Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Von manchem Ritt her kannte Goldmund die Gegend, jenseits des gefrorenen Rieds wusste er eine Scheune des Ritters stehen, weiterhin auch einen Bauernhof, wo man ihn kannte, an einem dieser Orte würde er rasten und nächtigen können. Das Weitere musste sich morgen finden. Allmählich kam wieder das Gefühl der Freiheit und der Fremde über ihn, dessen er sich eine Zeitlang entwöhnt hatte. Sie schmeckte an diesem eisig mürrischen Wintertag nicht lieblich, die Fremde, sie roch sehr nach Mühsal, nach Hunger und Bedrängnis, und doch klang ihre Weite, ihre Größe und harte Unerbittlichkeit seinem verwöhnten und verwirrten Herzen beruhigend und beinahe tröstlich.

Er lief sich müde. Mit dem Reiten ist’s nun vorbei, dachte er. O weite Welt! Es fiel wenig Schnee, in der Ferne liefen Waldrücken und Wolken grau ineinander, unendlich lag die Stille, bis ans Ende der Welt. Was war nun wohl mit Lydia, dem armen ängstlichen Herzen? Bitter tat es ihm leid um sie, zärtlich dachte er an sie, während er, mitten im leeren Ried, unter einer alleinstehenden kahlen Esche saß und rastete. Endlich vertrieb ihn die Kälte, mit steifen Beinen stand er auf, brachte sich langsam in einen zügigen Schritt, schon schien das dürftige Licht des trüben Tages wieder abzunehmen. Wahrend des langen Trabens übers leere Gefild vergingen ihm die Gedanken. Es galt jetzt nicht zu denken oder Gefühle zu hegen, seien sie noch so zärtlich, seien sie noch so schön, es galt sich warm zu halten, es galt beizeiten das Nachtlager zu erreichen, es galt sich wie Marder und Fuchs durch diese kalte, unwirtliche Welt zu bringen und womöglich nicht jetzt schon im freien Feld kaputtzugehen, alles andere war nicht wichtig Verwundert blickte er um sich, als er einen fernen Hufschlag zu hören glaubte. War es möglich, dass man ihn verfolgte? Er griff nach dem kleinen Jagdmesser in seiner Tasche und machte die hölzerne Scheide locker Nun bekam er den Reiter zu Gesicht und erkannte von weitem ein Pferd aus des Ritters Stall, hartnäckig hielt es auf ihn zu. Fliehen wäre unnütz gewesen, er blieb stehen und wartete, ohne eigentliche Furcht, doch sehr gespannt und neugierig, mit beschleunigtem Herzschlag. Heftig zuckte es ihm einen Augenblick durch den Kopf: »Wenn es mir gelange, diesen Reiter umzubringen, wie gut ginge es mir da, ich hätte ein Roß, und die Welt gehörte mir!« Aber als er den Reiter erkannte, den jungen Stallknecht Hans, mit seinen hellblauen Wasseraugen und dem guten verlegenen Knabengesicht, musste er lachen, diesen lieben guten Kerl totzuschlagen, dazu hätte ein Herz von Stein gehört. Freundlich begrüßte er den Hans, und zärtlich begrüßte er auch das Pferd Hannibal, das ihn sofort erkannte, und streichelte ihm den warmen feuchten Hals.

»Wo willst denn du hin, Hans?« fragte er »Zu dir«, lachte der Bursche mit blanken Zähnen »Du bist schon ein braves Stück gelaufen! Also aufhalten darf ich mich nicht, ich soll dich bloß grüßen und dir das übergeben«

»Von wem denn grüßen?«

»Vom Fräulein Lydia. Na, du hast uns da einen sauren Tag eingebrockt, Magister Goldmund, ich bin froh, dass ich mich ein bisschen verziehen konnte. Obwohl der Herr es nicht merken darf, dass ich fort war und Aufträge hatte, es ginge mir schon an den Kragen. Also nimm!«

Er streckte ihm einen kleinen Packen hin, den Goldmund in Empfang nahm.

»Sag, Hans, hast du etwa ein Stück Brot in der Tasche? Dann gib mir’s.«

»Brot? Wird sich schon noch eine Kruste finden.« Er bohrte in seinen Taschen und brachte ein Stück Schwarzbrot heraus. Dann wollte er wieder davonreiten.

