1. Beschreiben Sie einen Tag im Heidelager.
2. Neben den Baracken befindet sich das Russenlager. Wie verhält man sich zu den Gefangenen?
3. Erzählen Sie über den Besuch des Vaters. Was braucht Pauls Mutter? Warum weiß sein Vater nicht, wieviel die Operation kostet?
4. Was bedeutet der Kartoffelpuffer für Paul?
Siebzehn-und-vier – ein Kartenspiel
Bernhardiner, der – ein großer, kräftiger Hund, mit dem man besonders die Leute sucht, die von einer Lawine verschüttet wurden revidieren – (noch einmal) prüfen
Friesland – das ganze von den Friesen bewohnte Gebiet zwischen Rhein- und Wesermündung
Ruhr, die – eine Infektion des Darmes, die zu starkem Durchfall führt
Juchten, das – meist mit Weidenrinden gegerbtes und mit Birkenöl eingefettetes, gutes Rindsoder Rossleder
Mettwurst, die – Wurst aus magerem, gewürztem Hackfleisch
Zuflucht, die – ein Ort oder eine Person, die jemandem Schutz und Hilfe geben, wenn er in Gefahr, Not ist
Choral, der – ein feierliches Lied, das besonders bei religiösen Anlässen gesungen wird
Überstunde, die – (eine Stunde) Arbeit, die man zusätzlich zur normalen Arbeitszeit macht
Wir fahren einige Tage. Die ersten Flieger erscheinen am Himmel. Wir rollen an Transportzügen vorüber. Geschütze, Geschütze. Die Feldbahn übernimmt uns. Ich suche mein Regiment. Niemand weiß, wo es gerade liegt. Irgendwo übernachte ich, irgendwo empfange ich morgens Proviant und einige vage Instruktionen. So mache ich mich mit meinem Tornister und meinem Gewehr wieder auf den Weg. Als ich ankomme, ist keiner von uns mehr in dem zerschossenen Ort. Ich höre, dass wir zu einer fliegenden Division geworden sind, die überall eingesetzt wird, wo es brenzlig* ist. Das stimmt mich nicht heiter. Man erzählt mir von großen Verlusten, die wir gehabt haben sollen. Ich forsche nach Kat und Albert. Es weiß niemand etwas von ihnen.
Ich suche weiter und irre umher, das ist ein wunderliches Gefühl. Noch eine Nacht und eine zweite kampiere* ich wie ein Indianer. Dann habe ich bestimmte Nachricht und kann mich nachmittags auf der Schreibstube melden.
Der Feldwebel behält mich da. Die Kompanie kommt in zwei Tagen zurück, es hat keinen Zweck mehr, mich hinauszuschicken. »Wie war’s im Urlaub?« fragt er. »Schön, was?«
»Teils, teils«, sage ich.
»Jaja«, seufzt er, »wenn man nicht wieder weg müsste. Die zweite Hälfte wird dadurch immer schon verpfuscht.«
Ich lungere umher, bis die Kompanie morgens einrückt, grau, schmutzig, verdrossen und trübe. Da springe ich auf und dränge mich zwischen sie, meine Augen suchen, dort ist Tjaden, da schnaubt Müller, und da sind auch Kat und Kropp. Wir machen uns unsere Strohsäcke nebeneinander zurecht. Ich fühle mich schuldbewusst, wenn ich sie ansehe, und habe doch keinen Grund dazu. Bevor wir schlafen, hole ich den Rest der Kartoffelpuffer und der Marmelade heraus, damit sie auch etwas haben.
Die beiden äußeren Puffer sind angeschimmelt, man kann sie aber noch essen. Ich nehme sie für mich und gebe die frischeren Kat und Kropp.
Kat kaut und fragt: »Die sind wohl von Muttern?«
Ich nicke.
»Gut«, sagt er, »das schmeckt man heraus.«
Fast könnte ich weinen. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Doch es wird schon wieder besser werden, hier mit Kat und Albert und den übrigen. Hier gehöre ich hin.
»Du hast Glück gehabt«, flüstert Kropp mir noch beim Einschlafen zu, »es heißt, wir kommen nach Russland.« Nach Russland. Da ist ja kein Krieg mehr.
In der Ferne donnert die Front. Die Wände der Baracken klirren.
Es wird mächtig geputzt. Ein Appell jagt den andern. Von allen Seiten werden wir revidiert. Was zerrissen ist, wird umgetauscht gegen gute Sachen. Ich erwische dabei einen tadellosen neuen Rock, Kat natürlich sogar eine volle Montur*. Das Gerücht taucht auf, es gäbe Frieden, doch die andere Ansicht ist wahrscheinlicher: dass wir nach Russland verladen werden. Aber wozu brauchen wir in Russland bessere Sachen? Endlich sickert* es durch: der Kaiser kommt zur Besichtigung. Deshalb die vielen Musterungen.
Acht Tage lang könnte man glauben, in einer Rekrutenkaserne zu sitzen, so wird gearbeitet und exerziert. Alles ist verdrossen und nervös, denn übermäßiges Putzen ist nichts für uns und Parademarsch noch weniger. Gerade solche Sachen verärgern den Soldaten mehr als der Schützengraben. Endlich ist der Augenblick da. Wir stehen stramm, und der Kaiser erscheint. Wir sind neugierig, wie er aussehen mag. Er schreitet die Front entlang, und ich bin eigentlich etwas enttäuscht: nach den Bildern hatte ich ihn mir größer und mächtiger vorgestellt, vor allen Dingen mit einer donnernderen Stimme.
Er verteilt Eiserne Kreuze und spricht diesen und jenen an. Dann ziehen wir ab.
Nachher unterhalten wir uns. Tjaden sagt staunend: »Das ist nun der Alleroberste, den es gibt. Davor muss darin doch jeder strammstehen, jeder überhaupt!« Er überlegt: »Davor muss doch auch Hindenburg strammstehen, was?«
»Jawoll«, bestätigt Kat.
