Verlegenheit eines treuen Kammerdieners. – Wie die alte Liese eine Rebellion anzettelte und der Minister Zinnober auf der Flucht ausglitschte. – Auf welche merkwürdige Weise der Leibarzt des Fürsten Zinnobers jähen Tod erklärte. – Wie Fürst Barsanuph sich betrübte, Zwiebeln aß, und wie Zinnobers Verlust unersetzlich blieb.
Der Wagen des Ministers Zinnober hatte beinahe die ganze Nacht vergeblich vor Mosch Terpins Hause gehalten. Ein Mal über das andere versicherte man dem Jäger, Se. Exzellenz müssten schon lange die Gesellschaft verlassen haben; der meinte aber dagegen, das sei ganz unmöglich, da Se. Exzellenz doch wohl nicht im Regen und Sturm zu Fuß nach Hause gerannt sein würde. Als nun endlich alle Lichter ausgelöscht und die Türen verschlossen wurden, musste der Jäger zwar fortfahren mit dem leeren Wagen, im Hause des Ministers weckte er aber sogleich den Kammerdiener und fragte, ob denn ums Himmels willen und auf welche Art der Minister nach Hause gekommen. «Se. Exzellenz,» erwiderte der Kammerdiener leise dem Jäger ins Ohr, «Se. Exzellenz sind gestern eingetroffen in später Dämmerung, das ist ganz gewiss – liegen im Bette und schlafen. – Aber! – o mein guter Jäger! – wie – auf welche Weise! – ich will Ihnen alles erzählen – doch Siegel auf den Mund – ich bin ein verlornen Mann, wenn Se. Exzellenz erfahren, dass ich es war auf dem finstern Korridor! – ich komme um meinen Dienst, denn Se. Exzellenz sind zwar von kleiner Statur, besitzen aber außerordentlich viel Wildheit, alterieren sich leicht, kennen sich selbst nicht im Zorn, haben noch gestern eine schnöde Maus, die durch Se. Exzellenz Schlafzimmer zu hüpfen sich unterfangen, mit dem blank gezogenen Degen durch und durch gerannt. – Nun gut! – Also in der Dämmerung nehme ich mein Mäntelchen um und will ganz sachte hinüberschleichen ins Weinstübchen zu einer Partie Tric-Trac, da schurrt und schlurrt mir etwas auf der Treppe entgegen und kommt mir auf dem finstern Korridor zwischen die Beine und schlägt hin auf den Boden und erhebt ein gellendes Katzengeschrei und grunzt dann wie – o Gott – Jäger! – halten Sie das Maul, edler Mann, sonst bin ich hin! – kommen Sie ein wenig näher – und grunzt dann, wie unsere gnädige Exzellenz zu grunzen pflegt, wenn der Koch die Kälberkeule verbraten oder ihm sonst im Staate was nicht recht ist.»
Die letzten Worte hatte der Kammerdiener dem Jäger mit vorgehaltener Hand ins Ohr gesprochen. Der Jäger fuhr zurück, schnitt ein bedenkliches Gesicht und rief: «Ist es möglich!»
«Ja,» fuhr der Kammerdiener fort, «es war unbezweifelt unsere gnädige Exzellenz, was mir auf dem Korridor durch die Beine fuhr. Ich vernahm nun deutlich, wie der Gnädige in den Zimmern die Stühle heranrückte und sich die Türe eines Zimmers nach dem andern öffnete, bis er in sein Schlafkabinett angekommen. Ich wagt’ es nicht nachzugehen, aber ein paar Stündchen nachher schlich ich mich an die Türe des Schlafkabinetts und horchte. Da schnarchten die liebe Exzellenz ganz auf die Weise, wie es zu geschehen pflegt, wenn Großes im Werke. – Jäger! ’es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als unsere Weisheit sich träumt,’ das hört’ ich einmal auf dem Theater einen melancholischen Prinzen sagen, der ganz schwarz ging und sich vor einem ganz in grauen Pappendeckel gekleideten Mann sehr fürchtete. – Jäger! – es ist gestern irgend etwas Erstaunliches geschehen, das die Exzellenz nach Hause trieb. Der Fürst ist bei dem Professor gewesen, vielleicht äußerte er das und das – irgendein hübsches Reformchen – und da ist nun der Minister gleich drüber her, läuft aus der Verlobung heraus und fängt an zu arbeiten für das Wohl der Regierung. – Ich hört’s gleich am Schnarchen; ja Großes, Entscheidendes wird geschehen! – O Jäger – vielleicht lassen wir alle über kurz oder lang uns wieder die Zöpfe wachsen! – Doch, teurer Freund, lassen Sie uns hinabgehen und als treue Diener an der Türe des Schlafzimmers lauschen, ob Se. Exzellenz auch noch ruhig im Bette liegen und die inneren Gedanken ausarbeiten.»