»Was macht denn das Fräulein?« fragte Goldmund. »Hat sie dir nichts aufgetragen? Hast du kein Brieflein?«

»Nichts. Ich sah sie bloß einen Augenblick. Schlechtes Wetter im Haus, weißt du, der Herr läuft herum wie König Saul. Also ich soll dir das Zeug da abgeben, weiter nichts. Ich muss zurück.«

»Ja, nur noch einen Augenblick! Du, Hans, könntest du mir nicht dein Jagdmesser abtreten? Ich habe bloß ein kleines. Wenn die Wölfe kommen, und so – es wäre schon besser, wenn ich was Rechtes in der Hand hätte.«

Aber davon wollte Hans nichts wissen. Es sollte ihm leid tun, meinte er, wenn dem Magister Goldmund etwas passieren sollte. Aber sein Stoßmesser, nein, das würde er niemals hergeben, auch nicht für Geld, auch nicht im Tausch, o nein, und wenn die heilige Genoveva selber ihn darum bäte. So, und nun müsse er eilen, und er wünsche gute Zeit, und es täte ihm leid.

Sie schüttelten einander die Hände, der Bub ritt davon, mit sonderbar wehem Herzen blickte Goldmund ihm nach. Dann packte er das Zeug auseinander, froh über den guten Riemen aus Kalbleder, mit dem es verschnürt war. Innen fand er ein gestricktes Unterwams aus starker grauer Wolle, offenbar eine Handarbeit, die Lydia gemacht und ihm zugedacht hatte, und in dem Wollzeug steckte, gut eingewickelt, noch etwas Hartes, das war ein Stück Schinken, und in den Schinken war ein kleiner Schlitz geschnitten, in dem steckte ein blanker goldener Dukaten. Geschriebenes war nicht dabei. Mit Lydias Geschenken in den Händen stand er da im Schnee, unentschlossen, dann zog er die Jacke aus und schlupfte in das Wollzeug, es gab angenehm warm. Schnell zog er sich wieder an, verbarg das Goldstück in der sichersten Tasche, schnallte den Riemen um und lief weiter querfeldein, es war Zeit, einen Rastort zu erreichen, er war sehr müde geworden. Aber zum Bauern mochte er nicht, obwohl es dort wärmer gewesen und wohl auch Milch zu finden gewesen wäre, er mochte nicht schwatzen und ausgefragt werden. In der Scheune übernachtete er, zog früh bei Frost und scharfem Winde weiter, von der Kälte zu großen Märschen getrieben. Viele Nächte träumte er vom Ritter und seinem Schwert und den zwei Schwestern, viele Tage lang drückte ihm Einsamkeit und Schwermut das Herz.

In einem Dorfe, wo es bei armen Bauern kein Brot, aber eine Hirsesuppe gab, fand er an einem der nächsten Abende Nachtlager. Neue Erlebnisse warteten hier auf ihn. Die Bäuerin, deren Gast er war, kam in der Nacht mit einem Kinde nieder, und Goldmund war dabei anwesend, man hatte ihn aus dem Stroh geholt, damit er helfe, obwohl sich am Ende nichts für ihn zu tun fand, als dass er das Licht hielt, während die Hebamme beschäftigt war. Er sah zum erstenmal eine Geburt und hing mit erstaunten, glühenden Augen am Gesicht der Gebärenden, plötzlich um ein neues Erlebnis reicher geworden. Wenigstens schien das, was er hier im Gesicht der Gebärenden wahrnahm, ihm sehr bemerkenswert. Beim Schein des Kienspans nämlich, während er mit seiner großen Neugierde in das Gesicht der kreißenden Frau starrte, die in ihren Schmerzen lag, fiel ihm etwas Unerwartetes auf: die Linien im verzerrten Gesicht der Schreienden waren wenig verschieden von jenen, die er im Augenblick des Liebesrausches auf anderen Frauengesichtern gesehen hatte! Der Ausdruck großen Schmerzes in einem Gesicht war heftiger zwar und mehr entstellend als der Ausdruck großer Lust – aber er war im Grunde nicht von ihm verschieden, es war dasselbe etwas grinsende Sichzusammenziehen, dasselbe Aufglühen und Erlöschen. Wunderbar, ohne dass er begriff warum, überraschte ihn diese Einsicht, dass Schmerz und Lust einander ähnlich sein konnten wie Geschwister.

Noch etwas anderes erlebte er in diesem Dorfe. Der Nachbarsfrau wegen, deren er am Morgen nach der Geburtsnacht ansichtig geworden war und welche alsbald auf die Frage seiner verliebten Augen Antwort gab, blieb er eine zweite Nacht im Dorf und machte die Frau sehr glücklich, denn es war nach langer Zeit und nach allen den aufreizenden und wieder enttäuschenden Verliebtheiten dieser letzten Wochen das erstemal, dass sein Trieb wieder Stillung fand. Und diese Verzögerung führte zu einem neuen Erlebnis, sie war schuld, dass er am zweiten Tage in eben jenem Bauerndorf einen Kameraden antraf, einen langen verwegenen Kerl namens Viktor, der halb wie ein Pfaff und halb wie ein Schnapphahn aussah, der ihn mit lateinischen Brocken begrüßte und sich als fahrenden Schüler zu erkennen gab, obwohl er über die Schülerjahre lang hinaus war.

