1) Warum konnte Martens Schwarz nicht in seine Wohnung einladen?
2) Woran dachte Schwarz im Dom? Warum schienen ihm die Menschen im Dom den Menschen vor dem Lautsprecher ähnlich?
3) Was können Sie über Schwarz’ Einstellung zur Kirche und Religion sagen?
4) Beschreiben Sie das Treffen von Schwarz und Helen.
5) Was für ein neues Lebensgefühl bekam Schwarz nach dem Treffen mit Helen?
6) War Schwarz nur wegen Helen nach Deutschland zurückgekommen? Warum konnte er Helen den wahren Grund seiner Rückkehr nicht erklären?
Gärung die, Entstehung von Alkohol oder Säure durch chemische Prozesse
Devisen die, Pl., Geld o.Ä. in ausländischer Währung
Denunziation die, zu denunzieren, (in einem totalitären Staat aus politischen Gründen) jemanden anzeigen oder die Polizei auf etwas aufmerksam machen, was jemand macht (weil man ihm schaden will)
Kommunion die, kath., das Empfangen der Hostie (ungesäuertes Weizenbrot)
Weihwaser das, Wasser, das von einem Priester gesegnet wurde. Zur Selbstbesprengung (Kreuzzeichen) sind an den Eingangen der katholischen Kirchen Weihwasserbecken vorhanden
Scheiterhaufen der, hist., ein Holzhaufen, auf dem man Menschen, die zum Tode verurteilt wurden, öffentlich verbrannte
Monstranz die, in der katholischen Kirche Gefäss für die Ausstellung der konsekrierten Hostie (des bei der Messfeier und Kommunion gereichten ungesäuerten Weizenbrotes)
Tausendjähriges Reich, programmatisch-propagandistische Bezeichnung für das nationalsozialistische Deutschland
Hero und Leander, Liebespaar in der griechischen Dichtung. Hero, Priesterin der Aphrodite in Sestos, Geliebte des Leanders aus Abydos, der jede Nacht beim Licht ihrer Lampe zu ihr durch den Hellespont schwamm, bis er in einer Sturmnacht, als die Lampe erlosch, ertrank; beim Anblick des angestülpten Leichnams stürzte sich Hero von ihrem Turm ins Meer.
Hellespont der (altgriechische Name der Dardanellen), Meeresstraße zwischen der Halbinsel Gelibolu (Europa) und Kleinasien, verbindet das Marmormeer mit dem Ägäischen Meer
„Ich schlief nur wenige Stunden in dieser Nacht“, sagte Schwarz. „Ich war sehr müde, aber ich wachte oft auf. Die Nacht drängte von außen gegen den kleinen Raum, in dem wir lagen. Ich glaubte, Geräusche zu hören, und in sekundenlangen Halbträumen war ich auf der Flucht und schreckte hoch.
Helen wachte nur einmal auf. „Kannst du nicht schlafen?“ fragte sie durch das Dunkel. „Nein. Ich habe es auch nicht erwartet.“ Sie machte Licht. Die Schatten sprangen aus dem
Fenster. „Man kann nicht alles verlangen“, sagte ich.
„Über meine Träume habe ich keine Kontrolle. Ist noch Wein da?“
„Genug. Darin ist meine Familie zuverlässig. Seit wann trinkst du Wein?“
„Seit ich in Frankreich bin.“
„Gut“, sagte sie. „Verstehst du schon etwas davon?“
„Nicht viel. Und hauptsächlich von Rotwein. Billigem.“
Helen stand auf und ging in die Küche. Sie kam mit zwei Flaschen und einem Korkenzieher zurück. „Unser glorreicher Führer hat das alte Weingesetz modifiziert“, sagte sie. „Früher durfte bei Naturweinen kein Zucker zugefügt werden. Jetzt darf sogar die Gärung* unterbrochen werden.“
Sie sah mein verständnisloses Gesicht. „Das macht saure Weine in schlechten Jahrgängen süßer“, erklärte sie und lachte. „Ein Schwindel der Herrenrasse, um den Export zu erhöhen und Devisen* hereinzubekommen.“
Sie gab mir die Flaschen und den Korkenzieher. Ich öffnete eine Flasche Mosel. Helen brachte zwei dünne Gläser. „Woher bist du so braun?“ fragte ich.
„Ich war im März in den Bergen. Ski laufen.“
„Nackt?“
„Nein. Aber man kann nackt in der Sonne liegen.“ „Seit wann läufst du Ski?“
„Jemand hat es mir beigebracht“, erwiderte sie und sah mich herausfordernd an.
