Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riss die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte.
Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los, weil das Gewerkschaftshaus, das Cafe International und das Versammlungslokal der Heilsarmee dicht beisammen waren. Vor dem Hause lag außerdem ein alter Friedhof, der schon seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park, und wenn es nachts ruhig war, konnte man meinen, man wohne auf dem Lande.
Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich wanderte im Zimmer umher, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und sah zu, wie die Straße besprengt wurde, ich leerte pfeifend meine Taschen aus; – Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer. Patrice Hollmann. Ein merkwürdiger Vorname, – Patrice. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen?
Ich steckte den Zettel unter einen Pack Bücher. Anrufen? Vielleicht, – vielleicht auch nicht. Tagsüber sah so etwas immer anders aus als abends. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren. Nur nichts herankommen lassen, sagte Köster. Was man herankommen lässt, will man halten. Und halten kann man nichts —
Nebenan stand die Tür offen. Ich wanderte den Korridor hinunter. Die nächste Tür war angelehnt. Dort hatte man gehorcht. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen konnte, wollte sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld.
Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant, Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen. Wunderbarer Gitarrespieler. Weinte leicht, wenn er betrunken wurde. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige.
Daneben – Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.
An der letzten Tür klopfte ich. „Na, Georg”, sagte ich, „immer noch nichts?”
Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen.
Ich schob ihm ein Paket Zigaretten hin. „Lass den Kram sausen, Georgie. Ich hab’s auch getan. Kannst später immer wieder anfangen.”
Er schüttelte den Kopf.
Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch. „Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.” Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. Hatte sich was! War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Cafe International.
Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Schlauch mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, ein paar Saiten waren gesprungen und von den Elfenbeintasten fehlten auch einige; aber ich liebte den braven, ausgedienten Musikschimmel. Er hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, wo ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war.
In den hintern Zimmern des Cafes hielten die Viehhändler ihre Versammlungen ab; manchmal auch die Rummelplatzleute. Vorn saßen die Huren.
Das Lokal war leer. Nur der plattfüßige Kellner Alois stand hinter der Theke. „Wie immer?” fragte er.
Ich nickte.
Alois spülte Gläser. Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich.
Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.
„Servus, Robert.”
„Servus, Rosa. Was macht die Kleine?”
„Will mal sehen. Hier – das bringe ich ihr mit.”
Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch. „Ma – ma” quäkte die Puppe. Rosa strahlte.
„Fabelhaft!” sagte ich.
Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. „Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.”
„Na, na”, sagte ich zweifelnd.
Rosa erhob sich. „Du kommst doch Freitag?”
Ich nickte.
Sie sah mich an. „Du weißt doch, was los ist?”
„Natürlich.”
Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust danach zu fragen. Das hatte ich mir hier so angewöhnt in dem Jahr als Klavierspieler.
„Servus, Robert.”
„Servus, Rosa.”
Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.
Tagsüber trieb ich mich umher. Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte, und hielt es nirgendwo lange aus. Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit für einen Spottpreis alt gekauft. Jetzt war er von uns gründlich überholt worden, und Köster gab ihm gerade den letzten Schmiss. Es war eine Spekulation. Wir hofften gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus. „Wir bleiben darauf sitzen, Otto”, sagte ich.
Aber Köster war zuversichtlich. „Auf mittleren Wagen bleibt man sitzen, Robby”, erklärte er. „Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.”
„Wo ist Gottfried?” fragte ich.
„In irgendeiner politischen Versammlung —
„Verrückt! Was will er denn da?”
Köster lachte. „Das weiß er selbst nicht. Wahrscheinlich sitzt ihm das Frühjahr in den Knochen. Da muss er ja immer irgend etwas Neues haben.”
„Kann sein”, sagte ich. „Komm, ich helf dir etwas.”
Wir murksten herum, bis es dunkel wurde. „Schluss jetzt’’, sagte Köster. Wir wuschen uns.
„Ich gehe mal nach Hause”, sagte ich. „Briefe schreiben und sowas. Muss auch mal sein – ”
„Bist du krank?” fragte er besorgt.
„Ach wo, keine Spur. Habe vielleicht auch den Frühling etwas in den Knochen.”
Ich schlenderte nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wusste ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Unschlüssig wanderte ich umher. Ich verstand jetzt nicht mehr, weshalb ich eigentlich hierhergewollt hatte.
