt ich und holte eine Schachtel Konfekt heraus. „Gebrannte Mandeln”, sagte ich und hielt ihr das Paket hin. „Die isst du doch gerne, wie?”

„Robby”, sagte Pat. Ihre Lippen zuckten.

„Einen Augenblick”, erwiderte ich und ging rasch in den Blumenladen nebenan. Einigermaßen ruhig kam ich mit meinen Rosen wieder heraus.

„Robby”, sagte Pat.

Ich grinste etwas kläglich. „Werde auf meine alten Tage noch zum Kavalier, Pat.”

Ich wusste nicht, was auf einmal in uns gefahren war. Wahrscheinlich kam es von diesem verdammten, abfahrenden Zug. Es war wie ein bleierner Schatten, ein grauer Wind, der alles herunterriss, was man mühsam festhalten wollte. Waren wir nicht plötzlich nur noch zwei verlaufene Kinder, die nicht aus noch ein wussten und gerne tapfer sein wollten? „Komm rasch einen trinken”, sagte ich.

Sie nickte. Wir traten in das nächste Café und setzten uns an einen leeren Tisch am Fenster. „Was willst du haben, Pat?”

„Rum”, sagte sie und sah mich an.

„Rum”, wiederholte ich und griff unter dem Tisch nach ihrer Hand. Sie presste sie heftig in meine.

Der Rum kam. Es war Baccardi mit Zitrone. „Mein alter Liebling”, sagte Pat und hob ihr Glas.

„Mein alter, guter Bursche”, sagte ich.

Wir saßen noch eine Weile. „Komisch, manchmal, was?” sagte Pat.

„Ja. Kommt mal so. Geht auch wieder weg.”

Sie nickte. Wir gingen weiter, dicht nebeneinander. Dampfende Schlittenpferde trabten an uns vorbei. Müde, verbrannte Skiläufer, eine Eishockeymannschaft in rotweißen Sweatern; krachendes Leben. „Wie fühlst du dich, Pat?” fragte ich.

„Gut, Robby.”

„Sollen uns nur kommen, was?”

„Ja, Liebling.” Sie drückte meinen Arm an sich.

Die Straße wurde leer. Das Abendrot lag wie eine rosa Decke auf den verschneiten Bergen. „Pat”, sagte ich, „du weißt noch gar nicht, dass wir eine Menge Geld haben, Köster hat was geschickt.”

Sie blieb stehen. „Das ist ja wunderbar, Robby. Dann können wir doch einmal ganz richtig ausgehen.”

„Ohne weiteres”, sagte ich. „So oft wir wollen.”

„Dann gehen wir Sonnabend in den Kursaal. Da ist der letzte große Ball in diesem Jahr.”

„Du darfst doch abends nicht raus.”

„Das dürfen die meisten nicht, aber sie tun es doch.”

Ich machte ein bedenkliches Gesicht. „Robby”, sagte Pat, „ich habe in der Zeit, wo du nicht da warst, alles getan, was mir vorgeschrieben wurde. Ich war nur ein ängstliches Rezept, nichts weiter. Es hat nichts genützt. Es ist schlechter mit mir geworden. Unterbrich mich nicht, ich weiß schon, was du sagen willst. Ich weiß auch, worum es geht. Aber die Zeit, die ich noch habe, die Zeit mit dir, – lass mich tun, was ich will.”

Ihr Gesicht war rot von der Sonne überschienen. Es war ernst und still und voll großer Zärtlichkeit. Wovon sprechen wir nur? dachte ich mit trockenem Mund, es ist doch unmöglich, dass wir dastehen und über etwas reden, was nie sein kann und nie sein darf. Das ist doch Pat, die diese Worte spricht, gelassen, fast ohne Trauer, als gäbe es nichts mehr dagegen, nicht einmal den armseligen Fetzen einer trügerischen Hoffnung, es ist doch Pat, fast noch ein Kind, das ich beschützen muss, Pat, die plötzlich weit weg von mir ist, vertraut schon und ergeben mit dem Namenlosen auf der anderen Seite.