„Gut. Es soll sehr gesund sein.“
Ich füllte ein Glas und gab es ihr. Der Wein roch herber und aromatischer als die burgundischen Weine. Ich hatte keinen mehr getrunken, seit ich Deutschland verlassen hatte.
„Willst du nicht auch wissen, wer es mir beigebracht hat?“ fragte Helen.
„Nein.“
Sie sah mich überrascht an. Früher hätte ich wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch danach gefragt. Jetzt war nichts belangloser. Die schwerelose Unwirklichkeit des Abends war wieder da. „Du hast dich geändert“, sagte sie.
„Heute abend hast du mir zweimal gesagt, ich hätte mich nicht geändert“, erwiderte ich. „Das eine ist ebensowenig wichtig wie das andere.“
Sie hielt ihr Glas, ohne zu trinken. „Vielleicht möchte ich, dass du dich nicht geändert hättest.“
Ich trank. „Um mich leichter zu zerschlagen?“
„Habe ich dich früher zerschlagen?“
„Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht. Es ist sehr lange her. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals war, wüßte ich nicht, warum um die Welt du es nicht versucht haben solltest.“
„Man versucht es immer; weißt du das nicht?“
„Nein“, sagte ich. „Aber ich bin jetzt gewarnt. Der Wein ist gut. Wahrscheinlich ist bei ihm die Fermentation nicht unterbrochen worden.“
„Wie bei dir?“
„Helen“, sagte ich. „Du bist nicht nur sehr aufregend – du bist auch komisch, und das ist eine außerordentlich seltene und reizvolle Kombination.“
„Sei nicht so sicher“, erwiderte sie ärgerlich und setzte sich auf das Bett, den Wein immer noch in der Hand.
„Ich bin nicht sicher. Aber äußerste Unsicherheit kann, wenn sie nicht zum Tode führt, zu einer Sicherheit führen, die nicht zu erschüttern ist“, sagte ich lachend. „Das sind große Worte, aber sie sind nur die einfache Erfahrung eines Kugel-Daseins.“
„Was ist ein Kugel-Dasein?“
„Meines. Eines, das nirgendwo bleiben kann; das sich nie ansiedeln darf; immer im Rollen bleiben muss. Das Dasein des Emigranten. Das Dasein des indischen Bettelmönches. Das Dasein des modernen Menschen. Es gibt übrigens mehr Emigranten, als man glaubt. Auch solche, die sich nie vom Fleck gerührt haben.“
„Das klingt sehr gut“, sagte Helen. „Besser als bürgerliche Stagnation.“
Ich nickte. „Man kann es auch mit anderen Worten beschreiben; dann klingt es nicht so gut. Aber unsere Vorstellungskraft ist gottlob nicht sehr groß. Sonst würde es auch viel weniger Kriegsfreiwillige geben.“
„Alles ist besser als Stagnation“, sagte Helen und trank ihr Glas aus.
Ich betrachtete sie, während sie trank. Wie jung sie ist, dachte ich, wie jung, unerfahren, trotzig liebenswert, gefährlich und töricht. Sie weiß nichts. Nicht einmal, dass bürgerliche Stagnation ein moralischer Zustand ist; kein geographischer.
„Möchtest du in sie zurück?“ fragte sie.
„Ich glaube nicht, dass ich es könnte. Mein Vaterland hat mich wider meinen Willen zum Weltbürger gemacht. Nun muss ich es bleiben. Zurück kann man nie.“
„Auch nicht zu einem Menschen?“
„Auch nicht zu einem Menschen“, sagte ich. „Selbst die Erde führt ein Kugel-Dasein. Sie ist ein Emigrant der Sonne. Man kann nie zurück. Oder man zerkracht.“
„Gott sei Dank.“ Helen hielt mir ihr Glas hin.
„Wolltest du nie zurück?“
„Immer“, erwiderte ich. „Ich folge nie meinen Theorien. Das gibt ihnen doppelten Reiz.“ Helen lachte. „Das alles ist nicht wahr!“
„Natürlich nicht. Es ist ein bisschen Spinngewebe, tun anderes zu verdecken.“
„Was?“
„Etwas ohne Worte.“
„Etwas, das es nur nachts gibt?“ Ich antwortete nicht. Ich saß ruhig im Bett. Der Wind der Zeit hatte aufgehört zu wehen. Er sauste mir nicht mehr in den Ohren. Es war, als ob ich aus einem Flugzeug in einen Ballon gekommen wäre. Ich schwebte und flog noch; aber der Lärm der Motoren war verstummt.
