Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Sechstes Kapitel

Eines Tages rief Pater Anselm Goldmund in seine Apotheke, seine hübsche, wunderbar duftende Kräuterkammer. Hier kannte Goldmund sich gut aus. Der Pater zeigte ihm eine gedörrte Pflanze, zwischen Papierblättern sauber aufbewahrt, und fragte ihn, ob er diese Pflanze kenne und genau beschreiben könne, wie sie draußen im Felde aussehe. Ja, das konnte Goldmund; die Pflanze hieß Johanniskraut. Deutlich musste er alle ihre Merkmale beschreiben. Der alte Mönch war zufrieden und gab seinem jungen Freunde den Auftrag, am Nachmittag ein gutes Bündel solcher Pflanzen zu sammeln, deren Lieblingsstandorte er ihm angab.

»Du bekommst dafür einen schulfreien Nachmittag, mein Lieber, du wirst nichts dagegen haben und wirst nichts dabei verlieren. Auch die Kenntnis der Natur nämlich ist eine Wissenschaft, nicht bloß eure blöde Grammatik.«

Goldmund bedankte sich für den sehr willkommenen Auftrag, ein paar Stunden Blumen zu sammeln, statt in der Schule zu sitzen. Damit die Freude vollkommen würde, erbat er sich vom Stallmeister das Pferd Bless, und bald nach Tische holte er das Tier aus dem Stall, das ihn heftig begrüßte, sprang auf und trabte sehr zufrieden in den warmen leuchtenden Tag hinaus. Ein Stündchen oder mehr ritt er spazieren, genoss die Luft und den Felderduft und vor allem das Reiten, dann erinnerte er sich seiner Aufgabe und suchte einen der Plätze auf, die ihm der Pater beschrieben hatte. Dort band er das Pferd unter einem schattigen Ahorn an, plauderte mit ihm, gab ihm Brot zu fressen und machte sich dann auf die Pflanzensuche. Einige Stücke Ackerland lagen hier brach, von vielerlei Unkraut überwuchert, kleine kümmerliche Mohnpflanzen mit letzten blassen Blüten und schon vielen reifen Samenkapseln standen da zwischen verdorrten Wickenranken und himmelblau blühender Wegwarte und verfärbtem Knöterich, ein paar Haufen zusammengeworfener Feldsteine zwischen zwei Feldern waren von Eidechsen bewohnt, hier standen auch schon die ersten gelb blühenden Stauden Johanniskraut, und Goldmund fing an zu pflücken. Als er eine gute Handvoll beisammen hatte, setzte er sich auf die Steine und ruhte. Es war heiß, und er blickte begehrlich zum Schattendunkel eines fernen Waldrandes hinüber, aber so weit wollte er doch nicht von den Pflanzen und von seinem Pferde weggehen, das er von hier aus noch sehen konnte. Er blieb auf den warmen Feldkieseln sitzen, hielt sich ganz still, um die geflohenen Eidechsen wieder hervorkommen zu sehen, roch am Johanniskraut und hielt dessen kleine Blättchen gegen das Licht, um die hundert winzigen Nadelstiche in ihnen zu betrachten.

Wunderlich, dachte er, da hat jedes von den tausend kleinen Blättchen diesen kleinwinzigen Sternhimmel in sich gestochen, fein wie eine Stickerei. Wunderlich und unbegreiflich war doch alles, die Eidechsen, die Pflanzen, auch die Steine, überhaupt alles. Der Pater Anselm, der ihn so gern mochte, der konnte nun sein Johanniskraut nicht selbst mehr holen, er hatte es in den Beinen und war an manchen Tagen unbeweglich, und seine Arzneikunst konnte es nicht heilen. Vielleicht würde er schon bald eines Tages sterben, und die Kräuter in der Kammer dufteten weiter, aber der alte Pater war nicht mehr da. Vielleicht aber lebte er auch noch lange, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre, und hatte dann immer noch dieselben weißen dünnen Haare und dieselben drolligen Faltenbündel um die Augen; aber er selbst, Goldmund, was würde in zwanzig Jahren mit ihm sein? Ach, alles war unverständlich und eigentlich traurig, obwohl es auch schön war. Man wusste nichts. Man lebte und lief auf der Erde herum oder ritt durch die Wälder, und manches schaute einen so fordernd und versprechend und sehnsuchterweckend an: ein Stern am Abend, eine blaue Glockenblume, ein schilfgrüner See, das Auge eines Menschen oder einer Kuh, und manchmal war es, als müsse jetzt gleich etwas Niegesehenes und doch lang Ersehntes geschehen, ein Schleier von allem fallen; aber dann ging es vorüber, und es geschah nichts, und das Rätsel wurde nicht gelöst und der geheime Zauber nicht entbunden, und zuletzt wurde man alt und sah so pfifig aus wie der Pater Anselm oder so weise wie der Abt Daniel und wußte vielleicht noch immer nichts, wartete und horchte noch immer.