Tjaden ist noch nicht fertig. Er denkt eine Zeitlang nach und fragt: »Muss ein König vor einem Kaiser auch strammstehen?«
Keiner weiß das genau, aber wir glauben es nicht. Die sind beide schon so hoch, dass es da sicher kein richtiges Strammstehen mehr gibt.
»Was du dir für einen Quatsch ausbrütest«, sagt Kat. »Die Hauptsache ist, dass du selber strammstehst.«
Aber Tjaden ist völlig fasziniert. Seine sonst sehr trockene Phantasie arbeitet sich Blasen.
»Sieh mal«, verkündet er, »ich kann einfach nicht begreifen, dass ein Kaiser auch genauso zur Latrine muss wie ich.«
»Darauf kannst du Gift nehmen*«, lacht Kropp.
»Verrückt und drei sind sieben«, ergänzt Kat, »du hast Läuse im Schädel, Tjaden, geh du nur selbst rasch los zur Latrine, damit du einen klaren Kopp kriegst und nicht wie ein Wickelkind redest.«
Tjaden verschwindet.
»Eins möchte ich aber doch noch wissen«, sagt Albert, »ob es Krieg gegeben hätte, wenn der Kaiser nein gesagt hätte.«
»Das glaube ich sicher«, werfe ich ein, – »er soll ja sowieso erst gar nicht gewollt haben.«
»Na, wenn er allein nicht, dann vielleicht doch, wenn so zwanzig, dreißig Leute in der Welt nein gesagt hätten.«
»Das wohl«, gebe ich zu, »aber die haben ja gerade gewollt.«
»Es ist komisch, wenn man sich das überlegt«, fährt Kropp fort, »wir sind doch hier, um unser Vaterland zu verteidigen. Aber die Franzosen sind doch auch da, um ihr Vaterland zu verteidigen. Wer hat nun recht?«
»Vielleicht beide«, sage ich, ohne es zu glauben.
»Ja, nun«, meint Albert, und ich sehe ihm an, dass er mich in die Enge treiben will, »aber unsere Professoren und Pastöre und Zeitungen sagen, nur wir hätten recht, und das wird ja hoffentlich auch so sein; – aber die französischen Professoren und Pastöre und Zeitungen behaupten, nur sie hätten recht, wie steht es denn damit?«
»Das weiß ich nicht«, sage ich, »auf jeden Fall ist Krieg, und jeden Monat kommen mehr Länder dazu.«
Tjaden erscheint wieder. Er ist noch immer angeregt und greift sofort wieder in das Gespräch ein, indem er sich erkundigt, wie eigentlich ein Krieg entstehe.
»Meistens so, dass ein Land ein anderes schwer beleidigt«, gibt Albert mit einer gewissen Überlegenheit zur Antwort.
Doch Tjaden stellt sich dickfellig. »Ein Land? Das verstehe ich nicht. Ein Berg in Deutschland kann doch einen Berg in Frankreich nicht beleidigen. Oder ein Fluss oder ein Wald oder ein Weizenfeld.«
»Bist du so dämlich oder tust du nur so?« knurrt Kropp. »So meine ich das doch nicht. Ein Volk beleidigt das andere – «
»Dann habe ich hier nichts zu suchen«, erwidert Tjaden, »ich fühle mich nicht beleidigt.«
»Dir soll man nun was erklären«, sagt Albert ärgerlich, »auf dich Dorfdeubel kommt es doch dabei nicht an.«
»Dann kann ich ja erst recht nach Hause gehen«, beharrt Tjaden, und alles lacht.
»Ach, Mensch, es ist doch das Volk als Gesamtheit, also der Staat – «, ruft Müller.
»Staat, Staat« – Tjaden schnippt schlau mit den Fingern – ,
»Feldgendarmen, Polizei, Steuer, das ist euer Staat. Wenn du damit zu tun hast, danke schön.«
»Das stimmt«, sagt Kat, »da hast du zum ersten Male etwas Richtiges gesagt, Tjaden, Staat und Heimat, da ist wahrhaftig ein Unterschied.«
»Aber sie gehören doch zusammen«, überlegt Kropp, »eine Heimat ohne Staat gibt es nicht.«
»Richtig, aber bedenk doch mal, dass wir fast alle einfache Leute sind. Und in Frankreich sind die meisten Menschen doch auch Arbeiter, Handwerker oder kleine Beamte. Weshalb soll nun wohl ein französischer Schlosser oder Schuhmacher uns angreifen wollen? Nein, das sind nur die Regierungen. Ich habe nie einen Franzosen gesehen, bevor ich hierherkam, und den meisten Franzosen wird es ähnlich mit uns gehen. Die sind ebensowenig gefragt wie wir.«
»Weshalb ist dann überhaupt Krieg?« fragt Tjaden.
Kat zuckt die Achseln. »Es muss Leute geben, denen der Krieg nützt.«
»Na, ich gehöre nicht dazu«, grinst Tjaden.
»Du nicht, und keiner hier.«
»Wer denn nur?« beharrte Tjaden. »Dem Kaiser nützt er doch auch nicht. Der hat doch alles, was er braucht.«
»Das sag nicht«, entgegnet Kat, »einen Krieg hat er bis jetzt noch nicht gehabt. Und jeder größere Kaiser braucht mindestens einen Krieg, sonst wird er nicht berühmt. Sieh mal in deinen Schulbüchern nach.«
»Generäle werden auch berühmt durch den Krieg«, sagt Detering.
»Noch berühmter als Kaiser«, bestätigt Kat.
»Sicher stecken andere Leute, die am Krieg verdienen wollen, dahinter«, brummt Detering.