„Wie heißt du jetzt?“ fragte Helen.
„Josef Schwarz.“
Sie grübelte einen Augenblick. „Heiße ich dann jetzt auch Schwarz?“
Ich musste lächeln. „Nein, Helen. Es ist nur irgendein Name. Der Mann, von dem ich ihn habe, hatte ihn auch schon geerbt. Ein ferner, toter Josef Schwarz lebt wie der Ewige Jude in mir bereits in der dritten Generation weiter. Ein fremder, toter Geistesahne.“
„Du kennst ihn nicht?“
„Nein.“
„Fühlst du dich anders, seit du einen anderen Namen hast?“
„Ja“, sagte ich. „Weil ein Stück Papier dazugehört. Ein Pass.“
„Auch wenn er falsch ist?“
Ich lachte. Es war eine Frage aus einer anderen Welt. Wie falsch und wie echt ein Pass war, lag an dem Polizisten, der ihn kontrollierte. „Man könnte darüber eine philosophische Parabel erfinden“, sagte ich. „Sie müsste damit beginnen, zu untersuchen, was ein Name ist. Ein Zufall oder eine Identifikation.“
„Ein Name ist ein Name“, erwiderte Helen plötzlich störrisch. „Ich habe meinen verteidigt. Es war deiner. Jetzt kommst du und hast irgendwo einen anderen gefunden.“
„Er ist mir geschenkt worden“, sagte ich. „Es war das kostbarste Geschenk der Welt für mich. Ich trage ihn mit Freude. Er bedeutet Güte für mich. Menschlichkeit. Wenn ich verzweifeln sollte, irgendwann, wird er mich daran erinnern, dass Güte nicht tot ist. Woran erinnert dich deiner? An ein Geschlecht preußischer Krieger und Jäger mit dem Weltbild von Füchsen, Wölfen und Pfauen.“
„Ich habe nicht vom Namen meiner Familie gesprochen“, erwiderte Helen und ließ einen Pantoffel auf ihren Zehen balancieren. „Ich trage auch noch deinen. Den früheren, Herr Schwarz.“
Ich öffnete die zweite Flasche Wein. „Man hat mir erzählt, dass es in Indonesien Sitte sei, ab und zu die Namen zu wechseln. Wenn jemand seiner Persönlichkeit müde wird, wechselt er sie, ergreift einen neuen Namen und beginnt ein neues Dasein. Eine gute Idee!“
„Hast du ein neues Dasein angefangen?“
„Heute“, sagte ich.
Sie ließ den Pantoffel auf den Boden gleiten. „Nimmt man nichts in ein neues Dasein mit?“ „Ein Echo“, sagte ich.
„Keine Erinnerung?“
„Das ist ein Echo. Erinnerung, die nicht mehr schmerzt und beschämt.“
„Als sähe man einen Film?“ fragte Helen. Ich blickte sie an. Sie sah aus, als würde sie mir im nächsten Augenblick ihr Glas an den Kopf werfen. Ich nahm es ihr aus der Hand und goss den Wein aus der zweiten Flasche ein.
„Was ist das für einer?“ fragte ich.
„Schloss Reinhartshausener. Ein großer Rheinwein. Voll ausgereift. Nicht unterbrochen in der Gärung. Gleichgeblieben in seinem Charakter. Nicht zu einem Pfälzer umgedeutet.“
„Kein Emigrant also?“ sagte ich. „Kein Chamäleon, das seine Farbe wechselt. Nicht jemand, der sich seiner Verantwortung entzieht.“
„Mein Gott, Helen!“ sagte ich. „Höre ich die Flügel bürgerlicher Wohlanständigkeit rauschen? Wolltest du nicht ihrer Stagnation entgehen?“
„Du machst mich Dinge sagen, die ich nicht meine“, erwiderte sie zornig. „Wovon reden wir hier? Und wozu? In der ersten Nacht! Warum küssen wir uns nicht oder hassen uns?“
„Wir küssen und hassen uns.“
„Das sind Worte! Woher hast du all die vielen Worte? Ist es richtig, dass wir hier so sitzen und so reden?“
„Ich weiß nicht, was richtig ist.“
„Woher hast du dann all die Worte? Hast du drüben so viel geredet und so viel Gesellschaft gehabt?“
„Nein“, sagte ich. „So wenig. Deshalb kommen die Worte jetzt herausgestürzt wie Äpfel aus einem Korb. Ich bin ebenso überrascht wie du.“
„Ist das wahr?“
„Ja, Helen“, sagte ich. „Es ist wahr. Siehst du denn nicht, was es heißt?“