Beide, der Kammerdiener und der Jäger, schlichen sich hin an die Türe und horchten. Zinnober schnurrte und orgelte und pfiff durch die wundersamsten Tonarten. Beide Diener standen in stummer Ehrfurcht, und der Kammerdiener sprach tiefgerührt: «Ein großer Mann ist doch unser gnädige Herr Minister!»
Schon am frühsten Morgen entstand unten im Hause des Ministers ein gewaltiger Lärm. Ein altes, erbärmlich in längst verblichenen Sonntagsstaat gekleidetes Bauerweib hatte sich ins Haus gedrängt und dem Portier angelegen, sie sogleich zu ihrem Söhnlein, zu Klein Zaches zu führen. Der Portier hatte sie bedeutet, dass Se. Exzellenz der Herr Minister von Zinnober, Ritter des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen, im Hause wohne, und niemand von der Dienerschaft Klein Zaches hieße oder so genannt werde. Da hatte das Weib aber ganz tolljubelnd geschrien, der Herr Minister Zinnober mit zwanzig Knöpfen, das sei eben ihr liebes Söhnlein, der Klein Zaches. Auf das Geschrei des Weibes, auf die donnernden Flüche des Portiers war alles aus dem ganzen Hause zusammengelaufen, und das Getöse wurde ärger und ärger. Als der Kammerdiener hinabkam, um die Leute auseinander zu jagen, die Se. Exzellenz so unverschämt in der Morgenruhe störten, warf man eben das Weib, die alle für wahnsinnig hielten, zum Hause heraus.
Auf die steinernen Stufen des gegenüberstehenden Hauses setzte sich nun das Weib hin und schluchzte und lamentierte, dass das grobe Volk da drinnen sie nicht zu ihrem Herzenssöhnlein, zu dem Klein Zaches, der Minister geworden, lassen wolle. Viele Leute versammelten sich nach und nach um sie her, denen sie immer und immer wiederholte, dass der Minister Zinnober niemand anders sei, als ihr Sohn, den sie in der Jugend Klein Zaches geheißen; so dass die Leute zuletzt nicht wussten, ob sie die Frau für toll halten oder gar ahnen sollten, dass wirklich was an der Sache.
Die Frau wandte nicht die Augen weg von Zinnobers Fenster. Da schlug sie mit einemmal eine helle Lache auf, klopfte die Hände zusammen und rief jubelnd überlaut: «Da ist er – da ist er, mein Herzensmännlein – mein kleines Koboldchen – Guten Morgen, Klein Zaches! – Guten Morgen, Klein Zaches!» – Alle Leute kuckten hin, und als sie den kleinen Zinnober gewahrten, der in seinem gestickten Scharlachkleide, das Ordensband des grüngefleckten Tigers umgehängt, vor dem Fenster stand, das hinabging bis an den Fußboden, so dass seine ganze Figur durch die großen Scheiben deutlich zu sehen, lachten sie ganz übermäßig und lärmten und schrien: «Klein Zaches – Klein Zaches! Ha, seht doch den kleinen geputzten Pavian – die tolle Missgeburt – das Wurzelmännlein – Klein Zaches! Klein Zaches!» – Der Portier, alle Diener Zinnobers rannten heraus, um zu erschauen, worüber das Volk denn so unmäßig lache und jubiliere. Aber kaum erblickten sie ihren Herren, als sie noch ärger als das Volk im tollsten Gelächter schrien: «Klein Zaches – Klein Zaches – Wurzelmann – Däumling – Alraun!»