Dieser spitzbärtige Mann begrüßte Goldmund mit einer gewissen Herzlichkeit und mit einem Landstreicherhumor, mit dem er den jungen Kameraden rasch gewann. Auf dessen Frage, wo er denn Schüler gewesen sei und wohin seine Reise ziele, deklamierte der sonderbare Bruder:

»Hohe Schulen hab ich, bei meiner armen Seele, genug besucht, in Köln und Paris bin ich gewesen, und über die Metaphysik der Leberwurst ist selten Gehaltvolleres gesagt worden, als ich es in meiner Dissertation zu Leyden tat. Seither, amice, laufe ich armer Schweinehund durchs deutsche Reich, von unermesslichem Hunger und Durst die liebe Seele gefoltert, ich bin Bauernschreck genannt, und meine Profession ist es, die jungen Weiber im Latein zu unterweisen und die Würste vom Rauchfang in meinen Bauch zu zaubern. Mein Ziel ist das Bett der Bürgermeisterin, und wenn ich nicht vorher von den Krähen gefressen werde, so wird es mir kaum erspart bleiben, mich dem lästigen Beruf eines Erzbischofs widmen zu müssen. Besser, kleiner Kollege, ist’s, von der Hand in den Mund zu leben als umgekehrt, und schließlich hat noch niemals ein Hasenbraten sich wohler gefühlt als in meinem armen Magen. Der König von Böhmen ist mein Bruder, und unser aller Vater ernähret ihn wie mich, aber das Beste dazu lässt er mich selber tun, und vorgestern wollte er mich, hartherzig wie Väter sind, dazu missbrauchen, einem halbverhungerten Wolf das Leben zu retten. Hätte ich das Vieh nicht totgeschlagen, Herr Kollege, du wärest nie der Ehre teilhaftig geworden, meine angenehme Bekanntschaft zu machen. In saecula saeculorum, Amen. «

Goldmund, noch wenig mit dem Galgenhumor und dem Vagantenlatein dieser Gattung bekannt, fürchtete sich zwar ein wenig vor dem langen struppigen Flegel und dem wenig angenehmen Gelächter, mit dem er seine eigenen Späße begleitete, aber etwas an diesem hartgesottenen Landstreicher gefiel ihm doch, und er ließ sich leicht dazu bereden, die Fahrt gemeinsam fortzusetzen, denn mochte das mit dem erschlagenen Wolf nun geflunkert sein oder nicht, auf jeden Fall war man zu zweien stärker und hatte weniger zu fürchten. Aber ehe sie weiterzogen, wollte Bruder Viktor mit den Bauern Latein reden, wie er es nannte, und quartierte sich bei einem Bäuerchen ein. Er machte es nun nicht so, wie Goldmund es bisher auf allen Wanderungen gehalten hatte, wenn er in einem Gehöft oder Dorf zu Gast gewesen war, sondern er strich von Hütte zu Hütte, fing mit jedem Weibe ein Geplauder an, steckte die Nase in jeden Stall und jede Küche und schien nicht gesonnen, den Weiler eher zu verlassen, als bis jedes Haus ihm einen Zoll und Tribut entrichtet hatte. Er erzählte den Bauern vom Krieg in Welschland und sang am Herd das Lied von der Paviaschlacht, er empfahl den Großmüttern Mittel gegen Gliedersucht und Zahnausfall, er schien alles zu wissen und überall gewesen zu sein, er stopfte sich das Hemd überm Gürtel zum Platzen voll mit geschenkten Brotstücken, Nüssen, Birnenschnitzen. Verwundert sah Goldmund ihm zu, wie er unermüdlich seinen Feldzug vollführte, wie er die Leute bald erschreckte, bald durch Schmeicheln gewann, wie er sich aufspielte und bestaunen ließ, wie er bald Latein radebrechte und den Gelehrten spielte, bald durch eine buntscheckig freche Gaunersprache Eindruck machte, wie er mitten im Erzählen oder Gelehrtreden mit scharfen wachsamen Augen jedes Gesicht, jede sich öffnende Tischlade, jede Schüssel und jeden Laib registrierte. Er sah, dies war ein gerissener, mit allen Wassern gewaschener Heimatloser, ein Mann, der viel gesehen und erlebt, viel gehungert und gefroren hatte und im bittern Kampf um ein karges gefährdetes Leben klug und frech geworden war. So also wurden die, die lange Zeit auf Wanderschaft lebten. Würde auch er selbst einmal so werden?

