Er begann nach Chloé zu suchen.
„Mein Gott, Herr Arnolph“, rief Georgette, als er vor der Theke stand und einen Pernod verlangte, „mein Gott, was haben Sie denn?“
„Ich kann Chloé nicht finden.“
Das Lokal war voller Gäste. Auguste bediente. Archilochos trank seinen Pernod leer und verlangte einen zweiten.
„Haben Sie denn überall gesucht?“ fragte Madame Bieler.
„Bei Passap, beim Bischof, überall.“
„Sie wird schon zum Vorschein kommen“, tröstete Georgette, „Frauen gehen nicht so schnell verloren und sind oft gerade dort, wo man sie nicht vermutet.“
Dann schenkte sie ihm einen dritten Pernod ein.
„Endlich“, sagte Auguste erleichtert zu den Radsportfreunden:
„Jetzt säuft er.“
Archilochos suchte weiter. Er drang in die Klöster, in die Pensionen, in die Appartementshäuser; Chloé blieb verschwunden. Er irrte durch sein leeres Schlösschen, durch den leeren Park, stand im nassen Laub. Nur die Bäume brausten, nur die Wolken jagten über die Dächer. Jähes Heimweh überfiel ihn, Sehnsucht nach Griechenland, nach rötlichen Felsen und dunklen Hainen, nach dem Peloponnes.
Zwei Stunden später schiffte er sich ein, und das heranbrausende Auto mit den Fahrcks-Banditen sandte der Julia, die aufheulend in den Nebel glitt, verfangen in den Rauch ihres Kamins, einige Kugeln nach, die dem abtrünnigen Attentäter galten, jedoch nur die müde wehende grün-goldene Landesfahne zerfetzten.
Auf der Julia befanden sich Mr. und Mrs. Weeman, die ihn besorgt betrachteten, als er eines Nachmittags vor sie trat.
Mittelmeer. Das Deck voll Sonne. überall Liegestühle. Archilochos sagte:
„Ich hatte schon einigemale die Ehre, mit Ihnen zu sprechen.“
„Well“, brummte Mr. Weeman.
Arnolph entschuldigte sich. Es sei nur ein Missverständnis gewesen.
„Yes“, meinte Mr. Weeman.
Dann bat Archilochos, bei den Ausgrabungen in seiner alten Heimat mithelfen zu dürfen.
„Well“, entgegnete Mr. Weeman, faltete „Das Fachorgan für Altertumswissenschaft“ zusammen, und dann sagte er, seine kurze Pfeife stopfend: „Yes –“
So grub er denn in Griechenland nach Altertümern, in einer Gegend des Peloponnes, welche der Vorstellung, die er sich von seiner Heimat gemacht hatte, auch nicht im geringsten entsprach. Er schaufelte unter einer unbarmherzigen Sonne. Steingeröll, Schlangen, Skorpione und einige verkrüppelte ölbäume gegen den Horizont hin. Niedrige kahle Berge, versiegte Quellen, nicht einmal Sträucher. Ein kreisender Geier über seinem Haupt, hartnäckig, nicht zu verscheuchen. Er pickelte wochenlang an einem Hügel herum, schweißüberströmt, den er langsam aushöhlte, Sand kam in einem endlich freigelegten schäbigen Gemäuer zum Vorschein; Sand, der in der Sonne glühend wurde, unter seine Nägel schlich, seine Augen entzündete. Mr. Weeman hoffte, einen Tempel des Zeus freigelegt zu haben, Mrs. Weeman vermutete eine Kultstätte der Aphrodite. Das Zanken der beiden war meilenweit zu hören. Die Griechen hatten sich längst verzogen. Stechmücken summten, Fliegen bedeckten sein Gesicht, krochen über seine Augen. Dämmerung brach herein, von ferne schrie ein Maultier, schrill und klagend. Die Nacht war kalt. Archilochos lag in seinem Zelt neben der Ausgrabungsstätte, Mrs. und Mr. Weeman in der zehn Kilometer entfernten Hauptstadt des Distrikts, in einem armseligen Nest. Nachtvögel umstrichen das Zelt, Fledermäuse. In der Nähe heulte ein unbekanntes Tier, vielleicht ein Wolf, dann war es wieder still. Er schlief ein. Gegen Morgen meinte er einige leichte Schritte zu hören. Er schlief weiter. Sobald die Sonne rot und glühend von den sinnlosen kahlen Hügeln her sein Zelt berührte, erhob er sich. Er torkelte zu seiner einsamen Arbeitsstätte, zum Gemäuer. Es war immer noch kalt. Hoch oben kreiste wieder der Geier. Im Gemäuer war es fast noch dunkel. Die Glieder schmerzten. Er machte sich an die Arbeit und setzte die Schaufel an. Vor ihm lag ein länglicher Haufen Sand, schimmernd im Halbdunkel, doch schon nach dem ersten vorsichtigen Zustoßen spürte er Widerstand. Die Liebesgöttin oder der Zeus, dachte er, neugierig, wer nun recht habe, die Archäologin oder der Archäologe, griff er mit beiden Händen zu, scharrte den Sand weg und legte Chloé frei.