Der Minister schien erst jetzt zu gewahren, dass der tolle Spuk auf der Straße niemand anderm gelte, als ihm selbst. Er riss das Fenster auf, schaute mit zornfunkelnden Augen herab, schrie, raste, machte seltsame Sprünge vor Wut – drohte mit Wache Polizei – Stockhaus und Festung.
Aber je mehr die Exzellenz tobte im Zorn, desto ärger wurde Tumult und Gelächter, man fing an mit Steinen – Obst – Gemüse oder was man eben zur Hand bekam, nach dem unglücklichen Minister zu werfen – er musste hinein! -
«Gott im Himmel,» rief der Kammerdiener entsetzt, «aus dem Fenster der gnädigen Exzellenz kuckte ja das kleine abscheuliche Ungetüm heraus – Was ist das? – wie ist der kleine Hexenkerl in die Zimmer gekommen?» – Damit rannte er hinauf, aber so wie vorher fand er das Schlafkabinett des Ministers fest verschlossen. Er wagte leise zu pochen! – Keine Antwort!
Indessen war, der Himmel weiß, auf welche Weise, ein dumpfes Gemurmel im Volke entstanden, das kleine lächerliche Ungetüm dort oben sei wirklich Klein Zaches, der den stolzen Namen Zinnober angenommen und sich durch allerlei schändlichen Lug und Trug aufgeschwungen. Immer lauter und lauter erhoben sich die Stimmen. «Hinunter mit der kleinen Bestie – hinunter – klopft dem Klein Zaches die Ministerjacke aus – sperrt ihn in den Käficht – lasst ihn für Geld sehen auf dem Jahrmarkt! – Beklebt ihn mit Goldschaum und beschert ihn den Kindern zum Spielzeug! – Hinauf – hinauf!» – Und damit stürmte das Volk an gegen das Haus.
Der Kammerdiener rang verzweiflungsvoll die Hände. «Rebellion – Tumult – Exzellenz – machen Sie auf – retten Sie sich!» – so schrie er; aber keine Antwort, nur ein leises Stöhnen ließ sich vernehmen.
Die Haustüre wurde eingeschlagen, das Volk polterte unter wildem Gelächter die Treppe herauf.
«Nun gilt’s,» sprach der Kammerdiener und rannte mit aller Macht an gegen die Türe des Kabinetts, dass sie klirrend und rasselnd aus den Angeln sprang. – Keine Exzellenz – kein Zinnober zu finden!
«Exzellenz – gnädigste Exzellenz – vernehmen Sie denn nicht die Rebellion? – Exzellenz – gnädigste Exzellenz, wo hat sie denn der – Gott verzeih’ mir die Sünde, wo geruhen Sie sich denn zu befinden!»
So schrie der Kammerdiener, in heller Verzweiflung durch die Zimmer rennend. Aber keine Antwort, kein Laut, nur der spottende Widerhall tönte von den Marmorwänden. Zinnober schien spurlos, tonlos verschwunden. – Draußen war es ruhiger geworden, der Kammerdiener vernahm die tiefe klangvolle Stimme eines Frauenzimmers, die zum Volke sprach, und gewahrte, durchs Fenster blickend, wie die Menschen nach und nach, leise miteinander murmelnd, das Haus verließen, bedenkliche Blicke hinaufwerfend nach den Fenstern. «Die Rebellion scheint vorüber,» sprach der Kammerdiener, «nun wird die gnädige Exzellenz wohl hervorkommen aus ihrem Schlupfwinkel.»
Er ging nach dem Schlafkabinett zurück, vermutend, dort werde der Minister sich doch wohl am Ende befinden.
Er warf spähende Blicke rings umher, da wurde er gewahr, wie aus einem schönen silbernen Henkelgefäss, das immer dicht neben der Toilette zu stehen pflegte, weil es der Minister als ein teures Geschenk des Fürsten sehr wert hielt, ganz kleine dünne Beinchen hervorstarrten.
«Gott – Gott,» schrie der Kammerdiener entsetzt, «Gott! – Gott! – täuscht mich nicht alles, so gehören die Beinchen dort Se. Exzellenz dem Herrn Minister Zinnober, meinem gnädigen Herrn!» – Er trat hinan, er rief, durchbebt von allen Schauern des Schrecks, indem er herabschaute: «Exzellenz – Exzellenz – um Gott, was machen Sie – was treiben Sie da unten in der Tiefe!»
