Книга: Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке
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Aufgaben zum Text

1) Was können Sie über Helens Leben während 5 Jahre Trennung sagen?

2) Was ist „Kugel-Dasein“? Wie findet Helen ein solches Dasein?

3) Was antwortete Schwarz auf Helens Frage, ob er ein neues Dasein angefangen habe? Warum?

6

„Ich telefonierte am Morgen dem Hotel in Münster, in dem ich meinen Koffer gelassen hatte, und erklärte, ich hätte mich in Osnabrück verspätet und würde nachts zurückkommen; man möge das Zimmer für mich halten. Es war Vorsicht; ich wollte nicht wegen Zechprellerei angezeigt und von der Polizei erwartet werden. Eine gleichgültige Stimme antwortete, es sei recht so. Ich fragte, ob Post für mich da sei. Nein, Post sei nicht gekommen.

Ich hing ab. Helen stand hinter mir. „Post?“ sagte sie. „Von wem erwartest du Post?“

„Von niemandem. Ich habe es nur gesagt, um unverdächtiger zu erscheinen. Von Leuten, die Post erwarten, nimmt man merkwürdigerweise nicht sofort an, dass sie Schwindler sind.“

„Bist du einer?“

„Leider. Gegen meinen Willen. Aber nicht ohne Vergnügen daran.“

Sie lachte. „Du willst heute abend nach Münster?“ „Ich kann doch nicht länger hierbleiben. Dein Mädchen kommt morgen zurück. Und hier in der Stadt kann ich es nicht riskieren unterzukommen. Der Schnurrbart macht mich nicht unkenntlich genug.“

„Kannst du nicht bei Martens bleiben?“.

„Er hat mir angeboten, im Sprechzimmer zu schlafen; aber tagsüber kann er mich nicht unterbringen. Es ist besser, nach Münster zu fahren, Helen. Dort werde ich nicht so leicht auf der Straße erkannt wie hier. Es ist nur eine Stunde weit weg.“

„Wie lange willst du in Münster bleiben?“

„Ich kann das erst herausfinden, wenn ich da bin. Man entwickelt im Lauf der Zeit eine Art sechsten Sinn für Gefahr.“

„Spürst du hier Gefahr?“

„Ja“, sagte ich. „Seit heute morgen. Gestern nicht.“

Sie sah mich mit zusammengezogenen Brauen an. „Du darfst natürlich nicht ausgehen“, sagte sie.

„Nicht, bevor es dunkel ist. Und dann auch nur, um zum Bahnhof zu kommen.“

Heien antwortete nicht. „Es wird schon klappen“, sagte ich. „Denke nicht darüber nach. Ich habe gelernt, von einer Stunde zur andern zu leben, ohne zu vergessen, über den nächsten Tag nachzudenken.“

„Hast du?“ sagte Helen. „Sehr praktisch!“ Sie hatte wieder den Ton leichter Gereiztheit wie am Abend vorher.

„Nicht nur praktisch – notwendig“, erwiderte ich. „Aber ich vergesse trotzdem manchmal etwas. Ich hätte einen Rasierapparat aus Münster mitbringen sollen. Heute abend werde ich wie ein Strolch* aussehen. Das Vademecum* für Emigranten schreibt vor, das auf jeden Fall zu vermeiden.“

„Es ist ein Rasierapparat im Badezimmer“, sagte Helen. „Der, den du hiergelassen hast vor fünf Jahren, als du weggingst. Es ist auch Wäsche da, und deine alten Anzüge hängen links im Schrank.“

Sie sagte das, als wäre ich ein Mann, der sie vor fünf Jahren mit einer anderen Frau verlassen hätte und nun allein zurückgekommen wäre, um seine Sachen zu holen und wieder zu gehen. Ich versuchte nicht, es zu berichtigen; es hätte zu nichts geführt. Sie hätte mich nur erstaunt angesehen und erklärt, sie habe nicht daran gedacht, wenn ich aber so denke – und ich wäre in eine sinnlose Verteidigung verheddert worden. Es ist sonderbar, wie krumme Wege wir oft wählen, um nicht zu zeigen, was wir fühlen!