Er wagte kaum zu atmen und starrte auf die Geliebte.
„Chloé“, rief er, „Chloé, wie kommst du denn hieher?“
Sie öffnete die Augen, blieb jedoch im Sand liegen.
„Ganz einfach“, sagte sie, „ich bin dir nachgereist. Wir hatten zwei Fahrscheine.“
Dann saßen sie auf dem Gemäuer und schauten in die griechische Gegend, nach den niedrigen, kahlen Bergen mit der gewaltigen Sonne darüber, den verkrüppelten Olbäumen in der Ferne und nach dem weißen Schimmer der Hauptstadt des Distrikts am Horizont.
„Das ist die Heimat“, sagte sie, „die deine und die meine.“
„Wo bist du denn gewesen?“ fragte er. „Ich habe dich gesucht in der ganzen Stadt.“
„Bei Georgette. Oben in der Wohnung.“
Zwei Punkte bewegten sich in der Ferne, kamen näher. Mr. und Mrs. Weeman.
Dann hielt sie ihm ihre Liebesrede, ein wenig wie einst Diotima dem Sokrates (eine nicht ganz so tiefsinnige freilich, als Kind eines griechischen Großkaufmanns war Chloé Saloniki robuster, praktischer – (damit sei auch ihre Herkunft berichtigt).
„Siehst du“, sagte sie, während der Wind mit ihren Haaren spielte und die Sonne immer höher in den Himmel rollte und die Engländer immer näher rückten auf ihren Maultieren, „du weißt nun, was ich gewesen bin, dies ist klar geworden zwischen uns. Ich hatte meinen Beruf satt, der ein harter Beruf war, wie jeder ehrliche Beruf. Aber ich war traurig dabei. Ich hatte Sehnsucht nach Liebe, danach, für jemanden zu sorgen, nicht nur zu seiner Freude dazusein, sondern auch für sein Leid, und wie ich eines Morgens, als der Nebel mein Schlösschen umgab, winterlich, dunkel, seit Wochen schon, in Le Soir las, dass ein Grieche eine Griechin suche, war ich entschlossen, diesen Griechen zu lieben, nur ihn und niemand anderen, geschehe was wolle, wie er auch wäre. So bin ich zu dir gekommen, an jenem Sonntagmorgen um zehn, mit der Rose. Ich wollte mich nicht verstellen. Ich kam mit meinen besten Kleidern. Wie ich dich annehmen wollte, so wie du warst, solltest du mich annehmen, so wie ich war, und als ich dich am Tische sitzen sah, verlegen, unbeholfen, mit der dampfenden Milch und die Brille reinigend, geschah es, dass ich dich liebte. Doch da du glaubtest, ich sei noch ein Mädchen, da du so wenig Kenntnis der Welt aufwiesest, dass du meinen Beruf nicht zu erraten vermochtest, wie es doch Georgette und ihr Mann taten, wagte ich deinen Traum nicht zu zerstören. Ich fürchtete, dich zu verlieren, und machte alles nur schlimmer. Deine Liebe wurde lächerlich, und als du in der Heloisenkapelle die Wahrheit erkanntest, brach mit deiner Welt auch deine Liebe zusammen. Es war gut so. Du vermochtest mich nicht zu lieben ohne die Wahrheit, und nur die Liebe ist stärker denn sie, die uns zu vernichten drohte. Die Liebe deiner Blindheit musste zerstört werden um der Liebe willen, die sieht und die allein zählt.“
Doch dauerte es einige Zeit, bis Chloé und Archilochos zurückkehren konnten. Der Staat krachte zusammen. Fahrcks mit den Kreml-Orden unter dem Doppelkinn kam ans Ruder, rot färbte sich der Nachthimmel. überall Fahnen, überall Sprechchöre: Ami go home; überall Transparente, überall Riesenbilder Lenins und des gerade nicht gestürzten russischen Ministerpräsidenten. Doch der Kreml war fern, der Dollar notwendig, die eigene Macht verlockend. Fahrcks zog ins westliche Lager, ließ den Chef der Geheimpolizei (Petit-Paysans Sekretär) aufknüpfen und residierte aufs würdigste im Staatspalais am Quai de l’Etat, von der gleichen Leibwache mit den goldenen Helmen und den weißen Federbüschen