Draußen brannten schon die Laternen: aber es war noch nicht dunkel genug, – sie sahen aus, als frören sie. Ich kramte unter meinen Büchern nach dem Zettel mit der Telefonnummer. Schließlich, – anrufen konnte ich ja mal. Hatte es doch sogar halb und halb versprochen. Wahrscheinlich war das Mädchen auch gar nicht zu Hause.
Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Während ich auf Antwort wartete, fühlte ich, wie eine weiche Welle, eine leichte Erwartung aus der schwarzen Muschel sich hoben. Das Mädchen war da. Als ihre dunkle, etwas rauhe Stimme geisterhaft plötzlich in Frau Zalewskis Vorzimmer zwischen Wildschweinsköpfen, Fettgeruch und Küchengeklirr leise und etwas langsam, als dächte sie vor jedem Worte nach, sprach, verschwand auf einmal meine Unzufriedenheit. Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so stumpf. „Verrückt”, dachte ich und schüttelte den Kopf.
Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten. Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef und hatte Köster und mir gerade ein Inserat vorgelesen, das er für den Verkauf des Wagens verfasst hatte. Es begann mit den Worten: „Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt” und war ein Mittelding zwischen einem Gedicht und einer Hymne.
Köster und ich schwiegen eine Weile. Lenz hielt uns für überwältigt. „Das Ding hat Poesie und Schmiss, was?” fragte er stolz. „Im Zeitalter der Sachlichkeit muss man romantisch sein, das ist der Trick. Gegensätze ziehen einander an.”
„Nicht, wenn es sich um Geld handelt”, erwiderte ich.
„Automobile kauft man nicht, um Geld anzulegen, Knabe”, erklärte Gottfried abweisend. „Man kauft sie, um Geld auszugeben; und da beginnt bereits die Romantik, wenigstens für den Geschäftsmann. Für die meisten Leute hört sie sogar damit auf. Was meinst du, Otto?”
„Weißt du – “ begann Köster vorsichtig.
„Wozu lange reden”, unterbrach ich ihn, „das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.”
Lenz öffnete den Mund.
„Augenblick”, fuhr ich fort, „Uns hältst du ja doch für befangen, Gottfried. Ich mache dir deshalb einen Vorschlag: fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!”
Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte.
Wir holten ihn heran. Lenz las ihm das Inserat vor. „Würdest du dich für so einen Wagen interessieren, Jupp?” fragte Köster.
„Einen Wagen?” fragte Jupp zurück. – Ich lachte. „Natürlich einen Wagen”, knurrte Gottfried. „Meinst du ein Heupferd?”
„Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?” erkundigte Jupp sich ungerührt.
„Schafskopf, es ist doch unser Cadillac”, fauchte Lenz.
„Nicht möglich”, erwiderte Jupp und grinste von einem Ohr zum andern.
Lenz verschwand missmutig in der Bude, um dem Inserat bei aller Wahrung seines poetischen Schwunges doch etwas mehr technischen Halt zu geben.
Ein paar Minuten später erschien Oberinspektor Barsig plötzlich in der Hoftür. Wir empfingen ihn mit großen Ehren. Er war Ingenieur und Sachverständiger der Phönix-Autoversicherung, ein wichtiger Mann, um Reparaturen zugewiesen zu bekommen. Wir standen glänzend mit ihm.
„Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht. Sie können den Ford abholen. Die Direktion hat bewilligt, dass Sie die Reparatur machen.”
„Großartig”, sagte Köster. „Wir können sie gut brauchen.”
Barsig stand auf und verabschiedete sich. „Denken Sie an”, sagte er im Gehen, „die Frau, die mit in dem Ford war, ist vor ein paar Tagen doch noch gestorben. Hatte nur Schnittwunden. Wahrscheinlich zuviel Blut verloren.”
„Wie alt war sie denn?” fragte Köster.
„Vierunddreißig”, erwiderte Barsig. „Schwanger im vierten Monat. Mit zwanzigtausend Mark versichert.”
Wir fuhren gleich los, um den Wagen zu holen. Er stand bei einem Bäckermeister. Der Mann war nachts halbbetrunken damit gegen eine Mauer gerast. Nur seine Frau war verletzt worden; er selbst hatte nicht einen Kratzer abbekommen.
Wir trafen ihn in der Garage, als wir den Wagen zum Abschleppen fertig machten. Langsam kam er heran. „Wann ist der Wagen fertig?” fragte er.