Andern Tages zogen sie weiter, zum erstenmal kostete Goldmund das Wandern zu zweien. Drei Tage waren sie miteinander unterwegs, und Goldmund fand dies und jenes von Viktor zu lernen. Die zum Instinkt gewordene Gewohnheit, alles auf die drei großen Bedürfnisse des Heimatlosen zu beziehen: die Sicherung gegen Lebensgefahr, das Finden eines Nachtlagers und das Beschaffen von Nahrung, hatte den seit so vielen Jahren sich Herumtreibenden vieles gelehrt. Aus unscheinbarsten Anzeichen die Nähe menschlicher Wohnungen zu erkennen, auch im Winter, auch in der Nacht, oder jeden Winkel in Wald und Feld haarscharf auf seine Eignung zum Rastort oder Schlafplatz zu prüfen, oder beim Betreten einer Stube im Augenblick den Grad von Wohlstand oder Elend zu wittern, in dem der Besitzer lebte, sowie den Grad seiner Gutherzigkeit, oder seiner Neugierde, oder seiner Furcht – das waren Künste, in welchen Viktor es zur Meisterschaft gebracht hatte. Manches Lehrreiche erzählte er dem jungen Kameraden. Als Goldmund ihm einmal entgegnete, er möge sich den Menschen nicht mit so absichtsvoller Überlegung nähern, und es sei ihm, obwohl er alle diese Künste nicht kenne, auf seine freundliche Bitte hin nur sehr wenige Male das Gastrecht verweigert worden, da lachte der lange Viktor und sagte gutmütig: »Nun ja, Goldmundchen, dir mag es schon glücken, du bist so jung und hübsch und siehst so unschuldig aus, das ist ein guter Quartierzettel. Den Weibern gefällst du, und die Männer denken: ach Gott, der ist harmlos, der tut niemand was zuleid. Aber schau, Brüderchen, der Mensch wird älter, und das Kindergesicht kriegt einen Bart und kriegt Falten, und die Hosen kriegen Löcher, und unversehens ist man ein hässlicher und unwillkommener Gast, und statt der Jugend und Unschuld schaut einem bloß noch der Hunger aus den Augen, dann muss einer hart geworden sein und etwas von der Welt gelernt haben, sonst liegt er bald auf dem Mist, und die Hunde schiffen ihn an. Aber mir scheint, du wirst ohnehin nicht lang so herumtraben, du hast zu feine Hände, du hast zu hübsche Locken, du wirst dich schon wieder dahin verkriechen, wo es sich besser leben lässt, in ein hübsches warmes Ehebett, oder in ein hübsches fettes Klösterchen, oder in eine schon geheizte Schreibstube. Du hast auch so nette Kleider an, man könnte dich für einen Junker ansehen.«

Er fuhr, immer lachend, mit der Hand über Goldmunds Kleidung, und dieser spürte, wie die Hand an allen Taschen und Nähten suchte und tastete, er entzog sich und dachte an seinen Dukaten. Er erzählte von seinem Aufenthalt beim Ritter und wie er durch lateinische Schreibereien das schöne Kleid verdient habe. Aber Viktor wollte wissen, warum er denn mitten im rauhen Winter ein so warmes Nest wieder verlassen habe, und Goldmund, des Lügens ungewohnt, erzählte ihm ein wenig von den zwei Ritterstöchtern. Da kam es zum ersten Streit zwischen den Kameraden. Viktor fand, Goldmund sei ein Esel ohnegleichen, dass er da einfach davonlaufe und die Burg und die Jungfern dann dem lieben Gott überlasse. Das müsse gutgemacht werden, er werde schon sehen. Sie würden die Burg aufsuchen, und natürlich dürfe man Goldmund dort nicht sehen, aber da solle er ihn nur sorgen lassen Er müsse ein Briefchen an Lydia schreiben, so und so, und damit werde er, Viktor, die Burg aufsuchen und werde, bei des Heilands Wunden, nicht aus ihr zurückkommen, ohne dies und jenes an Geld und Gut mit herauszubringen. Und so weiter. Goldmund wehrte ab und wurde endlich heftig, er weigerte sich, noch ein Wort in dieser Sache anzuhören oder den Namen des Ritters und den Weg zu ihm zu verraten.