„Du musst nicht so etwas sagen”, murmelte ich schließlich. „Ich dachte ja nur, ob wir nicht vielleicht vorher den Arzt fragen könnten.”

„Wir fragen niemand mehr, niemand!” Sie schüttelte den schönen, schmalen Kopf und sah mich mit ihren geliebten Augen an. „Ich will nichts mehr wissen. Ich will nur noch glücklich sein.”

Abends war Getuschel und Laufen auf den Gängen des Sanatoriums. Antonio kam und brachte eine Einladung. Es sollte noch eine Zusammenkunft im Zimmer eines Russen sein.

„Kann ich denn da so einfach mitgehen?” fragte ich.

„Hier?” fragte Pat zurück.

„Hier kann man vieles, was sonst nicht geht”, sagte Antonio lächelnd.

Der Russe war ein dunkler, älterer Mann. Er bewohnte zwei Zimmer, in denen viele Teppiche lagen. Auf einer Truhe standen Schnapsflaschen. Die Zimmer waren halbdunkel. Es brannten nur Kerzen. Unter den Gästen war eine sehr schöne, junge Spanierin. Sie hatte Geburtstag; das sollte gefeiert werden.

Es war eine eigentümliche Stimmung in diesen überflackerten Räumen, die an einen Unterstand erinnerten mit ihrem halben Licht, und mit der sonderbaren Verbrüderung dieser Menschen, die alle ein gemeinsames Schicksal hatten.

„Was wollen Sie trinken?” fragte mich der Russe. Er hatte eine sehr warme, tiefe Stimme.

„Was Sie haben.”

Er holte eine Flasche Kognak und eine Karaffe Wodka. „Sind Sie gesund?” fragte er.

„Ja”, antwortete ich verlegen.

Er bot mir Zigaretten mit langen Pappmundstücken an. Wir tranken. „Gewiss kommt Ihnen manches hier sonderbar vor, nicht wahr?” meinte er.

„Nicht einmal so sehr”, erwiderte ich. „Ich bin kein normales Leben gewöhnt.”

„Ja”, sagte er und sah mit einem dunklen Blick zu der Spanierin hinüber, „es ist eine Welt für sich hier oben. Sie verändert die Menschen.”

Ich nickte.

„Eine sonderbare Krankheit”, fügte er nachdenklich hinzu. „Sie macht die Menschen lebendiger. Und manchmal besser. Eine mystische Krankheit. Sie schmilzt die Schlacken weg.” Er erhob sich, nickte mir zu und ging zu der Spanierin hinüber, die ihm entgegenlächelte.

„Ein Schmalzpathetiker, was?” fragte jemand hinter mir.

Ein Gesicht ohne Kinn. Beulenstirn. Unruhige, fiebrige Augen.

„Ich bin hier Gast”, sagte ich. „Sie nicht?”

„Damit fängt er die Frauen”, fuhr der andere fort, ohne zuzuhören, „damit fängt er sie. Die Kleine da auch.”

Ich gab keine Antwort. „Wer ist das?” fragte ich Pat, als er weg war.

„Ein Musiker. Geiger. Er ist rettungslos verliebt in die Spanierin. So, wie man sich hier oben verliebt. Aber sie will nichts von ihm wissen. Sie liebt den Russen.”

„Täte ich auch an ihrer Stelle.”

Pat lachte.

„Ich finde, das ist ein Mann zum Verlieben”, sagte ich. „Du nicht auch?”

„Nein”, erwiderte sie.

„Warst du nie verliebt hier?”

„Nicht sehr.”

„Es wäre mir auch ganz egal”, sagte ich.

„Das sind ja schöne Bekenntnisse.” Pat richtete sich auf. „Es sollte dir aber ganz und gar nicht egal sein.”

„So meine ich das nicht. Ich kann dir nicht einmal erklären, wie ich es meine. Ich kann es deshalb nicht, weil ich immer noch nicht weiß, was du eigentlich an mir findest.”

„Das lass nur meine Sorge sein”, erwiderte sie.