»Ich glaube, es ist mehr eine Art Fieber«, sagt Albert. »Keiner will es eigentlich, und mit einem Male ist es da. Wir haben den Krieg nicht gewollt, die andern behaupten dasselbe – und trotzdem ist die halbe Welt feste dabei.«
»Drüben wird aber mehr gelogen als bei uns«, erwidere ich, »denkt mal an die Flugblätter der Gefangenen, in denen stand, dass wir belgische Kinder fräßen. Die Kerle, die so was schreiben, sollten sie aufhängen. Das sind die wahren Schuldigen.«
Müller steht auf. »Besser auf jeden Fall, der Krieg ist hier als in Deutschland. Seht euch mal die Trichterfelder an!«
»Das stimmt«, pflichtet selbst Tjaden bei, »aber noch besser ist gar kein Krieg.«
Er geht stolz davon, denn er hat es uns Einjährigen nun mal gegeben. Und seine Meinung ist tatsächlich typisch hier, man begegnet ihr immer wieder und kann auch nichts Rechtes darauf entgegnen, weil mit ihr gleichzeitig das Verständnis für andere Zusammenhänge aufhört. Das Nationalgefühl des Muskoten besteht darin, dass er hier ist. Aber damit ist es auch zu Ende, alles andere beurteilt er praktisch und aus seiner Einstellung heraus.
Albert legt sich ärgerlich ins Gras. »Besser ist, über den ganzen Kram* nicht zu reden.«
»Wird ja auch nicht anders dadurch«, bestätigt Kat.
Zum Überfluss müssen wir die neu empfangenen Sachen fast alle wieder abgeben und erhalten unsere alten Brocken* wieder. Die guten waren nur zur Parade da.
Statt nach Russland gehen wir wieder an die Front. Unterwegs kommen wir durch einen kläglichen Wald mit zerrissenen Stämmen und zerpflügtem Boden. An einigen Stellen sind furchtbare Löcher. »Donnerwetter, da hat es aber eingehauen«, sage ich zu Kat.
»Minenwerfer«, antwortet er und zeigt dann nach oben. In den Ästen hängen Tote. Ein nackter Soldat hockt in einer Stammgabelung, er hat seinen Helm noch auf dem Kopf, sonst ist er unbekleidet. Nur eine Hälfte sitzt von ihm dort oben, ein Oberkörper, dem die Beine fehlen.
»Was ist da los gewesen?« frage ich.
»Den haben sie aus dem Anzug gestoßen«, knurrt Tjaden.
Kat sagt: »Es ist komisch, wir haben das nun schon ein paarmal gesehen. Wenn so eine Mine einwichst, wird man tatsächlich richtig aus dem Anzug gestoßen. Das macht der Luftdruck.«
Ich suche weiter. Es ist wirklich so. Dort hängen Uniformfetzen allein, anderswo klebt blutiger Brei, der einmal menschliche Glieder war. Ein Körper liegt da, der nur an einem Bein noch ein Stück Unterhose und um den Hals den Kragen des Waffenrockes hat. Sonst ist er nackt, der Anzug hängt im Baum herum. Beide Arme fehlen, als wären sie herausgedreht. Einen davon entdecke ich zwanzig Schritt weiter im Gebüsch.
Der Tote liegt auf dem Gesicht. Da, wo die Armwunden sind, ist die Erde schwarz von Blut. Unter den Füßen ist das Laub zerkratzt, als hätte der Mann noch gestrampelt.
»Kein Spaß, Kat«, sage ich.
»Ein Granatsplitter im Bauch auch nicht«, antwortet er achselzuckend.
»Nur nicht weich werden«, meint Tjaden.
Das Ganze kann nicht lange her sein, das Blut ist noch frisch. Da alle Leute, die wir sehen, tot sind, lassen wir uns nicht aufhalten, sondern melden die Sache bei der nächsten Sanitätsstation. Schließlich ist es ja auch nicht unsere Angelegenheit, diesen Tragbahrenhengsten die Arbeit abzunehmen.
Es soll eine Patrouille* ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit die feindliche Stellung noch besetzt ist. Ich habe wegen meines Urlaubs irgendein sonderbares Gefühl den andern gegenüber und melde mich deshalb mit. Wir verabreden den Plan, schleichen durch den Draht und trennen uns dann, um einzeln vorzukriechen. Nach einer Weile finde ich einen flachen Trichter, in den ich mich hineingleiten lasse. Von hier luge ich aus.
Das Gelände hat mittleres Maschinengewehrfeuer. Es wird von allen Seiten bestrichen, nicht sehr stark, aber immerhin genügend, um die Knochen nicht allzu hoch zu nehmen.
Ein Leuchtschirm entfaltet sich. Das Terrain liegt erstarrt im fahlen Lichte da. Um so schwärzer schlägt hinterher die Dunkelheit wieder darüber zusammen. Im Graben haben sie vorhin erzählt, es wären Schwarze vor uns. Das ist unangenehm, man kann sie schlecht sehen, außerdem sind sie als Patrouillen sehr geschickt. Sonderbarerweise sind sie oft ebenso unvernünftig; – sowohl Kat als auch Kropp haben einmal auf Patrouille eine schwarze Gegenpatrouille erschossen, weil die Leute in ihrer Gier nach Zigaretten unterwegs rauchten. Kat und Albert brauchten nur die glimmenden Zigarettenköpfe als Ziel zu visieren.
Neben mir zischt eine kleine Granate ein. Ich habe sie nicht kommen gehört und erschrecke heftig. Im gleichen Augenblick fasst mich eine sinnlose Angst. Ich bin hier allein und fast hilflos im Dunkeln – vielleicht beobachten mich längst aus einem Trichter hervor zwei andere Augen, und eine Handgranate liegt wurffertig bereit, mich zu zerreißen. Ich versuche mich aufzuraffen. Es ist nicht meine erste Patrouille und auch keine besonders gefährliche. Aber es ist meine erste nach dem Urlaub, und außerdem ist das Gelände mir noch ziemlich fremd.
Ich mache mir klar, dass meine Aufregung Unsinn ist, dass im Dunkel wahrscheinlich gar nichts lauert, weil sonst nicht so flach geschossen würde.