Viktor, als er ihn so erzürnt sah, lachte wieder und spielte den Gutmütigen »Na«, sagte er, »beiß dir nur keine Zahne aus! Ich sage dir bloß: einen guten Fang lassest du uns da entgehen, mein Junge, und eigentlich ist das nicht sehr nett und kollegial von dir. Aber du willst also nicht, du bist ein edler Herr, zu Pferde wirst du in deine Burg zurückkehren und das Fräulein heiraten! Junge, wie hast du den Kopf voll edler Dummheiten! Na, meinetwegen, wir ziehen also weiter und frieren uns die Zehen ab.«

Goldmund blieb verstimmt und schweigsam bis zum Abend, aber da sie an diesem Tag keine Wohnstatt und keine Menschenspuren antrafen, ließ er es dankbar geschehen, dass Viktor eine Stelle zum Nachtlager aussuchte, dasss er zwischen zwei Stämmen am Waldrand einen Rückenschutz baute und ein Lager aus reichlichen Tannenzweigen aufschüttete. Sie aßen Brot und Käse aus Viktors vollen Taschen, Goldmund schämte sich seines Zorns und zeigte sich artig und hilfreich, er bot dem Kameraden seine Wolljacke für die Nacht an, sie wurden einig, abwechselnd Wache zu halten, des Getiers wegen, und Goldmund übernahm die ersteWache, während der andere sich auf die Tannenzweige legte. Lange Zeit stand Goldmund an einen Fichtenstamm gelehnt und hielt sich ruhig, um den andern nicht am Einschlafen zu hindern Dann fing er an auf und ab zu gehen, da ihn fror. In immer weiterem Abstand lief er hin und her, sah die Tannenwipfel spitz in den bleichen Himmel stechen, empfand die tiefe Stille der Winternacht feierlich und etwas angstvoll, fühlte sein warmes lebendiges Herz einsam in der kalten antwortlosen Stille schlagen und hörte, leise zurückkehrend, dem Atmen seines schlafenden Kameraden zu. Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloss- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.

Nein, dachte er, er würde niemals so werden wie Viktor, und wenn er auch sein Leben lang weiterwanderte. Diese Art, sich gegen das Grauen zu wehren, würde er nicht lernen können, nicht dies schlaue diebische Sichdurchpirschen und auch nicht diese laute, dreiste Art von Narrentum, diesen wortreichen Galgenhumor des Bramarbas. Vielleicht hatte dieser kluge dreiste Mann recht, vielleicht würde Goldmund nie ganz seinesgleichen werden, nie ganz ein Vagant, und eines Tages in irgendwelche Mauern zurückkriechen Heimatlos und ziellos aber würde er dennoch bleiben, nie würde er sich wirklich geschützt und sicher fühlen, immer würde die Welt rätselhaft schön und rätselhaft unheimlich ihn umgeben, immer wieder wurde er dieser Stille lauschen müssen, in deren Mitte das schlagende Herz so bang und vergänglich war. Wenige Sterne waren zu sehen, es war windstill, in der Höhe aber schien das Gewölk bewegt.

Nach einer langen Zeit wurde Viktor wach – er hatte ihn nicht wecken mögen – und rief ihn an.

»Komm«, rief er, »du musst nun schlafen, sonst bist du morgen nichts wert.«

Goldmund gehorchte, er legte sich aufs Lager und schloss die Augen. Müde war er genug, doch schlief er nicht, Gedanken hielten ihn wach, und außer den Gedanken ein Gefühl, das er sich selbst nicht eingestand, ein Gefühl von Bangigkeit und Misstrauen, das sich auf seinen Kameraden bezog. Unbegreiflich war ihm jetzt, dass er diesem derben, laut lachenden Menschen, diesem Witzbold und frechen Bettler von Lydia hatte erzählen können! Er war böse auf ihn und auf sich selber, und sorgenvoll sann er über die beste Art und Gelegenheit nach, sich wieder von ihm zu trennen.

Er musste aber doch in einen halben Schlaf gesunken sein, denn er erschrak und war überrascht, als er Viktors Hände an sich spürte, wie sie seine Kleider vorsichtig abtasteten. In der einen Tasche hatte er sein Messer, in der andern den Dukaten, beides würde Viktor unfehlbar stehlen, wenn er es fände. Er stellte sich schlafend, drehte sich wie schlaftrunken hin und her, rührte die Arme, und Viktor zog sich zurück. Goldmund war sehr böse auf ihn, er beschloss, sich morgen von ihm zu trennen.