Ich ging in das Badezimmer. Der Anblick meiner alten Anzüge hatte keine andere Wirkung, als dass ich sah, um wieviel dünner ich geworden war. Ich war froh, Wäsche zu finden, und beschloss, genügend davon mitzunehmen. Irgendeine sentimentale Regung spürte ich nicht. Der Entschluss, den ich vor drei Jahren gefasst hatte, das Exil* nicht als ein Unglück, sondern als eine Art von kaltem Krieg zu nehmen, der nötig wäre zu meiner

Entwicklung, trug so wenigstens hier und da Früchte.

Der Tag verging in einem Zwielicht der Gefühle. Die Notwendigkeit abzureisen verstörte uns beide; aber Helen war es nicht so gewöhnt wie ich. Sie nahm es fast als eine persönliche Beleidigung. Ich war vorbereitet gewesen durch meine Erfahrung und durch die Zeit, seit ich Frankreich verlassen hatte; für Helen war die Ankunft noch nicht überstanden, als die Abreise schon auftauchte. Ihr Stolz hafte noch nicht Zeit gehabt zur Versöhnung, als dieselbe Situation sich bereits wiederholte. Dazu kam die Reaktion auf den Abend vorher; die Welle des Gefühls flutete zurück, und alte, untergegangene Trümmer wurden plötzlich wieder sichtbar und schienen größer zu sein, als sie waren. Wir waren vorsichtig miteinander; wir waren einander nicht mehr gewöhnt. Ich wäre gern eine Stunde allein gewesen, um Abstand zu gewinnen – wenn ich dann aber daran dachte, dass es nicht eine Stunde, sondern der zwölfte Teil der Zeit war, die ich noch mit Helen zusammen sein konnte, schien es mir undenkbar. Früher, in ruhigen Jahren, hatte ich mich manchmal mit der Frage unterhalten, was ich wohl tun würde, wenn ich wüsste, dass ich nur noch einen Monat zu leben hätte. Ich war nie zu einem klaren Ergebnis gekommen. Alles, was ich glaubte tun zu sollen, war in einer merkwürdigen Polarität zugleich auch das gewesen, was ich auf keinen Fall hätte tun sollen, und so erging es mir jetzt. Anstatt den Tag zu umarmen, mich ihm völlig zu öffnen und Helen in mich aufzunehmen mit allen meinen Sinnen, ging ich umher mit dem brennenden Wunsche, es zu tun, und doch mit solcher Vorsicht, als wäre ich aus Glas, und mit Helen schien es nicht anders zu sein. Wir litten und waren voller Ecken und Spitzen, und erst die Dämmerung brachte die Furcht, uns zu verlieren, so nahe, dass wir uns plötzlich wieder erkannten.

Um sieben Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Ich schreckte auf. Klingeln bedeutete für mich Polizei. „Wer kann das sein?“ flüsterte ich.

„Lass uns still sein und warten“, sagte Helen. „Es wird irgendein Bekannter sein. Wenn ich nicht antworte, geht er weg.“

Das Klingeln wiederholte sich. Dann klopfte jemand energisch an die Tür. „Geh ins Schlafzimmer“, flüsterte Helen.