„Weißt du es denn?”

„Nicht genau”, erwiderte sie lächelnd. „Sonst wäre es ja keine Liebe mehr.”

Der Russe hatte die Flaschen stehen gelassen. Ich goss mir ein paar Gläser ein und trank sie leer. Die Stimmung in dem Raum bedrückte mich. Ich sah Pat nicht gerne unter allen diesen Kranken.

„Gefällt es dir hier nicht?” fragte sie.

„Nicht sehr. Ich muss mich erst daran gewöhnen.

Mein armer Liebling – ” Sie strich über meine Hand.

„Ich bin nicht arm, wenn du da bist”, sagte ich.

„Ist Rita nicht sehr schön?”

„Nein”, sagte ich ,„du bist schöner.”

Die junge Spanierin hatte eine Gitarre auf den Knien. Sie zupfte ein paar Akkorde. Dann begann sie zu singen, und es war, als schwebe ein dunkler Vogel durch den Raum. Sie sang spanische Lieder, mit einer halblauten Stimme, – der rauhen, brüchigen Stimme der Kranken. Ich wusste nicht: waren es die fremdartigen, melancholischen Melodien, war es die erschütternde, abendliche Stimme des Mädchens, waren es die Schatten der in Sesseln und auf dem Boden kauernden Kranken, war es das große, geneigte, dunkle Gesicht des Russen: mit einmal kam es mir vor, als wäre das alles nur eine schluchzende, stille Beschwörung des Schicksals, das draußen hinter den verhängten Fenstern stand und wartete, eine Bitte, ein Aufschrei und Angst, Angst vor dem Alleinsein mit dem leise fressenden Nichts.

Am nächsten Morgen war Pat fröhlich und ausgelassen. Sie beschäftigte sich mit ihren Kleidern. „Zu weit geworden, viel zu weit”, murmelte sie prüfend vor dem Spiegel. Dann wandte sie sich mir zu.

„Hast du eigentlich deinen Smoking mit, Liebling?”

„Nein”, sagte ich. „Habe nicht gewusst, dass man hier einen braucht.”

„Dann geh zu Antonio. Er wird dir einen leihen. Ihr habt ja die gleiche Figur.”

„Der braucht ihn doch selber.”

„Er zieht einen Frack an.” Sie steckte eine Falte ab. „Und dann geh Ski laufen. Ich muss jetzt hier arbeiten. Das kann ich aber nicht, wenn du dabei bist.”

„Dieser Antonio”, sagte ich, „den plündere ich ja geradezu aus. Was würden wir bloß machen ohne ihn.”

„Er ist ein guter Junge, was?”

„Ja”, erwiderte ich, „das ist das richtige Wort für ihn. Ein guter Junge.”

„Ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn er nicht da gewesen wäre, als ich allein war.”

„Daran wollen wir nicht mehr denken”, sagte ich. „Es liegt so weit zurück.”

„Ja.” Sie küsste mich. „Und nun geh Ski laufen.”

Antonio wartete schon auf mich. „Habe mir schon gedacht, dass Sie keinen Smoking mithätten”, sagte er. „Probieren Sie mal die Jacke an.”

Das Jackett war etwas knapp, aber es passte ganz gut. Antonio pfiff vergnügt und hängte den Anzug heraus. „Das wird ein großer Spaß morgen”, erklärte er. „Glücklicherweise hat die kleine Sekretärin Abenddienst im Büro. Die alte Rexroth würde uns nicht rauslassen. Offiziell ist doch das alles verboten. Aber inoffiziell sind wir natürlich keine Kinder mehr.”

Wir gingen Ski laufen. Ich hatte ganz gut gelernt und wir brauchten nicht mehr auf die Übungswiese. Unterwegs begegneten wir einem Mann mit Brillantringen, karierten Hosen und einem wehenden Künstlerschlips. „Komische Gestalten gibt es hier”, sagte ich.

Antonio lachte. „Das ist ein wichtiger Mann. Ein Leichenbegleiter.”