Als aber, nach einer Stunde vielleicht, Viktor sich von neuem über ihn beugte und mit dem Absuchen begann, wurde Goldmund kalt vor Wut. Ohne sich zu rühren, tat er die Augen auf und sagte verächtlich: »Geh jetzt, es gibt hier nichts zu stehlen.«

Im Schrecken über den Anruf griff der Dieb zu und drückte die Hände um Goldmunds Hals Als der sich wehrte und aufbäumte, drückte der andere fester zu und kniete ihm zugleich auf die Brust. Goldmund, als er keinen Atem mehr bekam, riss und zuckte heftig mit dem ganzen Leibe, und als er nicht loskam, durchfuhr ihn plötzlich die Todesangst und machte ihn klug und hellsinnig. Er brachte die Hand in die Tasche, brachte, während der andere weiterwürgte, das kleine Jagdmesser heraus und stieß plötzlich und blindlings mehrere Male in den über ihm Knienden hinein. Nach einem Augenblick ließen Viktors Hände locker, es gab Luft, tief und wild einatmend kostete Goldmund sein gerettetes Leben. Nun versuchte er sich aufzurichten, da sank über ihm der lange Kamerad schlaff und weich mit einem furchtbaren Stöhnen zusammen, und sein Blut lief über Goldmunds Gesicht. Erst jetzt vermochte er hochzukommen Da sah er im grauen Nachtschein den Langen zusammengefallen liegen, als er nach ihm griff, langte er in lauter Blut. Er hob ihm den Kopf, der fiel schwer und weich wie ein Sack zurück. Aus seiner Brust und seinem Hals troff das Blut immerzu, aus seinem Munde floss in irren, schon schwächer werdenden Seufzern das Leben fort.

»Nun habe ich einen Menschen umgebracht«, dachte Goldmund und dachte es immer wieder, wahrend er über dem Sterbenden kniete und auf seinem Gesicht die Blässe sich verbreiten sah. »Liebe Mutter Gottes, nun habe ich getötet«, hörte er sich selber sprechen Plötzlich wurde es ihm unerträglich, hier zu bleiben. Er hob sein Messer auf, wischte es an dem Wollezeug ab, das der andere trug und das von Lydias Händen für ihren Liebsten gestrickt worden war, er steckte das Messer in die hölzerne Scheide und in die Tasche zurück, sprang auf und lief aus allen Kräften davon.

Schwer lag ihm der Tod des lustigen Vaganten auf der Seele, mit Schaudern wusch er, als es Tag wurde, mit Schnee all das Blut von sich, das er vergossen hatte, und irrte noch einen Tag und eine Nacht ziellos und beängstigt umher. Es war die Not des Leibes, die ihn endlich aufrüttelte und seiner angstvollen Reue ein Ende machte.

In der öden verschneiten Gegend verlaufen, ohne Obdach, ohne Weg, ohne Nahrung und beinahe ohne Schlaf, geriet er in große Bedrängnis, wie ein wildes Tier schrie der Hunger in seinem Leib, mehrmals legte er sich erschöpft mitten im Felde nieder, schloss die Augen und gab sich verloren, wünschte nichts als einzuschlafen und im Schnee zu sterben. Aber immer wieder trieb es ihn empor, verzweifelt und gierig lief er um sein Leben, und mitten in der bittersten Not erquickte und berauschte ihn die unsinnige Kraft und Wildheit des Nichtsterbenwollens, die ungeheure Stärke des nackten Lebenstriebes. Vom beschneiten Wacholderbusch las er mit blaugefrorenen Händen die kleinen vertrockneten Beeren und kaute das spröde bittere Zeug, mit Tannennadeln vermischt, es schmeckte aufreizend scharf, er fraß Hände voll Schnee gegen den Durst. Atemlos, in die erstarrten Hände hauchend, saß er auf einem Hügel und hielt kurze Rast, gierig spähte er nach allen Seiten, nichts als Heide und Wald war zu sehen, nirgends eine Spur von Menschen. Über ihm flogen ein paar Krähen, böse blickte er ihnen nach. Nein, sie sollten ihn nicht zu fressen kriegen, nicht, solange noch ein Rest von Kraft in seinen Beinen, ein Funke von Wärme in seinem Blute war. Er stand auf und nahm den unerbittlichen Wettlauf mit dem Tode wieder auf. Er lief und lief, und im Fieber der Erschöpfung und letzten Anstrengung nahmen merkwürdige Gedanken von ihm Besitz, und er führte tolle Gespräche vor sich hin, bald unhörbar, bald laut. Er sprach mit Viktor, mit dem Erstochenen, barsch und höhnisch sprach er mit ihm: »Na, schlauer Bruder, wie geht’s? Scheint dir der Mond durch die Därme, Kerl, rupfen die Füchse dir an den Ohren? Einen Wolf willst du umgebracht haben? Hast du ihn in die Kehle gebissen oder ihm den Schwanz ausgerissen, he? Meinen Dukaten hast du mir stehlen wollen, alter Schnappsack! Aber gelt, das kleine Goldmundchen hat dich überrascht, gelt Alter, es hat dich an den Rippen gekitzelt! Und dabei hast du noch alle Säcke voller Brot und Wurst und Käse gehabt, du Schwein, du Fresssack!« Dergleichen Scherzreden hustete und bellte er vor sich hin, er beschimpfte den Toten, er triumphierte über ihn, er lachte ihn dafür aus, dass er sich habe kaputtmachen lassen, der Tölpel, der dumme Aufschneider!