„Wer ist es?“

„Ich weiß es nicht. Geh ins Schlafzimmer. Ich werde ihn loswerden. Es ist besser, als wenn die Nachbarn aufmerksam werden.“

Sie schob mich fort. Ich blickte rasch umher, ob irgend etwas von mir herumläge. Dann ging ich ins Schlafzimmer. Ich hörte Helen fragen: „Wer ist da?“, und eine Männerstimme antwortete. Dann sagte Helen: „Du bist es? Was ist denn los?“ Ich zog die Tür zu. Die Wohnung hatte einen zweiten Ausgang durch die Küche, den ich aber nicht erreichen konnte; ich wäre gesehen worden. Ich hatte nur die Möglichkeit, mich in einem eingebauten großen Schrank zu verstecken, in dem Helens Kleider hingen. Es war eigentlich kein Schrank; es war eine große Mauernische, die durch eine Tür abgeschlossen wurde. Ich hatte genug Luft darin.

Ich hörte, dass der Mann mit Helen ins Wohnzimmer ging. Ich erkannte seine Stimme. Es war ihr Bruder Georg, der mich ins Konzentrationslager gebracht hatte.

Ich blickte auf Helens Frisiertisch. Das einzige, was ich als Waffe gebrauchen konnte, war ein Papiermesser mit einem Jadeknauf*; ich sah nichts anderes. Ohne nachzudenken, steckte ich das Messer in meine Tasche und ging in den Schrank zurück. Es war selbstverständlich, dass ich mich wehren musste, wenn er mich entdeckte, und es gab keinen anderen Weg, als ihn zu töten und dann zu versuchen zu fliehen.

„Das Telefon?“ hörte ich Helen sagen. „Ich habe nichts gehört. Ich habe geschlafen. Was ist denn los?“

Es gibt einen Augenblick in großer Gefahr, wo alles in einem plötzlich so angespannt ist, als könne ein Funke es entzünden, und man würde aufflammen wie Zunder. Man ist dann fast hellsichtig, so rasch und so gleichzeitig denkt man. Ich spürte, bevor ich Georg antworten hörte, bereits, dass er nichts von mir wusste.

„Ich habe mehrere Male telefoniert“, sagte er. „Kein Mensch hat geantwortet. Auch das Mädchen nicht. Wir dachten, dir wäre was passiert. Weshalb hast du nicht aufgemacht?“

„Ich habe geschlafen“, sagte Helen ruhig. „Deshalb hatte ich auch das Telefon abgestellt. Ich habe Kopfschmerzen, und sie sind noch nicht vorbei. Du hast mich aufgeweckt.“

„Kopfschmerzen?“

„Ja. Und sie sind jetzt schlimmer als vorher. Ich habe zwei Tabletten genommen. Ich muss sie ausschlafen.“

„Schlaftabletten?“

„Tabletten gegen Kopfschmerzen. Du musst jetzt gehen, Georg. Ich muss sie ausschlafen.“

„Tabletten sind Unsinn“, erklärte Georg. „Zieh dich an und geh mit mir spazieren. Es ist wunderbar dra ußen. Frische Luft ist besser als alle Tabletten.“

„Ich habe sie bereits genommen und muss sie ausschlafen. Ich will nicht herumlaufen.“

Sie redeten eine Weile weiter. Georg wollte Helen später abholen, aber sie weigerte sich. Er fragte, ob sie genug zu essen im Hause habe. Ja, sie habe zu essen. Wo das Mädchen sei? Das Mädchen habe seinen freien Nachmittag, es komme zurück, das Abendessen zu machen.

„Es ist also alles in Ordnung?“ fragte Georg.

„Was soll denn nicht in Ordnung sein?“

„Nun, ich meine nur! Man macht sich oft unnütze Gedanken. Schließlich…“

„Was, schließlich?“ fragte Helen scharf.