„Was?” fragte ich erstaunt.

„Ein Leichenbegleiter”, wiederholte Antonio. „Es sind doch hier Kranke aus aller Welt. Besonders viele aus Südamerika. Nun, und die meisten Familien wollen doch ihre Angehörigen zu Hause beerdigen lassen. Dann reist so ein Leichenbegleiter für eine anständige Entschädigung mit und bringt die Zinksärge hin. Auf diese Weise werden diese Leute wohlhabend und kommen viel herum. Den da hat der Tod zum Dandy gemacht, wie Sie sehen.”

Wir stiegen noch eine Zeitlang weiter auf, dann schnallten wir die Skier an und liefen. Die weißen Hänge schwangen auf und ab und hinter uns raste kläffend, ab und zu bis an die Brust einsinkend, Billy, wie ein rotbrauner Ball. Er hatte sich wieder an mich gewöhnt, wenn er auch oft unterwegs kehrt machte und spornstreichs mit fliegenden Ohren zum Sanatorium zurückjagte.

Ich übte Kristianias und jedesmal, wenn ich den Abhang herunterglitt und mich auf den Schwung vorbereitete und den Körper lose machte, dachte ich: wenn dieser gelingt, ohne dass ich falle, wird Pat gesund. Der Wind sauste mir um das Gesicht, der Schnee war schwer und zähe, aber ich stemmte mich immer aufs neue ab, ich suchte immer steilere Abfahrten, immer schwierigeres Gelände, und als es wieder und wieder gelang, dachte ich: Gerettet! und wusste, dass es töricht war, und wurde doch froh, wie lange nicht.

* * *

Am Samstag abend war großer, heimlicher Aufbruch. Antonio hatte etwas abseits und unterhalb vom Sanatorium Schlitten bestellt. Er selbst rodelte mit Lackschuhen und offenem Mantel, unter dem die weiße Frackbrust herausblitzte, fröhlich, jodelnd die Anhöhe hinunter.

„Er ist verrückt”, sagte ich.

„Das macht er oft”, erwiderte Pat. „Er ist grenzenlos leichtsinnig. Damit hält er hier durch. Sonst wäre er nicht immer guter Laune.”

„Dafür werden wir dich um so mehr einpacken.”

Ich wickelte sie in alle Decken und Schals, die wir hatten. Dann stampften die Schlitten bergab. Es war eine lange Kolonne. Alle, die konnten, waren ausgerissen. Man hätte meinen können, eine Hochzeitsgesellschaft führe zu Tal; so festlich nickten die bunten Federbüschel auf den Köpfen der Pferde im Mondlicht; und so viel wurde gelacht und von Schlitten zu Schlitten gerufen.

Der Kursaal war verschwenderisch dekoriert. Es wurde schon getanzt, als wir ankamen. Für die Gäste des Sanatoriums war eine Ecke reserviert, die vor Zugwind von den Fenstern her geschützt war. Es war warm und es roch nach Blumen, Parfüm und Wein.

Eine Menge Leute saß an unserm Tisch; – der Russe, Rita, der Geiger, eine alte Frau, ein geschminkter Totenkopf, ein Gigolo, der dazu gehörte, Antonio und noch einige mehr.

„Komm, Robby”, sagte Pat, „wir versuchen einmal zu tanzen.”

Das Parkett drehte sich langsam um uns. Die Geige und das Cello erhoben sich zu einer sanften Kantilene über das raunende Orchester. Leise schleiften die Füße der Tanzenden über den Boden.

„Aber mein geliebter Liebling, du kannst ja plötzlich wunderbar tanzen”, sagte Pat überrascht.

„Na, wunderbar – ”

„Doch. Wo hast du das gelernt?”

„Das hat Gottfried mir noch beigebracht”, sagte ich.

„In eurer Werkstatt?”

„Ja – und im Cafe International. Wir brauchten doch auch Damen dazu. Rosa, Marion und Wally haben mir den letzten Schliff gegeben. Ich fürchte nur, es ist nicht gerade sehr elegant dadurch geworden.”