Da aber Zinnober still blieb, sah der Kammerdiener wohl die Gefahr ein, in der die Exzellenz schwebte, und dass es an der Zeit sei, allen Respekt beiseite zu setzen. Er packte den Zinnober bei den Beinchen – zog ihn heraus! – Ach tot – tot war die kleine Exzellenz! Der Kammerdiener brach aus in lautes Jammern; der Jäger, die Dienerschaft eilte herbei, man rannte nach dem Leibarzt des Fürsten. Indessen trocknete der Kammerdiener seinen armen unglücklichen Herrn ab mit saubern Handtüchern, legte ihn ins Bett, bedeckte ihn mit seidenen Kissen, so dass nur das kleine verschrumpfte Gesichtchen sichtbar blieb.
Hinein trat nun das Fräulein von Rosenschön. Sie hatte erst, der Himmel weiß, auf welche Art, das Volk beruhigt. Nun schritt sie zu auf den entseelten Zinnober, ihr folgte die alte Liese, des kleinen Zaches leibliche Mutter. – Zinnober sah in der Tat hübscher aus im Tode, als er jemals in seinem ganzen Leben ausgesehen. Die kleinen Äugelein waren geschlossen, das Näschen sehr weiß, der Mund zum sanften Lächeln ein wenig verzogen, aber vor allen Dingen wallte das dunkelbraune Haar in den schönsten Locken herab. Über das Haupt hin strich das Fräulein den Kleinen, und in dem Augenblick blitzte in mattem Schimmer ein roter Streif hervor.
«Ha,» rief das Fräulein, indem ihr die Augen vor Freude glänzten, «ha, Prosper Alpanus! – hoher Meister, du hältst Wort! – Verbüßt ist sein Verhängnis und mit ihm alle Schmach!»
«Ach,» sprach die alte Liese, «ach du lieber Gott, das ist ja doch wohl nicht mein kleiner Zaches, so hübsch hat der niemals ausgesehen. Da bin ich doch nun ganz umsonst nach der Stadt gegangen, und Ihr habt mir gar nicht gut geraten, mein gnädiges Fräulein!»
«Murrt nur nicht, Alte,» erwiderte das Fräulein, «hättet Ihr nur meinen Rat ordentlich befolgt, und wäret Ihr nicht früher, als ich hier war, in dies Haus gedrungen, alles stünde für Euch besser. – Ich wiederhole es, der Kleine, der dort tot im Bette liegt, ist gewiss und wahrhaftig Euer Sohn, Klein Zaches!»
«Nun,» rief die Frau mit leuchtenden Augen, «nun wenn die kleine Exzellenz dort wirklich mein Kind ist, so erb’ ich ja wohl all die schönen Sachen, die hier rings umherstehen, das ganze Haus mit allem, was drinnen ist?»
«Nein,» sprach das Fräulein, «das ist nun ganz und gar vorbei, Ihr habt den rechten Augenblick verfehlt, Geld und Gut zu gewinnen. – Euch ist, ich habe es gleich gesagt, Euch ist nun einmal Reichtum nicht beschieden.»
«So darf ich,» fuhr die Frau fort, indem ihr die Tränen in die Augen traten, «so darf ich denn nicht wenigstens mein armes kleines Männlein in die Schürze nehmen und nach Hause tragen? – Unser Herr Pfarrer hat so viel hübsche ausgestopfte Vögelein und Eichkätzchen, der soll mir meinen Klein Zaches ausstopfen lassen, und ich will ihn auf meinen Schrank stellen, wie er da ist im roten Rock mit dem breiten Bande und dem großen Stern auf der Brust, zum ewigen Andenken!»
«Das ist,» rief das Fräulein beinahe unwillig, «das ist ein ganz einfältiger Gedanke, das geht ganz und gar nicht an!»