„Nun, damals…“

„Was, damals?“

„Du hast recht“, sagte Georg. „Wozu darüber reden? Wenn alles in Ordnung ist, ist alles in Ordnung. Ich bin schließlich dein Bruder, da fragt man mal…“

„Ja.“

„Was?“

„Du bist mein Bruder.“

„Ich wollte, du verständest das besser. Ich meine es gut mit dir!“

„Ja, ja“, sagte Helen ungeduldig. „Du hast mir das schon oft erklärt.“

„Was hast du nur heute? Du bist doch sonst anders.“

„Ja?“

„Vernünftiger, meine ich. Wenn der alte Kram jetzt wieder losgeht…“

„Nichts geht los. Ich habe Kopfschmerzen, das ist alles! Und ich hasse es, konlrolliert zu werden.“

„Niemand kontrolliert dich! Ich bin nur besorgt um dich.“

„Sorge dich nicht. Mir fehlt nichts.“

„Das sagst du immer. Damals…“

„Wir wollen nicht von damals sprechen“, sagte Helen schroff.

„Natürlich nicht! Ich schon bestimmt nicht. Bist du beim Arzt gewesen?“

„Ja“, erwiderte Helen nach einem Augenblick.

„Was sagt er?“

„Nichts.“

„Er muss doch etwas sagen.“

„Er sagt, ich solle mich ausruhen“, sagte Helen ärgerlich. „Ich solle schlafen, wenn ich müde sei und Kopfschmerzen habe, und mich nicht streiten und auch nicht um Erlaubnis fragen, ob es mit meinen Pflichten als Volksgenossin und Bürgerin des glorreichen Tausendjährigen Reiches vereinbar wäre.“

„Hat er das gesagt?“

„Nein, er hat das nicht gesagt“, erwiderte Helen laut und schnell. „Ich habe das hinzugefügt! Er hat mir nur gesagt, mich nicht unnötig aufzuregen! Er hat also kein Verbrechen begangen und braucht in kein Konzent rationslager gebracht zu werden. Er ist ein aufrechter Anhänger der Regierung. Ist das genug?“

Georg murmelte etwas. Ich nahm an, dass er sich zum Gehen anschickte, und da ich gelernt hatte, dass das ein riskanter Augenblick ist, weil Unvorhergesehenes passieren kann, zog ich die Schranktür bis auf einen kleinen Spalt hinter mir zu. Gleich darauf hörte ich ihn in das Schlafzimmer kommen. Ich sah seinen Schatten durch den schmalen Spalt Licht gleiten und hörte, wie er ins Badezimmer ging. Mir schien, als käme Helen auch herein, aber ich sah sie nicht. Ich schloss die Schranktür ganz und stand nun im Dunkeln, das Papiermesser fest an mich gedrückt, zwischen den Kleidern Helens.

Ich wusste, dass Georg mich nicht entdeckt hatte, und ich wusste, dass er wahrscheinlich aus dem Bade-zimmer ins Wohnzimmer zurückgehen und sich verabschieden würde; trotzdem spürte ich die Enge im Halse, während zur selben Zeit der Schweiß von den Achselhöhlen am Körper heruntersickerte. Es ist anders mit der Angst vor dem Unbekannten als mit der vor etwas, was man kennt. Wenn es unbekannt ist, mag es gefährlich erscheinen, aber es ist unbestimmt, und man kann die Angst mit Disziplin oder sogar mit Tricks kontrollieren. Wenn man aber weiß, was einem bevorsteht, ist nicht viel mit Disziplin oder psychologischem Salto mortale anzufangen. Die erste Angst hatte ich gekannt, bevor ich ins Konzentrationslager gebracht worden war; die zweite spürte ich jetzt, nachdem ich wusste, was mich im Lager erwartete, wenn ich wieder eingeliefert würde.