„Doch!” Ihre Augen strahlten. „Zum ersten Mal tanzen wir so miteinander, Robby!”

Neben uns tanzte der Russe mit der Spanierin. Er lächelte und nickte uns zu. Die Spanierin war sehr bleich. Das schwarze, glänzende Haar umfasste ihre Stirn wie ein Rabenflügel. Sie tanzte mit unbewegtem, ernstem Gesicht. Auf ihrem Handgelenk lag ein Armband von viereckigen, großen Smaragden. Sie war achtzehn Jahre alt. Vom Tisch her verfolgte der Geiger sie mit gierigen Augen.

Wir gingen wieder zurück. „Jetzt möchte ich eine Zigarette”, sagte Pat.

„Das solltest du lieber nicht”, erwiderte ich vorsichtig.

„Nur ein paar Züge, Robby. Ich habe so lange nicht geraucht.”

Sie nahm die Zigarette, legte sie aber bald wieder weg. „Sie schmeckt mir nicht, Robby. Sie schmeckt mir einfach nicht mehr.”

Ich lachte. „Das ist immer so, wenn man etwas lange entbehrt hat.”

„Hast du mich auch lange entbehrt?” fragte sie.

„Es ist nur bei Giften so”, erwiderte ich. „Nur bei Schnaps und Tabak.”

„Menschen sind ein viel schlimmeres Gift als Schnaps und Tabak, Liebling.”

Ich lachte. „Du bist ein kluges Kind, Pat.”

Sie stützte die Arme auf den Tisch und sah mich an. „Richtig ernst genommen hast du mich doch eigentlich nie, was?”

„Ich habe mich selbst nie richtig ernst genommen”, erwiderte ich.

„Mich auch nicht. Sag mal die Wahrheit.”

„Das weiß ich nicht. Aber uns beide zusammen habe ich immer furchtbar ernst genommen, das weiß ich.”

Sie lächelte. Antonio forderte sie zum Tanzen auf. Beide gingen zum Parkett. Ich sah sie an, während sie tanzte. Sie lächelte mir im Vorbeikommen jedesmal zu. Ihre silbernen Schuhe berührten kaum den Boden. Sie hatte die Bewegungen einer Antilope.

Der Russe tanzte wieder mit der Spanierin. Beide schwiegen. Sein großes, dunkles Gesicht war voll verschatteter Zärtlichkeit. Der Geiger hatte einen Versuch gemacht, mit der Spanierin zu tanzen. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt und war mit dem Russen zum Parkett gegangen.

Der Geiger zerkrümelte eine Zigarette in den langen, knochigen Fingern. Er tat mir plötzlich leid. Ich bot ihm eine Zigarette an. Er lehnte ab. „Ich muss mich schonen”, sagte er mit seiner abgehackten Stimme.

Ich nickte. „Der da”, fuhr er kichernd fort und zeigte auf den Russen, „der raucht jeden Tag fünfzig Stück.”

„Der eine macht es so, der andere so”, erwiderte ich. „Wenn sie jetzt auch nicht mit mir tanzen will, ich kriege sie doch noch.”

„Wen?”

„Rita.”

Er rückte näher. „Ich stand gut mit ihr. Wir spielten zusammen. Dann kam der Russe und schnappte sie mir weg mit seinen Tiraden. Aber ich kriege sie wieder.”

„Dann müssen Sie sich aber anstrengen”, sagte ich. Der Mann gefiel mir nicht.

Er brach in ein meckerndes Gelächter aus. „Anstrengen? Sie ahnungsloser Engel! Nur warten brauche ich.”

„Dann warten Sie nur.”

„Fünfzig Zigaretten”, flüsterte er, „täglich. Ich habe sein Röntgenbild gestern gesehen. Kaverne neben Kaverne. Fertig.” Er lachte wieder. „Zuerst waren wir gleich. Die Röntgenbilder zum Verwechseln. Jetzt müssten Sie den Unterschied sehen! Ich habe zwei Pfund zugenommen. Nein, mein Lieber, ich brauche nur zu warten und mich zu schonen. Ich freue mich schon auf die nächste Aufnahme. Die Schwester zeigt sie mir jedesmal. Wenn er weg ist, komme ich dran.”