Es ist vergeblich. In wirrem Durcheinander summen mir die Gedanken im Schädel – ich höre die warnende Stimme meiner Mutter, ich sehe die Russen mit den wehenden Barten am Gitter lehnen, ich habe die helle, wunderbare Vorstellung einer Kantine mit Sesseln, eines Kinos in Valenciennes*, ich sehe quälend, scheußlich in meiner Einbildung eine graue gefühllose Gewehrmündung, die lauernd lautlos mitgeht, wie ich auch den Kopf zu wenden versuche: mir bricht der Schweiß aus allen Poren.
Immer noch liege ich in meiner Mulde. Ich sehe auf die Uhr; es sind erst wenige Minuten vergangen. Meine Stirn ist nass, meine Augenhöhlen sind feucht, die Hände zittern, und ich keuche leise. Es ist nichts anderes als ein furchtbarer Angstanfall, eine einfach gemeine Hundeangst davor, den Kopf herauszustrecken und weiterzukriechen.
Wie ein Brei zerquillt meine Anspannung zu dem Wunsch, liegenbleiben zu können. Meine Glieder kleben am Boden, ich mache einen vergeblichen Versuch – sie wollen sich nicht lösen. Ich presse mich an die Erde, ich kann nicht vorwärts, ich fasse den Entschluss, liegenzubleiben.
Aber sofort überspült mich die Welle erneut, eine Welle aus Scham, Reue und doch auch Geborgenheit. Ich erhebe mich ein wenig, um Ausschau zu halten. Meine Augen brennen, so starre ich in das Dunkel. Eine Leuchtkugel geht hoch; – ich ducke mich wieder.
Ich kämpfe einen sinnlosen, wirren Kampf, ich will aus der Mulde heraus und rutsche doch wieder hinein, ich sage, »du musst, es sind deine Kameraden, es ist ja nicht irgendein dummer Befehl«, – und gleich darauf: »Was geht es mich an, ich habe nur ein Leben zu verlieren – «
Das macht alles dieser Urlaub, entschuldige ich mich erbittert. Aber ich glaube es selbst nicht, mir wird entsetzlich flau, ich erhebe mich langsam und stemme die Arme vor, ziehe den Rücken nach und liege jetzt halb auf dem Rande des Trichters.
Da vernehme ich Geräusche und zucke zurück. Man hört trotz des Artillerielärms verdächtige Geräusche. Ich lausche – das Geräusch ist hinter mir. Es sind Leute von uns, die durch den Graben gehen. Nun höre ich auch gedämpfte Stimmen. Es könnte dem Tone nach Kat sein, der da spricht.
Eine ungemeine Wärme durchflutet mich mit einemmal. Diese Stimmen, diese wenigen, leisen Worte, diese Schritte im Graben hinter mir reißen mich mit einem Ruck aus der fürchterlichen Vereinsamung der Todesangst, der ich beinahe verfallen wäre. Sie sind mehr als mein Leben, diese Stimmen, sie sind mehr als Mütterlichkeit und Angst, sie sind das Stärkste und Schützendste, was es überhaupt gibt: es sind die Stimmen meiner Kameraden.
Ich bin nicht mehr ein zitterndes Stück Dasein allein im Dunkel – ich gehöre zu ihnen und sie zu mir, wir haben alle die gleiche Angst und das gleiche Leben, wir sind verbunden auf eine einfache und schwere Art. Ich möchte mein Gesicht in sie hineindrücken, in die Stimmen, diese paar Worte, die mich gerettet haben und die mir beistehen werden.
Vorsichtig gleite ich über den Rand und schlängele mich vorwärts. Auf allen vieren schlurfe ich weiter; es geht gut, ich peile die Richtung an, schaue mich um und merke mir das Bild des Geschützfeuers, um zurückzufinden. Dann suche ich Anschluss an die andern zu bekommen.
Immer noch habe ich Angst, aber es ist eine vernünftige Angst, eine außerordentlich gesteigerte Vorsicht. Die Nacht ist windig, und Schatten gehen hin und her beim Aufflackern des Mündungsfeuers*. Man sieht dadurch zu wenig und zu viel. Oft erstarre ich, aber es ist immer nichts. So komme ich ziemlich weit vor und kehre dann im Bogen wieder um. Den Anschluss habe ich nicht gefunden. Jeder Meter näher zu unserm Graben erfüllt mich mit Zuversicht – allerdings auch mit größerer Hast. Es wäre nicht schön, jetzt noch eins verpasst zu kriegen.
Da durchfährt mich ein neuer Schreck. Ich kann die Richtung nicht mehr genau wiedererkennen. Still hocke ich mich in einen Trichter und versuche mich zu orientieren. Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass jemand vergnügt in einen Graben sprang und dann erst entdeckte, dass es der falsche war.
Nach einiger Zeit horche ich wieder. Immer noch bin ich nicht richtig. Das Trichtergewirr erscheint mir jetzt so unübersichtlich, dass ich vor Aufregung überhaupt nicht mehr weiß, wohin ich mich wenden soll. Vielleicht krieche ich parallel zu den Gräben, das kann ja endlos dauern. Deshalb schlage ich wieder einen Haken.
Diese verfluchten Leuchtschirme! Sie scheinen eine Stunde zu brennen, man kann keine Bewegung machen, ohne dass es gleich um einen herum pfeift.
Doch es hilft nichts, ich muss heraus. Stockend arbeite ich mich weiter, ich krebse über den Boden weg und reiße mir die Hände wund an den zackigen Splittern, die scharf wie Rasiermesser sind. Manchmal habe ich den Eindruck, als wenn der Himmel etwas heller würde am Horizont, doch das kann auch Einbildung sein. Allmählich aber merke ich, dass ich um mein Leben krieche.
Eine Granate knallt. Gleich darauf zwei andere. Und schon geht es los. Ein Feuerüberfall. Maschinengewehre knattern. Jetzt gibt es vorläufig nichts anderes, als liegenzubleiben. Es scheint ein Angriff zu werden. Überall steigen Leuchtraketen. Ununterbrochen.