„Kannst du es nicht einfacher sagen?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“
„Weil ich Angst vor Feststellungen habe. Und Angst vor Worten, die etwas feststellen. Du magst es nicht glauben, aber es ist so. Dazu kommt noch die Angst vor der anonymen Angst, die irgendwo draußen durch die Straßen schleicht, an die ich nicht denken und von der ich nicht reden will, weil ein dummer Aberglaube in mir annimmt, dass die Gefahr nicht existiere, solange ich sie nicht zur Kenntnis nehme. Deshalb haben wir dieses abwegige Gespräch. Die Zeit scheint dadurch aufgehoben zu sein, so wie in einem Film, der gerissen ist. Plötzlich steht alles still, so dass nichts passieren kann.“
„Das ist mir zu kompliziert.“
„Mir auch. Ist es nicht genug, dass ich hier bin, bei dir, dass du noch lebst und dass ich noch nicht wieder gefangen bin?“
„Bist du deshalb gekommen?“
Ich antwortete nicht. Sie saß da wie eine zierliche
Amazone, nackt, mit einem Glas Wein in der Hand, fordernd, nicht ausweichend, listig und kühn, und ich erkannte, dass ich früher nichts von ihr gewusst hatte. Ich begriff nicht, wie sie es mit mir ausgehalten hatte, und ich kam mir vor wie jemand, der geglaubt hat, ein hübsches Lamm zu besitzen und für es zu sorgen, wie man für ein hübsches Lamm sorgt, und der auf einmal entdeckt, dass er einen jungen Puma unter den Händen hat, der keinen Sinn für blaue Halsbänder und weiche Bürsten hat, sondern durchaus fähig ist, die streichelnde Hand zu zerbeißen.
Ich befand mich auf gefährlichem Grund. Wie Sie sich denken können, war geschehen, was vorauszusehen war in der ersten Nacht; ich hatte versagt in der primitivsten Weise. Ich hatte es vorausgeahnt, und vielleicht war es auch so gekommen, weil ich es erwartet hatte. Tatsache war, dass ich unfähig gewesen war, aber, weil ich es erwartete, zum Glück nicht die verzweifelten Versuche angestellt hatte, die sonst in solchen Fällen gemacht werden. Man kann noch so überlegen sein wollen und erklären, dass nur Stallburschen dagegen immun seien, und Frauen mögen vorgeben, dass sie es verstehen und den Verzweifelten mit fataler Mütterlichkeit trösten – es bleibt trotzdem eine verdammte Sache, bei der jedes Pathos schauder haft lächerlich wird.
Da ich keine der üblichen Erklärungen abgegeben hatte, war Helen gestört und griff mich an. Sie konnte nicht begreifen, weshalb ich sie nicht genommen hatte, und fühlte sich beleidigt. Ich hätte ihr einfach die Wahrheit sagen können, aber ich war nicht ruhig genug dazu. Es gibt da auch zwei Wahrheiten – eine, bei der man sich preisgibt, und eine zweite strategische, bei der man nichts preisgibt. Ich hatte in fünf Jahren gelernt, dass, wenn man sich preisgibt, man sich nicht wundern soll, dass auf einen geschossen wird.
„Menschen in meiner Lage sind abergläubisch geworden“, sagte ich zu Helen. „Sie glauben, wenn sie etwas direkt sagen oder tun, würde das Gegenteil geschehen. Deshalb sind sie vorsichtig. Auch mit Worten.“
„Was für ein Unsinn!“
Ich lachte. „Den Glauben an den Sinn habe ich längst aufgegeben. Ich wäre sonst bitter wie eine wilde Zitrone geworden.“
„Ich hoffe, dein Aberglaube geht nicht zu weit.“
„Nur so weit, Helen“, sagte ich sehr ruhig, „dass ich glaube, wenn ich dir sagte, dass ich dich über alle Maßen liebe, ich erwarten würde, die Gestapo eine Minute später gegen die Tür schlagen zu hören.“
Sie hielt eine Sekunde still wie ein Tier, das ein ungewohntes Geräusch gehört hat. Dann wendete sie mir langsam ihr Gesicht zu. Es war erstaunlich, wie es sich verändert hatte. „Ist das wirklich der Grund?“ fragte sie leise.