Es war sonderbar, dass ich mir all die Zeit, seit ich die Grenze überschritten hatte, nie Rechenschaft darüber gegeben hatte und auch nicht hatte geben wollen. Es hätte mich aufgehalten, und etwas in mir wollte nicht aufgehalten werden. Dazu kam, dass unser Gedächtnis fälscht, um uns überleben zu lassen. Es versucht, das Unerträgliche zu mildern durch die Patina des Vergessens. Sie kennen das?“

„Ja, ich kenne es“, erwiderte ich. „Aber es ist kein Vergessen; es ist eine Art Halbschlaf. Ein Stoß genügt, und alles ist wieder hellwach.“

Schwarz nickte. „Ich stand in der dunklen, parfümierten Enge des Mauerverlieses*, zwischen Kleidern, eingeengt von ihnen wie von den weichen Flügeln riesiger Fledermäuse, regungslos, und atmete flach und oberflächlich, um zu vermeiden, dass die Seide raschelte oder dass ich husten oder niesen müsste. Ich begriff zum ersten Male voll, was ich getan hatte. Die Angst stieg aus dem Boden wie ein schwarzes Gas, und ich hatte Furcht zu ersticken. Mir selber war im Lager nicht das Schlimmste passiert; ich war in der üblichen Weise schlecht behandelt worden, aber man hatte mich wieder entlassen, und vielleicht hatte das dazu beigetragen, meine Erinnerung zu trüben. Jetzt aber stand plötzlich das wieder vor mir, was ich gesehen hatte, das, was anderen passiert war und wovon ich gehört und Zeichen gesehen hatte – und ich begriff den Irrsinn und die Verwirrtheit nicht, die mich dazu gebracht hatten, so gesegnete Länder zu verlassen, in denen ich für die Tatsache meiner Existenz nur mit Gefängnis und Ausweisung bestraft wurde. Sie schienen mir jetzt Häfen der Humanität zu sein.

Ich hörte Georg nebenan im Badezimmer. Die Wand war dünn, und Georg, als echter Herrenmensch, war nicht leise. Er warf den Deckel der Toilette mit einem Knall zurück und verrichtete sein Bedürfnis. Dass ich seinem Urinieren zuhören musste, erschien mir später als der Gipfel der Beschämung, obschon es mir zeigte, dass er sorglos war und keinen Verdacht hatte. Es erinnerte mich an Fälle von Diebstahl und Raub, wenn die Verbrecher, bevor sie fliehen, noch die Wohnungen beschmutzen, teils aus Hohn und teils aus Scham, weil der Drang dazu vorher ein Zeichen ihrer eigenen Angst gewesen ist.

Ich hörte die Wasserspülung rauschen, und ich hörte Georg flott und stramm das Badezimmer verlassen und durch das Schlafzimmer marschieren. Dann kam das gedämpfte Klappen der Korridortür, die Schranktür wurde aufgerissen, und Licht und die dunkle Silhou ette Helens vor dem Licht waren da. „Er ist fort“, flüsterte sie.

Ich trat hinaus, als wäre ich, in einem fernen Vergleich, ein Achill*, erwischt in Frauenkleidern. Der Wechsel von Angst zu Lächerlichkeit und Verlegenheit war so rasch, dass alle drei ineinander übergingen und zu gleicher Zeit da waren. Ich war gewohnt, dass sie rasch kamen und gingen; aber es ist ein Unterschied, ob der jähe Griff nach der Kehle eine Ausweisung oder den Tod bedeutet.

„Du musst fort“, flüsterte Helen.

Ich blickte sie an. Ich weiß nicht, warum ich etwas wie Verachtung auf ihrem Gesicht erwartet hatte; es musste damit zusammenhängen, dass ich mich selbst, eine Minute nachdem die Gefahr vorbei war, als Mann beschämt fand, etwas, was mir mit jemand anderem als Helen nie passiert wäre.