Ich liege gekrümmt in einem großen Trichter, die Beine im Wasser bis zum Bauch. Wenn der Angriff einsetzt, werde ich mich ins Wasser fallen lassen, so weit es geht, ohne zu ersticken, das Gesicht im Dreck. Ich muss den toten Mann markieren*.
Plötzlich höre ich, wie das Feuer zurückspringt. Sofort rutsche ich nach unten ins Grundwasser, den Helm ganz im Genick, den Mund nur so weit hoch, dass ich knapp Luft habe.
Dann werde ich bewegungslos; – denn irgendwo klirrt etwas, es tappt und trappst näher, – in mir ziehen sich alle Nerven eisig zusammen. Es klirrt über mich hinweg, der erste Trupp ist vorbei. Ich habe nur den einen zersprengenden Gedanken gehabt: Was tust du, wenn jemand in deinen Trichter springt? – Jetzt zerre ich rasch den kleinen Dolch heraus, fasse ihn fest und verberge ihn mit der Hand wieder im Schlamm. Ich werde sofort losstechen, wenn jemand hereinspringt, hämmert es in meiner Stirn, sofort die Kehle durchstoßen, damit er nicht schreien kann, es geht nicht anders, er wird ebenso erschrocken sein wie ich, und schon vor Angst werden wir übereinander herfallen, da muss ich der erste sein.
Nun schießen unsere Batterien. In meiner Nähe schlägt es ein. Das macht mich irrsinnig wild, es fehlt mir noch, dass mich die eigenen Geschosse treffen; ich fluche und knirsche in den Dreck hinein; es ist ein wütender Ausbruch, zuletzt kann ich nur noch stöhnen und bitten.
Das Gekrach der Granaten trifft mein Ohr. Wenn unsere Leute einen Gegenstoß machen, bin ich befreit. Ich presse den Kopf an die Erde und höre das dumpfe Donnern wie ferne Bergwerksexplosionen – und hebe ihn wieder, um auf die Geräusche oben zu lauschen.
Die Maschinengewehre knarren. Ich weiß, dass unsere Drahtverhaue fest und fast unbeschädigt sind; – ein Teil davon ist mit Starkstrom* geladen. Das Gewehrfeuer schwillt an. Sie kommen nicht durch, sie müssen zurück. Ich sinke wieder zusammen, gespannt bis zum Äußersten. Das Klappern und Schleichen, das Klirren wird hörbar. Ein einzelner Schrei gellend dazwischen. Sie werden beschossen, der Angriff ist abgeschlagen.
Es ist noch etwas heller geworden. An mir vorüber hasten Schritte. Die ersten. Vorbei. Wieder andere. Das Knarren der Maschinengewehre wird eine ununterbrochene Kette. Gerade will ich mich etwas umdrehen, da poltert es, und schwer und klatschend fällt ein Körper zu mir in den Trichter, rutscht ab, liegt auf mir —
Ich denke nichts, ich fasse keinen Entschluss – ich stoße rasend zu und fühle nur, wie der Körper zuckt und dann weich wird und zusammensackt. Meine Hand ist klebrig und nass, als ich zu mir komme.
Der andere röchelt*. Es scheint mir, als ob er brüllt, jeder Atemzug ist wie ein Schrei, ein Donnern – aber es sind nur meine Adern, die so klopfen. Ich möchte ihm den Mund zuhalten, Erde hineinstopfen, noch einmal zustechen, er soll still sein, er verrät mich; doch ich bin schon so weit zu mir gekommen und auch so schwach plötzlich, dass ich nicht mehr die Hand gegen ihn heben kann.
So krieche ich in die entfernteste Ecke und bleibe dort, die Augen starr auf ihn gerichtet, das Messer umklammert, bereit, wenn er sich rührt, wieder auf ihn loszugehen – aber er wird nichts mehr tun, das höre ich schon an seinem Röcheln.
Undeutlich kann ich ihn sehen. Nur der eine Wunsch ist in mir, wegzukommen. Wenn es nicht bald ist, wird es zu hell; schon jetzt ist es schwer. Doch als ich versuche, den Kopf hochzunehmen, sehe ich bereits die Unmöglichkeit ein. Das Maschinengewehrfeuer ist derartig gedeckt, dass ich durchlöchert werde, ehe ich einen Sprung tue.
Ich probiere es noch einmal mit meinem Helm, den ich etwas emporschiebe und anhebe, um die Höhe der Geschosse festzustellen. Einen Augenblick später wird er mir durch eine Kugel aus der Hand geschlagen. Das Feuer streicht also ganz niedrig über das Terrain. Ich bin nicht weit genug von der feindlichen Stellung entfernt, um nicht von den Scharfschützen* gleich erwischt zu werden, wenn ich versuche, auszureißen.
Das Licht nimmt zu. Ich warte brennend auf einen Angriff von uns. Meine Hände sind weiß an den Knöcheln, so presse ich sie zusammen, so flehe ich, das Feuer möge aufhören und meine Kameraden möchten kommen.
Minute um Minute versickert. Ich wage keinen Blick mehr zu der dunklen Gestalt im Trichter. Angestrengt sehe ich vorbei und warte, warte. Die Geschosse zischen, sie sind ein stählernes Netz, es hört nicht auf, es hört nicht auf.
Da erblicke ich meine blutige Hand und fühle jähe Übelkeit. Ich nehme Erde und reibe damit über die Haut, jetzt ist die Hand wenigstens schmutzig, und man sieht das Blut nicht mehr.
Das Feuer lässt nicht nach. Von beiden Seiten ist es jetzt gleich stark. Man hat mich bei uns wahrscheinlich längst verlorengegeben.