„Es ist nur einer“, erwiderte ich. „Wie kannst du erwarten, dass ich Ordnung in meinen Gedanken habe, wenn ich gerade aus einer trostlosen Hölle in ein gefährliches Paradies gespült worden bin?“
„Ich habe manchmal darüber nachgedacht, wie es sein würde, wenn du zurückkämest“, sagte sie nach einer Weile. „Es war ganz anders.“
Ich hütete mich zu fragen, wie es anders gewesen wäre. Man fragt in der Liebe immer zuviel, und wenn man anfängt, die Antworten wirklich wissen zu wollen, ist sie bald vorbei. „Es ist immer anders“, sagte ich. „Gott sei Dank!“
Sie lächelte. „Es ist nie anders, Josef. Es sieht nur anders aus. Ist noch Wein da?“
Sie ging um das Bett herum wie eine Tänzerin, stellte ihr Glas auf den Boden neben sich und streckte sich aus. Sie war braun von einer fremden Sonne und sorglos in ihrer Nacktheit wie eine Frau, die nicht nur weiß, dass sie begehrt wird, sondern der es auch oft gesagt worden ist.
„Wann muss ich gehen?“ fragte ich.
„Das Mädchen kommt morgen nicht zurück.“
„Übermorgen?“
Helen nickte. „Es war einfach. Heute ist Sonnabend. Ich habe ihr Urlaub über das Wochenende gegeben. Sie kommt Montag mittag zurück. Sie hat einen Geliebten. Einen Polizisten mit einer Frau und zwei Kindern.“ Sie sah mich aus halbgeschlossenen Augen an. „Sie war glücklich.“
Von draußen kamen Marschtritte und Gesang.
„Was ist das?“ fragte ich.
„Soldaten oder Hitlerjugend. Irgendeine Gruppe marschiert immer irgendwo in Deutschland.“
Ich stand auf und blickte durch einen Spalt in den Vorhängen. Es war eine Abteilung Hitlerjugend.
„Merkwürdig, dass du in deiner Familie so aus der Art geschlagen bist“, sagte ich.
„Es muss die französische Großmutter sein“, erklärte Helen. „Wir haben eine. Sie wird verheimlicht, als wäre sie jüdisch.“
Sie gähnte und streckte sich. Sie war plötzlich ganz gelassen, als hätten wir bereits seit Wochen wieder miteinander gelebt und als bestände auch von draußen keine Gefahr mehr. Wir hatten beide bis jetzt möglichst vermieden, darüber zu sprechen. Helen hatte mich bisher auch mit keinem Wort nach meinem Leben im Exil gefragt. Ich wusste nicht, dass sie mich durchschaut und inzwischen einen Entschluss gefasst hatte. „Willst du nicht noch schlafen?“ fragte sie. Es war ein Uhr nachts. Ich legte mich nieder.
„Können wir ein Licht brennen lassen?“ fragte ich. „Ich schlafe so besser. Ich bin an die deutsche Dunkelheit noch nicht gewöhnt.“
Sie sah mich rasch an. „Lass sie alle brennen, wenn du willst, Liebster.“
Wir lagen dicht beieinander. Ich konnte mich kaum noch daran erinnern, dass wir früher einmal jede Nacht im selben Bett miteinander geschlafen hatten. Es war wie ein blasser Schatten, eine Erinnerung ohne Farbe. Helen war da, aber völlig anders, in einer sonderbar fremden Vertrautheit; ich erkannte nur noch das Anonyme an ihr wieder, ihren Atem, den Geruch des Haares, am meisten aber den ihrer Haut, verloren gewesen für so lange Zeit und noch nicht voll wieder da, aber doch schon da und bereits klüger als das Hirn. Der Trost der Haut eines geliebten Menschen! Wieviel klüger ist sie und wieviel ausdrucksvoller als der Mund mit seinen Lügen! Ich lag lange wach in dieser Nacht und hielt Helen in meinen Armen und sah das Licht und den halbhellen Raum, den ich kannte und nicht kannte, und ich fragte mich schließlich nichts mehr. Helen wachte noch einmal auf. „Hast du viele Frauen gehabt in Frankreich?“ murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Nicht mehr, als notwendig waren“, erwiderte ich. „Und keine so wie dich.“
Sie seufzte und wollte sich umdrehen, aber der Schlaf überwältigte sie wieder, bevor sie es tun konnte. Sie sank zurück. Langsam kam der Schlaf auch über mich, die Träume blieben aus, die Stille und der Atem Helens füllten mich, und gegen Morgen erwachte ich, nichts war mehr zwischen uns, was uns trennte, ich nahm sie, und sie kam willig, und wir fielen zurück in den Schlaf wie in eine Wolke, in der es schimmerte und nicht mehr dunkel war.“