Die Luft wurde dick und schwer. Pat hustete. Ich merkte, dass sie mich ängstlich dabei ansah, und ich tat, als hätte ich nichts gehört.

Ich stand auf und ging nach draußen. Mir war heiß vor Bedrängnis und Ohnmacht. Ich ging langsam den Weg entlang. Die Kälte durchrieselte mich und der Wind hinter den Häusern ließ meine Haut frösteln. Ich ballte die Fäuste und starrte lange gegen die harten, weißen Berge, in einem wilden Gemisch von Haltlosigkeit, Wut und Schmerz.

Ein Schlitten klingelte unten auf der Straße vorbei. Ich ging zurück. Pat kam mir entgegen. „Wo warst du?”

„Mal draußen.”

„Bist du schlecht gelaunt?”

„Gar nicht.”

„Liebling, sei froh! Sei froh heute! Meinetwegen! Wer weiß, wann ich wieder auf einen Ball gehen kann.”

„Noch sehr oft.”

Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. „Wenn du es sagst, ist es sicher wahr. Komm, wir wollen tanzen. Zum erstenmal tanzen wir miteinander.”

Wir tanzten und das warme, weiche Licht war barmherzig, es verdeckte alle Schatten, die die vorgeschrittene Nacht in die Gesichter zeichnete. „Wie fühlst du dich?’ fragte ich.

„Gut, Robby.”

„Wie schön du bist, Pat.”

Ihre Augen leuchteten. „Schön, dass du mir das sagst.”

Ich fühlte ihre warmen, trockenen Lippen an meiner Wange.

Es war spät, als wir im Sanatorium ankamen. „Sehen Sie nur, wie er aussieht”, kicherte der Geiger und zeigte verstohlen auf den Russen.

„Sie sehen genau so aus”, sagte ich ärgerlich.

Er sah mich verblüfft an. „Na ja, Sie Gesundheitsprotz”, sagte er giftig.

Ich gab dem Russen die Hand. Er nickte mir zu und half der jungen Spanierin behutsam und zart die Treppe hinauf. Sein großer, gebeugter Rücken und die schmalen Schultern des Mädchens vor der schwachen Nachtbeleuchtung sahen im Ansteigen aus, als läge die Last der ganzen Welt auf ihnen.

Pat streifte sich das Kleid über den Kopf. Sie stand gebückt und zerrte an den Schultern. Dabei riss der Brokat. Pat betrachtete die Stelle.

„Es war wohl schon brüchig”, sagte ich.

„Es macht nichts”, sagte Pat, „ich brauche es wohl nun doch nicht mehr.”

Sie legte das Kleid langsam zusammen und hing es nicht mehr in den Schrank. Sie legte es in ihren Koffer. Ihr Gesicht war plötzlich müde.

„Sieh nur, was ich hier habe”, sagte ich rasch und zog eine Flasche Champagner aus der Manteltasche.

„Jetzt kommt unser eigenes kleines Fest.”

Ich holte die Gläser und schenkte ein. Sie lächelte und trank.

„Auf uns beide, Pat.”

„Ja, mein Liebling, auf unser schönes Leben.”

Wie sonderbar das alles war: dieses Zimmer, die Stille und unsere Traurigkeit. Lag hinter der Tür nicht das Leben, unendlich, mit Wäldern, Flüssen und starkem Atem, blühend und unruhig, klopfte jenseits der weißen Berge der März nicht schon unruhig an die erwachende Erde?

„Bleibst du die Nacht bei mir, Robby?”

„Ja, lass uns zu Bett gehen. Wir wollen so nahe beisammen sein, wie es Menschen können, und unser Glas auf die Bettdecke stellen und trinken.”

Trinken. Goldbraune Haut. Warten. Wachsein. Stille und das leise Röcheln der geliebten Brust.

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