„In ungefähr drei Wochen”, erklärte Köster.
Wir fuhren los. Draußen zeigte Lenz auf die Sitze des Fords. Sie hatten große schwarze Flecken. „Das Blut seiner toten Frau. Und ein neues Verdeck herausgeschunden. Beige. Zarte Farben. Alle Achtung. Dem trau ich auch zu, dass er die Versicherungssumme für zwei Tote rausholt. Die Frau war ja schwanger.”
Köster zuckte die Achseln. „Er sagt sich wahrscheinlich, dass das eine mit dem andern nichts zu tun hat.”
„Möglich”, sagte Lenz. „Es soll ja Leute geben, für die sowas direkt ein Trost im Unglück ist. Uns kostet es glatt fünfzig Mark von unserm Verdienst.”
Nachmittags ging ich unter einem Vorwand nach Hause. Ich war um fünf Uhr mit Patrice Hollmann verabredet, aber ich sagte in der Werkstatt nichts davon. Nicht, dass ich es verbergen wollte; aber es kam mir auf einmal ziemlich unwahrscheinlich vor.
Sie hatte mir ein Cafe als Treffpunkt angegeben. Ich kannte es nicht; ich wusste nur, dass es ein kleines, elegantes Lokal war. Ahnungslos ging ich hin. Aber ich prallte erschreckt zurück, als ich eintrat. Der Raum war überfüllt mit schwätzenden Frauen. Ich war in eine typische Damenkonditorei geraten.
Mit Mühe gelang es mir, einen Tisch, der gerade frei wurde, zu ergattern. Unbehaglich blickte ich umher. Außer mir waren nur noch zwei Männer da und die gefielen mir nicht.
„Kaffee, Tee, Schokolade?” fragte der Kellner und wedelte mit seiner Serviette eine Anzahl Kuchenkrümel von der Tischplatte auf meinen Anzug.
„Einen großen Kognak”, erwiderte ich.
Er brachte ihn. Aber er brachte gleichzeitig ein Kaffeekränzchen mit, das Platz suchte, an der Spitze eine Athletin reiferen Alters mit einem Pleureusenhut. „Vier Plätze, bitte!” sagte er und zeigte auf meinen Tisch.
„Halt”, antwortete ich, „der Tisch ist nicht frei. Ich erwarte jemand.”
„Das geht nicht, mein Herr!” sagte der Kellner. „Um diese Zeit können keine Plätze reserviert werden.”
„Können Sie mir wenigstens noch einen Kognak bringen?” knurrte ich den Kellner an.
„Sehr wohl, mein Herr. Wieder einen großen?”
„Ja.”
„Bitte sehr.” Er verbeugte sich. „Es ist doch ein Tisch für sechs Personen, mein Herr”, sagte er entschuldigend.
„Schon recht. Bringen Sie nur den Kognak.”
„Salute!” sagte jemand hinter mir.
Ich fuhr auf. Da stand sie und lachte. „Sie fangen ja rechtzeitig an!”
Ich stellte das Glas, das ich immer noch in der Hand hielt, auf den Tisch. Ich war plötzlich verwirrt. Das Mädchen sah ganz anders aus, als ich es in Erinnerung hatte. Zwischen den vielen, Kuchen essenden, wohlgenährten Weibern wirkte es wie eine schmale, junge Amazone, kühl, strahlend, sicher und unangreifbar. Das wird nie etwas mit uns, dachte ich und sagte: „Wo sind Sie denn nur so geisterhaft hergekommen? Ich habe doch die ganze Zeit die Tür beobachtet.”
Sie zeigte nach rechts hinüber. „Dort drüben ist noch ein Eingang. Aber ich habe mich verspätet. Warten Sie schon lange?”
„Gar nicht. Höchstens zwei, drei Minuten. Ich bin auch erst eben gekommen.”
Das Kaffeekränzchen an meinem Tisch wurde still. Ich spürte die abschätzenden Blicke von vier soliden Müttern im Nacken. „Wollen wir hier bleiben?” fragte ich.
Das Mädchen streifte mit einem raschen Blick den Tisch. Ihr Mund zuckte. Sie sah mich belustigt an. „Ich fürchte, Cafes sind überall gleich.”
Ich schüttelte den Kopf. „Wenn sie leer sind, sind sie besser. Dies hier ist ein Teufelslokal, in dem man Minderwertigkeitskomplexe bekommt. Wir könnten am besten in eine Bar gehen.”