Ihr Gesicht zeigte nichts als nackte Angst. „Du musst fort“, wiederholte sie. „Es war Irrsinn, dass du hergekommen bist!“

Obschon ich das vor einem Augenblick selbst gedacht hatte, schüttelte ich den Kopf. „Jetzt nicht“, sagte ich. „In einer Stunde. Es kann sein, dass er sich noch auf der Straße herumtreibt. Kann er wiederkommen?“

„Ich glaube, nicht. Er vermutet nichts.“

Helen ging ins Wohnzimmer, drehte die Lampe ab, öffnete die Vorhänge und spähte hinaus. Das Licht vom Schlafzimmer fiel in einem goldenen Rhomboid* durch die offene Tür auf den Boden. Sie stand dahinter, vorgebeugt und angespannt, als beobachte sie ein Wild. „Du darfst nicht zum Bahnhof gehen“, flüsterte sie. „Man könnte dich erkennen. Aber du musst fort! Ich werde mir Ellas Wagen leihen und dich nach Münster bringen. Was für Narren wir gewesen sind! Du darfst nicht hier bleiben!“

Ich sah sie am Fenster stehen, nur durch eine Zimmerbreite entfernt, aber doch schon entfernt, und spürte einen scharfen Schmerz. Sie selbst schien jetzt zum ersten Male zu realisieren, dass wir uns wieder trennen mussten. Alle Vorbehalte, die während des Tages herumgespukt hatten, waren auf einmal verschwunden. Sie hatte die Gefahr gesehen, mit Augen gesehen, und das hatte alles andere beiseite gewischt. Sie war plötzlich nichts mehr als Angst und Liebe und im selben Augenblick auch bereits Abschied und Verlust. Ich erkannte es ebenso wie sie, scharf und erbarmungslos, ohne Schleier endlich und ohne Vorsicht, und die unerträgliche Erkenntnis schlug sonderbarerweise sofort um in ein ebenso unerträgliches Begehren. Ich wollte sie halten, ich musste sie halten, ich griff nach ihr, ich wollte sie haben, noch einmal, ganz, resigniert bereits, sie verlieren zu müssen, während sie noch Pläne machte, Hoffnung hatte, noch nicht aufgab, sich wehrte und flüsterte: „Nicht jetzt! Ich muss Ella anrufen! Nicht jetzt! Wir müssen doch…“

Wir mussten nichts, dachte ich. Ich hatte noch eine Stunde, und dann stürzte die Welt ab. Warum hatte ich das vorher nicht stärker gespürt? Ich hatte es gespürt, aber wozu hatte ich die Glaswand zwischen mir und meinem Gefühl nicht eingeschlagen? Wenn meine Rückkehr sinnlos war, dann war dies noch sinnloser gewesen! Ich musste etwas von Helen mitnehmen in die graue Leere, in die ich zurückkehren würde, wenn ich Glück hatte, mehr als nur die Erinnerung an Vorsicht und Sich-Umkreisen und die letzte Vereinigung zwischen Schlaf und Schlaf; ich musste Helen haben, klar, mit allen Sinnen, ihrem Gehirn, ihren Augen, ihren Gedanken, ganz, nicht nur wie ein Tier zwischen Nacht und Frühe.

Sie wehrte sich. Sie flüsterte, Georg könne zurückkommen, und ich weiß nicht, ob sie es wirklich glaubte. Ich selbst war zu oft in Gefahr gewesen, um sie nicht sofort vergessen zu können, wenn sie vorbei war – ich wollte jetzt nur eines, in diesem Zimmer mit dem Geruch nach Helens Parfüm und Kleidern und dem Bett und der Dämmerung: sie besitzen mit allem, was ich hatte, und allem, dessen ich fähig war, und das einzige, was ich schmerzhaft empfand und was die flache, dumpfe Qual des Verlustes durchstieß, war die Unfähigkeit, sie mehr und tiefer zu besitzen, als die Natur an Möglichkeiten zugab. Ich hätte mich ausbreiten mögen über sie wie eine Decke, ich hätte tausend Hände und Münder haben wollen, eine perfekte konkave* Form von ihr sein mögen, um sie überall zu fühlen, ohne einen Zwischenraum irgendwo, Haut an Haut gepreßt, und trotzdem noch mit dem Ur-Schmerz, dass es nur Haut an Haut sein konnte und nicht Blut in Blut, nicht Vereinigung anstatt Beieinandersein.“

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