beschützt wie sein Vorgänger, das rote Haar sorgfältig frisiert, den Schnurrbart gestutzt. Er milderte sein Regiment, seine Weltanschauung verblich, und eines schönen Ostertags besuchte er die St.Lukas-Kathedrale. Die bürgerliche Ordnung kehrte wieder ein, doch fanden sich Chloé und Archilochos nicht mehr zurecht. Sie versuchten es noch einige Zeit lang. Sie eröffneten im Schlösschen eine Pension. Passap mietete sich ein, außer Kurs gekommen (auf dem Gebiet der Kunst hielt Fahrcks am sozialistischen Realismus fest), Maître Dutour, auch er verkracht, Hercule Wagner mit seiner gewaltigen Gattin, auch er abgesetzt, und der gestürzte Staatspräsident, höflich, den Gang der Dinge betrachtend, schließlich Petit-Paysan (die Verbindung mit dem Gummi- und Schmieröl-Trust war sein Pech), Hausarbeit verrichtend: eine bankerotte Gesellschaft. Nur der Bischof fehlte. Er war zu den Neupresbyteranern der vorletzten Christen übergetreten. Die Pensionäre tranken Milch und sonntags Perrier, lebten still, sommers unter den Bäumen des Parks, verträumt, eingesponnen in eine milde Welt. Archilochos war bestürzt. Er wanderte zu seinem Bruder, der in der Vorstadt mit Mammachen, dem Onkel Kapitän und den Kinderchen eine Kleingärtnerei betrieb, hatte doch die Prügelei Wunder bewirkt (Matthäus bestand das Lehrerexamen, Magda-Maria die Kindergärtnerinnenprüfung, die ändern gingen teils in die Fabrik, teils in die Heilsarmee). Doch blieb er nicht lange dort. Die wackere Atmosphäre, der pfeifeschmauchende Kapitän und die strickende Mama langweilten ihn samt Bibi, der nun an seiner Stelle die Heloisen-Kapelle besuchte. Viermal in der Woche.
„Sie sehen bleich aus, Monsieur Arnolph“, sagte Georgette, während er wieder einmal bei ihr an der Theke stand (hinter ihr über den Schnaps- und Likörflaschen nun Fahrcks im Edelweißrahmen), „haben Sie Kummer?“
Sie reichte ihm ein Glas Pernod.
„Alles trinkt Milch“, brummte er. „Die Radsportfreunde und nun auch Ihr Mann.“
„Was will unsereiner“, sagte Auguste, immer noch im Maillot jaune, und rieb sich die flimmrigen Beine: „Die Regierung hat eine neue Antialkoholkampagne beschlossen. Außerdem bin ich schließlich ein Sportler.“
Dann bemerkte Archilochos, wie Georgette eine Flasche Perrier öffnete.
„Auch sie“, dachte er schmerzlich. Und während er neben Chloé im Himmelbett lag, hinter den roten Vorhängen, und im Kamin die Holzscheite brannten, sagte er: „Es ist ja ganz schön in unserem kleinen Schlösschen mit den zufriedenen, alternden Pensionären, ich möchte nicht klagen, doch kommt mir die tugendhafte Welt, in der wir nun leben, unheimlich vor. Es scheint mir, als hätte ich die Welt bekehrt und sie mich, so dass die Sache wieder aufs gleiche hinauskomme und alles unnütz gewesen sei.“
Chloé hatte sich aufgerichtet.
„Ich muss an unser Gemäuer denken, die ganze Zeit, in unserer Heimat“, sagte sie. „Als ich mich damals mit Sand bedeckte, dich zu überraschen, und so dalag an diesem dunklen Morgen und nach dem Geier spähte, der über dem Gemäuer kreiste, spürte ich etwas Hartes unter mir, etwas Steiniges, wie zwei große Halbkugeln.“
„Die Liebesgöttin“, schrie Archilochos und sprang aus dem Bett. Auch Chloé hatte es verlassen.
„Wir dürfen nie aufhören, nach der Liebesgöttin zu suchen“, flüsterte sie, „sonst werden wir von ihr verlassen.“
Sie zogen sich an, geräuschlos, packten einen Koffer, und als Sophie am ändern Morgen das Schlafzimmer gegen elf nach langem vergeblichem Klopfen betrat, von den besorgten Pensionären begleitet, fand sie es leer.