Es ist heller, grauer, früher Tag. Das Röcheln tönt fort. Ich hake mir die Ohren zu, nehme aber die Finger bald wieder heraus, weil ich sonst auch das andere nicht hören kann. Die Gestalt gegenüber bewegt sich. Ich schrecke zusammen und sehe unwillkürlich hin. Jetzt bleiben meine Augen wie festgeklebt hängen. Ein Mann mit einem kleinen Schnurrbart liegt da, der Kopf ist zur Seite gefallen, ein Arm ist halb gebeugt, der Kopf drückt kraftlos darauf. Die andere Hand liegt auf der Brust, sie ist blutig.
Er ist tot, sage ich mir, er muss tot sein, er fühlt nichts mehr – was da röchelt, ist nur noch der Körper. Doch der Kopf versucht sich zu heben, das Stöhnen wird einen Moment stärker, dann sinkt die Stirn wieder auf den Arm zurück. Der Mann ist nicht tot, er stirbt, aber er ist nicht tot. Ich schiebe mich heran, halte inne, stütze mich auf die Hände, rutsche wieder etwas weiter, warte – weiter, einen grässlichen Weg von drei Metern, einen langen, furchtbaren Weg. Endlich bin ich neben ihm.
Da schlägt er die Augen auf. Er muss mich noch gehört haben und sieht mich mit einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens an. Der Körper liegt still, aber in den Augen ist eine so ungeheure Flucht, dass ich einen Moment glaube, sie würden die Kraft haben, den Körper mit sich zu reißen. Hunderte von Kilometern weit weg mit einem einzigen Ruck. Der Körper ist still, völlig ruhig, ohne Laut jetzt, das Röcheln ist verstummt, aber die Augen schreien, brüllen, in ihnen ist alles Leben versammelt zu einer unfassbaren Anstrengung, zu entfliehen, zu einem schrecklichen Grausen vor dem Tode, vor mir.
Ich knicke in den Gelenken ein und falle auf die Ellbogen. »Nein, nein«, flüstere ich.
Die Augen folgen mir. Ich bin unfähig, eine Bewegung zu machen, solange sie da sind.
Da fällt seine Hand langsam von der Brust, nur ein geringes Stück, sie sinkt um wenige Zentimeter, doch diese Bewegung löst die Gewalt der Augen auf. Ich beuge mich vor, schüttele den Kopf und flüstere: »Nein, nein, nein«, ich hebe eine Hand, ich muss ihm zeigen, dass ich ihm helfen will, und streiche über seine Stirn.
Die Augen sind zurückgezuckt, als die Hand kam, jetzt verlieren sie ihre Starre, die Wimpern sinken tiefer, die Spannung lässt nach. Ich öffne ihm den Kragen und schiebe den Kopf bequemer zurecht.
Der Mund steht halb offen, er bemüht sich, Worte zu formen. Die Lippen sind trocken. Meine Feldflasche ist nicht da, ich habe sie nicht mitgenommen. Aber es ist Wasser in dem Schlamm unten im Trichter. Ich klettere hinab, ziehe mein Taschentuch heraus, breite es aus, drücke es hinunter und schöpfe mit der hohlen Hand das gelbe Wasser, das hindurchquillt.
Er schluckt es. Ich hole neues. Dann knöpfe ich seinen Rock auf, um ihn zu verbinden, wenn es geht. Ich muss es auf jeden Fall tun, damit die drüben, wenn ich gefangen werden sollte, sehen, dass ich ihm helfen wollte, und mich nicht erschießen. Er versucht sich zu wehren, doch die Hand ist zu schlaff dazu. Das Hemd ist verklebt und lässt sich nicht beiseite schieben, es ist hinten geknöpft. So bleibt nichts übrig, als es aufzuschneiden.
Ich suche das Messer und finde es wieder. Aber als ich anfange, das Hemd zu zerschneiden, öffnen sich die Augen noch einmal, und wieder ist das Schreien darin und der wahnsinnige Ausdruck, so dass ich sie zuhalten, zudrücken muss und flüstern: »Ich will dir ja helfen, Kamerad, camarade, camarade, camarade – «,eindringlich das Wort, damit er es versteht.
Drei Stiche sind es. Meine Verbandspäckchen bedecken sie, das Blut läuft darunter weg, ich drücke sie fester auf, da stöhnt er.
Es ist alles, was ich tun kann. Wir müssen jetzt warten, warten.
Diese Stunden. – Das Röcheln setzt wieder ein – wie langsam stirbt doch ein Mensch! Denn das weiß ich: er ist nicht zu retten. Ich habe zwar versucht, es mir auszureden, aber mittags ist dieser Vorwand vor seinem Stöhnen zerschmolzen, zerschossen. Wenn ich nur meinen Revolver nicht beim Kriechen verloren hätte, ich würde ihn erschießen. Erstechen kann ich ihn nicht.
Mittags dämmere ich an der Grenze des Denkens dahin. Hunger zerwühlt mich, ich muss fast weinen darüber, essen zu wollen, aber ich kann nicht dagegen ankämpfen. Mehrere Male hole ich dem Sterbenden Wasser und trinke auch selbst davon.
Es ist der erste Mensch, den ich mit meinen Händen getötet habe, den ich genau sehen kann, dessen Sterben mein Werk ist. Kat und Kropp und Müller haben auch schon gesehen, wenn sie jemand getroffen haben, vielen geht es so, im Nahkampf ja oft —
Aber jeder Atemzug legt mein Herz bloß. Dieser Sterbende hat die Stunden für sich, er hat ein unsichtbares Messer, mit dem er mich ersticht: die Zeit und meine Gedanken.
Ich würde viel darum geben, wenn er am Leben bliebe. Es ist schwer, dazuliegen und ihn sehen und hören zu müssen.
Nachmittags um drei Uhr ist er tot.
Ich atme auf. Doch nur für kurze Zeit. Das Schweigen erscheint mir bald noch schwerer zu ertragen als das Stöhnen. Ich wollte, das Röcheln wäre wieder da, stoßweise, heiser, einmal pfeifend leise und dann wieder heiser und laut.