Da fing das Weib an zu schluchzen, zu klagen, zu lamentieren. «Was hab’ ich,» sprach sie, «nun davon, dass mein Klein Zaches zu hohen Würden, zu großem Reichtum gelangt ist! – Wär’ er nur bei mir geblieben, hätt’ ich ihn nur aufgezogen in meiner Armut, niemals wär’ er in jenes verdammte silberne Ding gefallen, er lebte noch, und ich hätt’ vielleicht Freude und Segen von ihm gehabt. Trug ich ihn so herum in meinem Holzkorb, Mitleiden hätten die Leute gefühlt und mir manches schöne Stücklein Geld zugeworfen, aber nun».
Es ließen sich Tritte im Vorsaal vernehmen, das Fräulein trieb die Alte hinaus, mit der Weisung, sie solle unten vor der Türe warten, im Wegfahren wolle sie ihr ein untrügliches Mittel vertrauen, wie sie all ihre Not, all ihr Elend mit einemmal enden könne.
Nun trat Rosabelverde noch einmal dicht an den Kleinen heran und sprach mit der weichen bebenden Stimme des tiefen Mitleids:
«Armer Zaches! – Stiefkind der Natur! – ich hatt’ es gut mit dir gemeint! – Wohl mocht’ es Torheit sein, dass ich glaubte, die äußere schöne Gabe, womit ich dich beschenkt, würde hineinstrahlen in dein Inneres und eine Stimme erwecken, die dir sagen müsste: ’Du bist nicht der, für den man dich hält, aber strebe doch nur an, es dem gleichzutun, auf dessen Fittichen du Lahmer, Unbefiederter dich aufschwingst!’ – Doch keine innere Stimme erwachte. Dein träger toter Geist vermochte sich nicht emporzurichten, du ließest nicht nach in deiner Dummheit, Grobheit, Ungebärdigkeit – Ach! – wärst du nur ein geringes Etwas weniger, ein kleiner ungeschlachter Rüpel geblieben, du entgingst dem schmachvollen Tode! – Prosper Alpanus hat dafür gesorgt, dass man dich jetzt im Tode wieder dafür hält, was du im Leben durch meine Macht zu sein schienst. Sollt’ ich dich vielleicht gar noch wiederschauen als kleiner Käfer – flinke Maus oder behende Eichkatze, so soll es mich freuen! – Schlafe wohl, Klein Zaches!»
Indem Rosabelverde das Zimmer verließ, trat der Leibarzt des Fürsten mit dem Kammerdiener hinein.
«Um Gott,» rief der Arzt, als er den toten Zinnober erblickte und sich überzeugte, dass alle Mittel, ihn ins Leben zu rufen, vergeblich bleiben würden, «um Gott, wie ist das zugegangen, Herr Kämmerer?»
«Ach,» erwiderte dieser, «ach, lieber Herr Doktor, die Rebellion oder die Revolution, es ist all eins, wie Sie es nennen wollen, tobte und hantierte draußen auf dem Vorsaale ganz fürchterlich. Se. Exzellenz, besorgt um ihr teures Leben, wollten gewiss in die Toilette hineinflüchten, glitschten aus und»
«So ist,» sprach der Doktor feierlich und bewegt, «so ist er aus Furcht zu sterben gar gestorben!»
Die Türe sprang auf, und hinein stürzte Fürst Barsanuph mit verbleichtem Antlitz, hinter ihm her sieben noch bleichere Kammerherrn.
«Ist es wahr, ist es wahr?» rief der Fürst; aber sowie er des Kleinen Leichnam erblickte, prallte er zurück und sprach, die Augen den Himmel gerichtet, mit dem Ausdruck des tiefsten Schmerzes: «O Zinnober!» – Und die sieben Kammerherrn riefen dem Fürsten nach: «O Zinnober!» und holten, wie es der Fürst tat, die Schnupftücher aus der Tasche und hielten sie sich vor die Augen.
«Welch ein Verlust,» begann nach einer Weile des lautlosen Jammers der Fürst, «welch ein unersetzlicher Verlust für den Staat! – Wo einen Mann finden, der den Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen mit der Würde trägt, als mein Zinnober! – Leibarzt, und Sie konnten mir den Mann sterben lassen! – Sagen Sie – wie ging das zu, wie mochte das geschehen – was war die Ursache – woran starb der Vortrefliche?»