Dann aber hatten seine Gedanken und Reden es nicht mehr mit dem armen langen Viktor zu tun. Er sah jetzt Julie vor sich, die schöne kleine Julie, so wie sie ihn in jener Nacht verlassen hatte, er rief ihr unzählige Koseworte zu, mit irren schamlosen Zärtlichkeiten suchte er sie zu verführen, dass sie zu ihm komme, dass sie ihr Hemdchen fallen lasse, dass sie mit ihm in den Himmel fahre, eine Stunde vor dem Tode noch, ein Augenblickchen vor dem elenden Verrecken. Flehend und herausfordernd sprach er mit ihren hohen kleinen Brüsten, mit ihren Beinen, mit dem blonden krausen Haar unter ihrer Achsel.

Und wieder, während er mit steifen stolpernden Beinen durchs beschneite dürre Heidekraut trabte, trunken vor Weh, triumphierend vor flackernder Lebensgier, begann er zu flüstern, und jetzt war es Narziss, mit dem er sprach, dem er seine neuen Einfälle, Weisheiten und Scherze mitteilte.

»Hast du Angst, Narziss«, redete er ihn an, »graut es dir, hast du was gemerkt? Ja, Verehrtester, die Welt ist voll von Tod, voll von Tod, auf jedem Zaun sitzt er, hinter jedem Baum steht er, und es hilft euch nichts, dass ihr Mauern baut, und Schlafsäle, und Kapellen und Kirchen, er guckt durchs Fenster, er lacht, er kennt jeden von euch so genau, mitten in der Nacht hört ihr ihn vor euren Fenstern lachen und eure Namen sagen. Singt nur eure Psalmen und brennet hübsch Kerzen am Altar, und betet eure Vespern und Matutinen, und sammelt Kräuter im Laboratorium, und sammelt Bücher in der Bibliothek! Fastest du, Freund? Entziehst dir den Schlaf? Er wird dir schon helfen, der Freund Hein, er wird dir alles entziehen, bis auf die Knochen Lauf, Teuerster, lauf geschwind, im Felde da geht der Heirassasa, lauf und halte immer hübsch die Knochen zusammen, sie wollen auseinander, sie werden nicht bei uns bleiben. Ach unsere armen Knochen, ach unser armer Schlund und Magen, ach unser armes bisschen Hirn unterm Schädel! Es will alles fort, es will alles zum Teufel, auf dem Baum sitzen die Krähen, die schwarzen Pfaffen.«

Längst wusste der Irrende nicht mehr, wohin er laufe, wo er sei, was er sage, ob er liege oder stehe. Er fiel über Gesträuch, er rannte gegen Bäume, er griff stürzend in Schnee und Dornen. Aber der Trieb in ihm war stark, immer wieder riss er ihn fort, immer wieder jagte er den blind Fliehenden weiter. Als er das letztemal zusammenbrach und liegenblieb, war es im selben kleinen Dorfe, wo er vor einigen Tagen den fahrenden Schüler getroffen, wo er nachts über der gebärenden Frau den Kienspan gehalten hatte. Da blieb er liegen, und die Leute liefen her und standen um ihn herum und schwatzten, er hörte nichts mehr. Die Frau, deren Liebe er damals genossen, erkannte ihn und erschrak über seinen Anblick, sie erbarmte sich, sie ließ ihren Mann schelten und schleppte den Halbtoten in den Stall.