Es ist sinnlos, was ich tue. Aber ich muss Beschäftigung haben. So lege ich den Toten noch einmal zurecht, damit er bequemer liegt, obschon er nichts mehr fühlt. Ich schließe ihm die Augen. Sie sind braun, das Haar ist schwarz, an den Seiten etwas lockig.
Der Mund ist voll und weich unter dem Schnurrbart, die Nase ist ein wenig gebogen, die Haut bräunlich, sie sieht jetzt nicht mehr so fahl aus wie vorhin, als er noch lebte. Einen Augenblick scheint das Gesicht sogar beinahe gesund zu sein – dann verfällt es rasch zu einem der fremden Totenantlitze*, die ich oft gesehen habe und die sich alle gleichen.
Seine Frau denkt sicher jetzt an ihn; sie weiß nicht, was geschehen ist. Er sieht aus, als wenn er ihr oft geschrieben hätte; – sie wird auch noch Post von ihm bekommen – morgen, in einer Woche – , vielleicht einen verirrten Brief noch in einem Monat. Sie wird ihn lesen, und er wird darin zu ihr sprechen.
Mein Zustand wird immer schlimmer, ich kann meine Gedanken nicht mehr halten. Wie mag die Frau aussehen? Wie die Dunkle, Schmale jenseits des Kanals? Gehört sie mir nicht? Vielleicht gehört sie mir jetzt hierdurch! Säße Kantorek doch hier neben mir! Wenn meine Mutter mich so sähe – . Der Tote hätte sicher noch dreißig Jahre leben können, wenn ich mir den Rückweg schärfer eingeprägt hätte. Wenn er zwei Meter weiter nach links gelaufen wäre, läge er jetzt drüben im Graben und schriebe einen neuen Brief an seine Frau.
Doch so komme ich nicht weiter; denn das ist das Schicksal von uns allen; hätte Kemmerich sein Bein zehn Zentimeter weiter rechts gehalten, hätte Haie sich fünf Zentimeter weiter vorgebeugt —
Das Schweigen dehnt sich. Ich spreche und muss sprechen. So rede ich ihn an und sage es ihm. »Kamerad, ich wollte dich nicht töten. Sprängst du noch einmal hier hinein, ich täte es nicht, wenn auch du vernünftig wärest. Aber du warst mir vorher nur ein Gedanke, eine Kombination, die in meinem Gehirn lebte und einen Entschluss hervorrief – diese Kombination habe ich erstochen. Jetzt sehe ich erst, dass du ein Mensch bist wie ich. Ich habe gedacht an deine Hand-granaten, an dein Bajonett und deine Waffen – jetzt sehe ich deine Frau und dein Gesicht und das Gemeinsame. Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, dass ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, dass eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und dass wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz – . Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. Wenn wir diese Waffen und diese Uniform fortwerfen, könntest du ebenso mein Bruder sein wie Kat und Albert. Nimm zwanzig Jahre von mir, Kamerad, und stehe auf – nimm mehr, denn ich weiß nicht, was ich damit beginnen soll.«
Es ist still, die Front ist ruhig bis auf das Gewehrgeknatter. Die Kugeln liegen dicht, es wird nicht planlos geschossen, sondern auf allen Seiten scharf gezielt. Ich kann nicht hinaus.
»Ich will deiner Frau schreiben«, sage ich hastig zu dem Toten, »ich will ihr schreiben, sie soll es durch mich erfahren, ich will ihr alles sagen, was ich dir sage, sie soll nicht leiden, ich will ihr helfen und deinen Eltern auch und deinem Kinde – «
Seine Uniform steht noch halb offen. Die Brieftasche ist leicht zu finden. Aber ich zögere, sie zu öffnen. In ihr ist das Buch mit seinem Namen. Solange ich seinen Namen nicht weiß, kann ich ihn vielleicht noch vergessen, die Zeit wird es tilgen*, dieses Bild. Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir eingeschlagen wird und nie mehr herauszubringen ist. Er hat die Kraft, alles immer wieder zurückzurufen, er wird stets wiederkommen und vor mich hintreten können.
Ohne Entschluss halte ich die Brieftasche in der Hand. Sie entfällt mir und öffnet sich. Einige Bilder und Briefe fallen heraus. Ich sammle sie auf und will sie wieder hineinpacken, aber der Druck, unter dem ich stehe, die ganze Ungewisse Lage, der Hunger, die Gefahr, diese Stunden mit dem Toten haben mich verzweifelt gemacht, ich will die Auflösung beschleunigen und die Quälerei verstärken und enden, wie man eine unerträglich schmerzende Hand gegen einen Baum schmettert, ganz gleich, was wird.
Es sind Bilder einer Frau und eines kleinen Mädchens, schmale Amateurfotografien* vor einer Efeuwand. Neben ihnen stecken Briefe. Ich nehme sie heraus und versuche sie zu lesen. Das meiste verstehe ich nicht, es ist schlecht zu entziffern, und ich kann nur wenig Französisch. Aber jedes Wort, das ich übersetze, dringt mir wie ein Schuss in die Brust – wie ein Stich in die Brust —
Mein Kopf ist völlig überreizt. Aber so viel begreife ich noch, dass ich diesen Leuten nie schreiben darf, wie ich es dachte vorhin. Unmöglich. Ich sehe die Bilder noch einmal an; es sind keine reichen Leute. Ich könnte ihnen ohne Namen Geld schicken, wenn ich später etwas verdiene. Daran klammere ich mich, das ist ein kleiner Halt wenigstens. Dieser Tote ist mit meinem Leben verbunden, deshalb muss ich alles tun und versprechen, um mich zu retten; ich gelobe* blindlings, dass ich nur für ihn dasein will und seine Familie, – mit nassen Lippen rede ich auf ihn ein, und ganz tief in mir sitzt dabei die Hoffnung, dass ich mich dadurch freikaufe und vielleicht hier doch noch herauskomme, eine kleine Hinterlist, dass man nachher immer noch erst einmal sehen könne. Und deshalb schlage ich das Buch auf und lese langsam: Gerard Duval, Typograph.