Der Leibarzt beschaute den Kleinen sehr sorgsam, befühlte manche Stellen ehemaliger Pulse, strich das Haupt entlang, räusperte sich und begann: «Mein gnädigster Herr! Sollte ich mich begnügen, auf der Oberfläche zu schwimmen, ich könnte sagen, der Minister sei an dem gänzlichen Ausbleiben des Atems gestorben, dies Ausbleiben des Atems sei bewirkt durch die Unmöglichkeit Atem zu schöpfen, und diese Unmöglichkeit wieder nur herbeigeführt durch das Element, durch den Humor, in den der Minister stürzte. Ich könnte sagen, der Minister sei auf diese Weise einen humoristischen Tod gestorben, aber fern von mir sei diese Seichtigkeit, fern von mir die Sucht, alles aus schnöden physischen Prinzipien erklären zu wollen, was nur im Gebiet des rein Psychischen seinen natürlichen unumstößlichen Grund findet. – Mein gnädigster Fürst, frei sei des Mannes Wort! – Den ersten Keim des Todes fand der Minister im Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen!»
«Wie,» rief der Fürst, indem er den Leibarzt mit zornglühenden Augen anfunkelte, «wie! – was sprechen Sie? – der Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen, den der Selige zum Wohl des Staats mit so vieler Anmut, mit so vieler Würde trug? – der Ursache seines Todes? – Beweisen Sie mir das, oder – Kammerherrn, was sagt ihr dazu?»
«Er muss beweisen, er muss beweisen, oder» – riefen die sieben blassen Kammerherrn, und der Leibarzt fuhr fort:
«Mein bester gnädigster Fürst, ich werd’ es beweisen, also kein oder! – Die Sache hängt folgendermaßen zusammen: Das schwere Ordenszeichen am Bande, vorzüglich aber die Knöpfe auf dem Rücken wirkten nachteilig auf die Ganglien des Rückgrats. Zu gleicher Zeit verursachte der Ordensstern einen Druck auf jenes knotige fadichte Ding zwischen dem Dreifuß und der obern Gekröspulsader, das wir das Sonnengeflecht nennen, und das in dem labyrinthischen Gewebe der Nervengeflechte prädominiert. Dies dominierende Organ steht in der mannigfaltigsten Beziehung mit dem Zerebralsystem, und natürlich war der Angriff auf die Ganglien auch diesem feindlich. Ist aber nicht die freie Leitung des Zerebralsystems die Bedingung des Bewusstseins, der Persönlichkeit, als Ausdruck der vollkommensten Vereinigung des Ganzen in einem Brennpunkt? Ist nicht der Lebensprozess die Tätigkeit in beiden Sphären, in dem Ganglienund Zerebralsystem? – Nun! genug, jener Angriff störte die Funktionen des psychischen Organism. Erst kamen finstre Ideen von unerkannten Aufopferungen für den Staat durch das schmerzhafte Tragen jenes Ordens u.s.w., immer verfänglicher wurde der Zustand, bis gänzliche Disharmonie des Ganglien- und Zerebralsystems endlich gänzliches Aufhören des Bewusstseins, gänzliches Aufgeben der Persönlichkeit herbeiführte. Diesen Zustand bezeichnen wir aber mit dem Worte Tod! – Ja, gnädigster Herr! – der Minister hatte bereits seine Persönlichkeit aufgegeben, war also schon mausetot, als er hineinstürzte in jenes verhängnisvolle Gefäß. – So hatte sein Tod keine physische, wohl aber eine unermesslich tiefe psychische Ursache.»
«Leibarzt,» sprach der Fürst unmutig, «Leibarzt, Sie schwatzen nun schon eine halbe Stunde, und ich will verdammt sein, wenn ich eine Silbe davon verstehe. Was wollen Sie mit Ihrem Physischen und Psychischen?»
«Das physische Prinzip,» nahm der Arzt wieder das Wort, «ist die Bedingung des rein vegetativen Lebens, das psychische bedingt dagegen den menschlichen Organism, der nur in dem Geiste, in der Denkkraft das Triebrad der Existenz findet.»
«Noch immer,» rief der Fürst im höchsten Unmut, «noch immer verstehe ich Sie nicht, Unverständlicher!»