„In eine Bar? Gibt es denn Bars, die am hellen Tage offen sind?”
„Ich weiß eine”, sagte ich. „Sie ist allerdings sehr ruhig. Wenn Sie das mögen – ”
„Manchmal schon – ”
Ich blickte auf. Ich konnte im Augenblick nicht feststellen, wie sie das meinte. Ich hatte nichts gegen Ironie, wenn sie nicht gegen mich ging; aber ich hatte ein schlechtes Gewissen.
„Also gehen wir”, sagte sie.
Ich winkte dem Kellner. „Drei große Kognaks”, brüllte der Unglücksvogel mit einer Stimme, als wollte er einem Gast im Grabe die Rechnung machen. „Drei Mark dreißig!”
Das Mädchen drehte sich um. „Drei Kognaks in drei Minuten? Ganz schönes Tempo!”
„Es sind noch zwei von gestern dabei.”
„So ein Lügner”, zischte die Athletin am Tisch hinter mir her. Sie hatte lange geschwiegen.
Ich wandte mich um und verbeugte mich. „Ein gesegnetes Weihnachtsfest, meine Damen!” Dann ging ich rasch.
„Haben Sie Streit gehabt?” fragte mich das Mädchen draußen.
„Nichts besonderes. Ich habe nur eine ungünstige Wirkung auf Hausfrauen in gesicherten Verhältnissen.”
„Ich auch”, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie erschien mir wie aus einer andern Welt.
Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was sie war und wie sie lebte.
Die Bar war sicherer Boden für mich. Fred, der Mixer, stand hinter der Theke und polierte gerade die großen Schwenkgläser für Kognak, als wir hereinkamen. Er begrüßte mich, als sähe er mich zum ersten Male und hätte mich nicht vor zwei Tagen noch nach Hause bringen müssen. Er hatte eine gute Schule und eine riesige Erfahrung hinter sich.
Der Raum war leer bis auf einen Tisch. Dort saß, wie fast immer, Valentin Hauser. Ich kannte ihn vom Kriege her; wir waren in derselben Kompagnie gewesen. Er hatte mir einmal durchs Sperrfeuer einen Brief nach vorne gebracht, weil er dachte, er wäre von meiner Mutter. Er wusste, dass ich darauf wartete, denn meine Mutter war operiert worden. Aber er hatte sich geirrt; – es war nur eine Reklame für Kopfschützer aus Brennnesselstoff gewesen. Auf dem Rückwege bekam er einen Schuss ins Bein.
Valentin hatte einige Zeit nach dem Kriege eine Erbschaft gemacht. Die vertrank er seitdem. Er behauptete, das Glück feiern zu müssen, lebendig herausgekommen zu sein. Es war ihm gleich, dass das schon eine Anzahl Jahre her war. Er erklärte, man könne es gar nicht genug feiern. Er war einer der Menschen, die ein unheimliches Gedächtnis für den Krieg haben. Wir andern hatten vieles vergessen; er aber erinnerte sich an jeden Tag und jede Stunde.
Ich sah, dass er schon viel getrunken hatte; er saß ganz versunken und abwesend in seiner Ecke. Ich hob die Hand. „Salü, Valentin!”
Er blickte auf und nickte. ,,Salü, Robby!”
Wir setzten uns in eine Ecke. Der Mixer kam. ,,Was möchten Sie trinken?” fragte ich das Mädchen.
„Vielleicht einen Martini”, erwiderte sie. „Einen trockenen Martini.”
„Darin ist Fred Spezialist”, erklärte ich.
Fred erlaubte sich ein Lächeln. „Mir wie immer”, sagte ich.
Fred brachte die Gläser. Wir tranken. Der Rum war stark und frisch. Er schmeckte nach Sonne. Er war etwas, woran man sich halten konnte. Ich trank das Glas aus und gab es Fred gleich wieder mit.
„Gefällt es Ihnen hier?” fragte ich.
Das Mädchen nickte.
„Besser als in der Konditorei drüben?”
„Ich hasse Konditoreien”, sagte sie.
„Weshalb haben wir uns dann gerade da getroffen?” fragte ich verblüfft.
„Ich weiß nicht.” Sie nahm ihre Kappe ab. „Mir fiel nichts anderes ein.”