Ich schreibe die Adresse mit dem Bleistift des Toten auf einen Briefumschlag und schiebe dann plötzlich rasch alles in seinen Rock zurück.
Ich habe den Buchdrucker Gerard Duval getötet. Ich muss Buchdrucker werden, denke ich ganz verwirrt, Buchdrucker werden, Buchdrucker —
Nachmittags bin ich ruhiger. Meine Furcht war unbegründet. Der Name verwirrt mich nicht mehr. Der Anfall vergeht. »Kamerad«, sage ich zu dem Toten hinüber, aber ich sage es gefasst. »Heute du, morgen ich. Aber wenn ich davonkomme, Kamerad, will ich kämpfen gegen dieses, das uns beide zerschlug: dir das Leben – und mir – ? Auch das Leben. Ich verspreche es dir, Kamerad. Es darf nie wieder geschehen.«
Die Sonne steht schräg. Ich bin dumpf vor Erschöpfung und Hunger. Das Gestern ist mir wie ein Nebel, ich hoffe nicht, hier noch hinauszugelangen. So döse ich dahin und begreife nicht einmal, dass es Abend wird. Die Dämmerung kommt. Es scheint mir rasch jetzt. Noch eine Stunde. Wäre es Sommer, noch drei Stunden. Noch eine Stunde.
Nun beginne ich plötzlich zu zittern, dass etwas dazwischenkäme. Ich denke nicht mehr an den Toten, er ist mir jetzt völlig gleichgültig. Mit einem Schlage springt die Lebensgier auf, und alles, was ich mir vorgenommen habe, versinkt davor. Nur um jetzt nicht noch Unglück zu haben, plappere ich mechanisch: »Ich werde alles halten, was ich dir versprochen habe – «, aber ich weiß schon jetzt, dass ich es nicht tun werde.
Plötzlich fällt mir ein, dass meine eigenen Kameraden auf mich schießen können, wenn ich ankrieche; sie wissen es ja nicht. Ich werde rufen, so früh es geht, damit sie mich verstehen. So lange will ich vor dem Graben liegenbleiben, bis sie mir antworten.
Der erste Stern. Die Front bleibt ruhig. Ich atme auf und spreche vor Aufregung mit mir selbst: »Jetzt keine Dummheit, Paul – Ruhe, Ruhe, Paul – , dann bist du gerettet, Paul.« Es wirkt, wenn ich meinen Vornamen sage, das ist, als täte es ein anderer, und hat so mehr Gewalt.
Die Dunkelheit wächst. Meine Aufregung legt sich, ich warte aus Vorsicht, bis die ersten Raketen steigen. Dann krieche ich aus dem Trichter. Den Toten habe ich vergessen. Vor mir liegt die beginnende Nacht und das bleich beleuchtete Feld. Ich fasse ein Loch ins Auge; im Moment, wo das Licht erlischt, schnelle ich hinüber, taste weiter, erwische das nächste, ducke mich, husche weiter.
Ich komme näher. Da sehe ich bei einer Rakete, wie im Draht sich etwas eben noch bewegt, ehe es erstarrt, und liege still. Beim nächstenmal sehe ich es wieder, es sind bestimmt Kameraden aus unserm Graben. Aber ich bin vorsichtig, bis ich unsere Helme erkenne. Dann rufe ich.
Gleich darauf erschallt als Antwort mein Name: »Paul – Paul – «
Ich rufe wieder. Es sind Kat und Albert, die mit einer Zeltbahn losgegangen sind, um mich zu suchen.
»Bist du verwundet?«
»Nein, nein – «
Wir rutschen in den Graben. Ich verlange Essen und schlinge es hinunter. Müller gibt mir eine Zigarette. Ich sage mit wenigen Worten, was geschehen ist. Es ist ja nichts Neues; so was ist schon oft passiert. Nur der Nachtangriff ist das Besondere bei der Sache. Aber Kat hat in Russland schon einmal zwei Tage hinter der russischen Front gelegen, ehe er sich durchschlagen konnte.
Von dem toten Buchdrucker sage ich nichts.
Erst am nächsten Morgen halte ich es nicht mehr aus. Ich muss es Kat und Albert erzählen. Sie beruhigen mich beide.
»Du kannst gar nichts daran machen. Was wolltest du anders tun. Dazu bist du doch hier!«
Ich höre ihnen geborgen zu, getröstet durch ihre Nähe. Was habe ich nur für einen Unsinn zusammengefaselt da in dem Trichter.
»Sieh mal dahin«, zeigt Kat.
An den Brustwehren stehen einige Scharfschützen. Sie haben Gewehre mit Zielfernrohren aufliegen und lauern den Abschnitt drüben ab. Hin und wieder knallt ein Schuss. Jetzt hören wir Ausrufe. »Das hat gesessen?« – »Hast du gesehen, wie er hochsprang?« Sergeant Oellrich wendet sich stolz um und notiert seinen Punkt. Er führt in der Schussliste von heute mit drei’einwandfrei festgestellten Treffern.
»Was sagst du dazu?« fragt Kat.
Ich nicke.
»Wenn er so weitermacht, hat er heute abend ein buntes Vögelchen* mehr im Knopfloch«, meint Kropp.
»Oder er wird bald Vizefeldwebel«, ergänzt Kat.
Wir sehen uns an. »Ich würde es nicht machen«, sage ich.
»Immerhin«, sagt Kat, »es ist ganz gut, dass du es jetzt gerade siehst.«
Sergeant Oellrich tritt wieder an die Brustwehr. Die Mündung seines Gewehrs geht hin und her.
»Da brauchst du über deine Sache kein Wort mehr zu verlieren«, nickt Albert.
Ich begreife mich jetzt auch selbst nicht mehr.
»Es war nur, weil ich so lange mit ihm zusammen liegen musste«, sage ich. Krieg ist Krieg schließlich.
Oellrichs Gewehr knallt kurz und trocken.