«Ich meine,» sprach der Doktor, «ich meine, Durchlauchtiger, dass das Physische sich bloß auf das rein vegetative Leben ohne Denkkraft, wie es in Pflanzen stattfindet, das Psychische aber auf die Denkkraft bezieht. Da diese nun im menschlichen Organism vorwaltet, so muss der Arzt immer bei der Denkkraft, bei dem Geist anfangen und den Leib nur als Vasallen des Geistes betrachten, der sich fügen muss, sobald der Gebieter es will.»
«Hoho!» rief der Fürst, «hoho, Leibarzt, lassen Sie das gut sein! Kurieren Sie meinen Leib, und lassen Sie meinen Geist ungeschoren, von dem habe ich noch niemals Inkommoditäten verspürt. Überhaupt, Leibarzt, Sie sind ein konfuser Mann, und stünde ich hier nicht an der Leiche meines Ministers und wäre gerührt, ich wüsste, was ich täte! Nun Kammerherrn! vergießen wir noch einige Zähren hier am Katafalk des Verewigten und gehen wir dann zur Tafel.»
Der Fürst hielt das Schnupftuch vor die Augen und schluchzte, die Kammerherrn taten desgleichen, dann schritten sie alle von dannen.
Vor der Türe stand die alte Liese, welche einige Reihen der allerschönsten goldgelben Zwiebeln über den Arm gehängt hatte, die man nur sehen konnte. Des Fürsten Blick fiel zufällig auf diese Früchte. Er blieb stehen, der Schmerz verschwand aus seinem Antlitz, er lächelte mild und gnädig, er sprach: «Hab’ ich doch in meinem Leben keine solche schöne Zwiebeln gesehen, die müssen von dem herrlichsten Geschmack sein. Verkauft Sie die Ware, liebe Frau?»
«O ja,» erwiderte Liese mit einem tiefen Knix, «o ja, gnädigste Durchlaucht, von dem Verkauf der Zwiebeln nähre ich mich dürftig, so gut es gehn will! – Sie sind süß wie purer Honig, belieben Sie, gnädigster Herr?»
Damit reichte sie eine Reihe der stärksten glänzendsten Zwiebeln dem Fürsten hin. Der nahm sie, lächelte, schmatzte ein wenig und rief dann: «Kammerherrn! geb’ mir einer einmal sein Taschenmesser her.» Ein Messer erhalten, schälte der Fürst nett und sauber eine Zwiebel ab und kostete etwas von dem Mark.
«Welch ein Geschmack, welche Süße, welche Kraft, welches Feuer!» rief er, indem ihm die Augen glänzten vor Entzücken, «und dabei ist es mir, als säh’ ich den verewigten Zinnober vor mir stehen, der mir zuwinkte und zulispelte: ’Kaufen Sie – essen Sie diese Zwiebeln, mein Fürst – das Wohl des Staats erfordert es!’» Der Fürst drückte der alten Liese ein paar Goldstücke in die Hand, und die Kammerherrn mussten sämtliche Reihen Zwiebeln in die Taschen schieben. Noch mehr! – er verordnete, dass niemand anders die Zwiebellieferung für die fürstlichen Dejeuners haben sollte als Liese. So kam die Mutter des Klein Zaches, ohne gerade reich zu werden, aus aller Not, aus allem Elend, und gewiss war es wohl, dass ihr ein geheimer Zauber der guten Fee Rosabelverde dazu verhalf.
Das Leichenbegängnis des Ministers Zinnober war eins der prächtigsten, das man jemals in Kerepes gesehen; der Fürst, alle Ritter des grüngefleckten Tigers folgten der Leiche in tiefer Trauer. Alle Glocken wurden gezogen, ja sogar die beiden Böller, die der Fürst behufs der Feuerwerke mit schweren Kosten angeschaft, mehrmals gelöst. Bürger – Volk – alles weinte und lamentierte, dass der Staat seine beste Stütze verloren und wohl niemals mehr ein Mann von dem tiefen Verstande, von der Seelengröße, von der Milde, von dem unermüdlichen Eifer für das allgemeine Wohl, wie Zinnober, an das Ruder der Regierung kommen werde.
In der Tat blieb auch der Verlust unersetzlich; denn niemals fand sich wieder ein Minister, dem der Orden des grüngefleckten Tigers mit zwanzig Knöpfen so an den Leib gepasst haben sollte, wie dem verewigten unvergesslichen Zinnober.