Es dauerte nicht lange, bis Goldmund wieder auf seinen Beinen stand und wandern konnte. Von der Stallwärme, vom Schlaf und von der Ziegenmilch, die das Weib ihm zu trinken gab, kam er wieder zu sich und zu Kräften, nur war alles Jüngsterlebte zurückgerückt, als wäre viel Zeit seitdem verflossen. Der Marsch mit Viktor, die kalte bange Winternacht unter jenen Tannen, der schreckliche Kampf auf dem Lager, das schreckliche Sterben des Kameraden, die Tage und Nächte des Frierens, des Hungerns und Verirrtseins, das alles war Vergangenheit geworden, beinahe hätte er es vergessen, aber vergessen war es doch nicht, nur überstanden, nur vorübergegangen. Etwas blieb zurück, nicht auszusprechen, etwas Schreckliches und auch Wertvolles, etwas Versunkenes und doch nie zu Vergessendes, eine Erfahrung, ein Geschmack auf der Zunge, ein Ring ums Herz. In kaum zwei Jahren hatte er Lust und Schmerzen des heimatlosen Lebens wohl bis zum Grunde kennengelernt: das Alleinsein, die Freiheit, das Lauschen auf Wald und Getier, das schweifende treulose Lieben, die bittere tödliche Not. Tage war er im sommerlichen Gefild zu Gast gewesen, Tage und Wochen im Walde, Tage im Schnee, Tage in Todesangst und Todesnähe, und von allem das Stärkste, das Seltsamste war gewesen, sich gegen den Tod zu wehren, sich klein und elend und bedroht zu wissen und dennoch im letzten verzweifelten Kampf gegen den Tod diese schöne, schreckliche Kraft und Zähigkeit des Lebens in sich zu fühlen. Das klang nach, das blieb ihm ins Herz geschrieben, so wie die Gebärden und Mienen der Wollust, welche denen der Gebärenden und Sterbenden so ähnlich waren. Wie neulich die Gebärende geschrien und das Gesicht verzogen hatte, wie neulich der Kamerad Viktor zusammengesunken war und sein Blut so still und schnell verströmt hatte! Oh, und er selbst, wie hatte er in den Hungertagen den Tod rund um sich lauern gespürt, wie weh hatte der Hunger getan, und wie hatte er gefroren, gefroren! Und wie hatte er gekämpft, wie hatte er dem Tod auf die Nase gehauen, mit welcher Todesangst und mit welcher grimmigen Wollust hatte er sich gewehrt! Viel mehr als dieses, so wollte ihm scheinen, gab es eigentlich nicht zu erleben. Mit Narziss hätte man vielleicht darüber sprechen können, sonst mit niemandem.

Als Goldmund auf seinem Streulager im Stall zum erstenmal wieder richtig zu sich gekommen war, hatte er den Dukaten in seiner Tasche vermisst. Sollte er ihn auf dem schrecklichen, halb bewusstlos durchtaumelten Marsch des letzten Hungertages verloren haben? Lange grübelte er darüber nach. Der Dukaten war ihm lieb gewesen, er mochte ihn nicht verloren geben. Geld zwar bedeutete ihm wenig, er kannte kaum seinen Wert. Aber dies Goldstück war ihm aus zweierlei Gründen bedeutsam geworden. Es war das einzige Geschenk Lydias, das ihm geblieben war, denn die Wolljacke lag ja mit Viktor im Walde und war von dessen Blut durchtränkt. Und dann war es ja vor allem die Goldmünze gewesen, deren Entwendung er nicht dulden wollte, ihretwegen hatte er sich gegen Viktor gewehrt, hatte ihn ihretwegen in der Not umgebracht. Wenn der Dukaten nun verloren war, so war gewissermaßen das ganze Erlebnis jener grauenvollen Nacht unsinnig und entwertet. Nachdem er lange nachgedacht, hatte er die Bauernfrau ins Vertrauen gezogen.

»Christine«, flüsterte er ihr zu, »ich hatte ein Goldstück in meiner Tasche, und nun ist es nicht mehr da.«

»So, hast du es gemerkt?« fragte sie, mit einem merkwürdig liebevollen und zugleich listig schlauen Lächeln, das ihn so entzückte, dass er trotz seiner Schwäche die Arme um sie legte.

»Was bist du für ein sonderbarer Bub«, sagte sie zärtlich, »so klug und fein und dabei so dumm! Läuft man denn mit einem losen Dukaten in der offenen Tasche in der Welt herum? O du kindischer Bub, du süßer kleiner Narr! Dein Goldstück hab ich gefunden, gleich als ich dich ins Stroh legte.«

»Hast du? Und wo ist es jetzt?«

»Such es«, lachte sie und ließ ihn wirklich eine ganze Weile suchen, ehe sie ihm die Stelle seines Rockes zeigte, wo sie es fest eingenäht hatte. Sie knüpfte eine Menge guter mütterlicher Ratschlage daran, die er schnell wieder vergaß, aber ihren Liebesdienst und jenes schlaugütige Lachen in ihrem Bauerngesicht vergaß er nie. Er gab sich Mühe, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen, und als er in kurzem wieder marschfähig war und weiterwollte, hielt sie ihn zurück, da in diesen Tagen der Mond wechsle und es gewiss milderes Wetter geben werde. Und so war es. Als er weiterzog, lag der Schnee grau und krank, und die Luft war feuchtschwer, in der Höhe hörte man den Tauwind stöhnen.

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