„Um so besser, dass es Ihnen dann hier gefällt. Wir sind oft hier. Abends ist diese Bude für uns schon fast so eine Art Zuhause.”
Sie lachte. „Ist das nicht eigentlich traurig?”
„Nein”, sagte ich, „zeitgemäß.”
Fred brachte mir das zweite Glas. Er legte eine grüne Havanna dazu auf den Tisch. „Von Herrn Hauser.”
Valentin winkte aus seiner Ecke herüber und hob sein Glas. „31. Juli 17, Robby”, sagte er mit schwerer Stimme.
Ich nickte ihm zu und hob ebenfalls mein Glas.
„Er ist mein Freund”, sagte ich zu dem Mädchen. „Ein Kamerad aus dem Kriege. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der aus einem großen Unglück ein kleines Glück gemacht hat. Er weiß nicht mehr, was er mit seinem Leben anfangen soll, – deshalb freut er sich einfach, dass er noch lebt.”
Sie sah mich nachdenklich an. Ein Streifen Licht fiel schräg über ihre Stirn und ihren Mund. „Das kann ich gut verstehen”, sagte sie.
Ich blickte auf. „Das sollten Sie aber nicht. Dafür sind Sie viel zu jung.”
Sie lächelte. Es war ein leichtes, schwebendes Lächeln, das nur in den Augen war. „Zu jung”, sagte sie, „das ist so ein Wort. Ich finde, zu jung ist man nie. Nur immer zu alt.”
Ich schwieg einen Augenblick. „Dagegen ließe sich eine Menge sagen”, erwiderte ich dann und machte Fred ein Zeichen, mir noch etwas zu trinken zu bringen. Das Mädchen war so sicher und selbstverständlich; ich fühlte mich wie ein Holzblock dagegen. Ich hätte gern ein leichtes, spielerisches Gespräch geführt, so ein richtiges Gespräch, wie es einem gewöhnlich hinterher einfällt, wenn man wieder allein ist.
Zum Glück war Fred vernünftig. Er brachte mir statt der kleinen Fingerhüte jetzt gleich ein anständiges Weinglas voll heran. So brauchte er nicht immer hin und herzulaufen, und es fiel auch nicht so auf, wieviel ich trank. Ich musste trinken; anders konnte ich diese stockige Schwere nicht loswerden.
„Wollen Sie nicht noch einen Martini nehmen?” fragte ich das Mädchen.
„Was trinken Sie denn da?”
„Das hier ist Rum.”
Sie betrachtete mein Glas. „Das haben Sie neulich auch schon getrunken.”
„Ja”, sagte ich, „das trinke ich meistens.”
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das schmeckt.”
„Ob es schmeckt, weiß ich schon gar nicht mehr”, sagte ich.
Sie sah mich an. „Weshalb trinken Sie es denn?”
„Rum”, sagte ich, froh, etwas gefunden zu haben, über das ich reden konnte, „Rum hat mit Schmecken nicht viel zu tun. Er ist nicht so einfach ein Getränk, – er ist schon mehr ein Freund. Ein Freund, der alles leichter macht. „Aber soll ich Ihnen nicht noch einen Martini bestellen?”
„Lieber Rum”, sagte sie. „Ich möchte ihn auch mal versuchen.”
Langsam bekam alles Griff und Glanz. Die Unsicherheit schwand, die Worte kamen von selber und ich achtete nicht mehr so darauf, was ich sagte. Ich trank weiter und spürte, wie die große, weiche Welle herankam und mich erfasste, wie sich die leere Stunde der Dämmerung mit Bildern füllte und geisterhaft über den gleichgültigen, grauen Bezirken des Daseins der lautlose Zug der Träume wieder auftauchte. Die Wände der Bar weiteten sich und plötzlich war es nicht mehr die Bar, – es war eine Ecke der Welt, ein Winkel der Zuflucht, ein halbdunkler Unterstand, um den ringsumher die ewige Schlacht des Chaos brauste und in dem wir geborgen hockten, rätselhaft zueinandergeweht durch das Zwielicht der Zeit. Das Mädchen saß zusammengekauert in seinem Stuhl, fremd und geheimnisvoll, als wäre es hierher verschlagen von der anderen Seite des Lebens.
Es war schon dunkel, als ich Patrice Hollmann nach Hause brachte. Langsam ging ich zurück. Ich fühlte mich plötzlich allein und leer.