Er hob ein leeres Schneckenhaus auf, es klirrte schwach zwischen den Steinen und war ganz warm von der Sonne. Versunken betrachtete er die Windungen des Gehäuses, die eingekerbte Spirale, die launige Verjüngung des Krönchens, den leeren Schlund, in dem es perlmuttern schimmerte. Er schloß die Augen, um die Formen nur mit den tastenden Fingern zu erfühlen, das war eine alte Gewohnheit und Spielerei von ihm. Die Schnecke zwischen den losen Fingern drehend, tastete er gleitend, ohne Druck, ihre Formen liebkosend nach, beglückt vom Wunder der Formung, vom Zauber des Körperlichen. Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandeswesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig. Den Kopf über seine Krauter gebückt, die im Welken mehr und mehr zu duften begannen, schlief er in der Sonne ein. Über seine Schuhe liefen die Eidechsen, auf seinen Knien welkten die Pflanzen, unter dem Ahorn wartete Bless und wurde ungeduldig.

Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfernung, neugierig und misstrauisch, sah, dass er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Misstrauen schwand, der hübsche schlafende Jüngling sah nicht gefährlich aus, er gefiel ihr wohl – wie kam der hierher auf die Brachfelder? Blumen hatte er gepflückt, sah sie mit Lächeln, sie waren schon welk.

Goldmund öffnete die Augen, aus Traumwäldern zurückkommend. Sein Kopf lag weich, er lag im Schoß einer Frau, in seine verschlafenen verwunderten Augen blickten fremde nahe Augen warm und braun. Er erschrak nicht, es war keine Gefahr, freundlich schienen die warmen braunen Sterne herab. Nun lächelte die Frau unter seinem erstaunten Blick, lächelte sehr freundlich, und langsam begann auch er zu lächeln. Auf seine lächelnden Lippen kam ihr Mund herab, sie begrüßten sich in einem sanften Kuß, bei welchem Goldmund alsbald jenes Abends im Dorfe und des kleinen Mädchens mit den Zöpfen gedenken musste. Aber der Kuss war noch nicht zu Ende. Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin, ließ ihn suchen und finden, ließ ihn erglühen und stillte die Glut. Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch. Mit geschlossenen Augen lag er, das Gesicht auf der Brust des Weibes. Es war kein Wort gesprochen worden. Das Weib hielt stille, streichelte leise sein Haar, ließ ihn langsam zu sich kommen. Endlich tat er die Augen auf.

»Du«, sagte er. »Du! Wer bist du denn?«

»Ich bin Lise«, sagte sie.

»Lise«, sprach er nach, den Namen kostend. »Lise, du bist lieb.«

Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und flüsterte hinein: »Du, ist es das erstemal gewesen? Hast du vor mir noch keine liebgehabt?«

Er schüttelte den Kopf. Dann plötzlich richtete er sich auf und blickte um sich, übers Feld und an den Himmel.

»Oh«, rief er, »die Sonne ist schon ganz tief. Ich muss zurück.« – »Wohin denn?«

»Ins Kloster, zum Pater Anselm.«

»Nach Mariabronn? Da gehörst du hin? Willst du denn nicht noch bei mir bleiben?«

»Ich möchte gerne.«

»So bleib doch!«

»Nein, es wäre unrecht. Ich muss auch noch mehr von dem Kraut sammeln.«

»Bist du denn im Kloster?«

»Ja, ich bin Schüler. Aber ich bleibe nicht mehr dort. Kann ich zu dir kommen, Lise? Wo wohnst du denn, wo bist du zu Haus?«

»Ich wohne nirgends, mein Schatz. Willst du mir aber nicht deinen Namen sagen? – So, Goldmund heißest du?

Gib mir noch einen Kuss, Goldmündchen, dann kannst du ja gehen.«

»Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn?«

»Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu. Kommst du heut nacht?«

»O ja. Wohin? Wo finde ich dich?«

»Kannst du schreien wie ein Käuzchen?«

»Ich habe es nie probiert.«

»Probiere es.«

Er versuchte es. Sie lachte und war zufrieden.

»Dann komm heut nacht aus dem Kloster und schreie wie ein Käuzchen, ich bin in der Nähe. Gefalle ich dir denn, Goldmündlein, mein Kindlein?«

»Ach, du gefällst mir sehr, Lise. Ich komme. Behüt dich Gott, jetzt muss ich weiter.«

Auf dampfendem Pferd kam Goldmund in der Dämmerung ins Kloster zurück und war froh, dass er den Pater Anselm sehr beschäftigt fand. Ein Bruder hatte sich barfuß im Bach vergnügt und sich dabei einen Scherben in den Fuß getreten.

Jetzt galt es, Narziss aufzufinden. Er fragte einen der dienenden Brüder, die im Refektorium aufwarteten. Nein, sagten sie, Narziss käme nicht zum Nachtmahl, er habe Fasttag und werde jetzt wohl schlafen, da er nachts Vigilien halte. Goldmund rannte. Seines Freundes Schlafstätte während der langen Exerzitien war eine der Büßerzellen im innern Kloster. Ohne Besinnen lief er hin. Er horchte an der Tür, nichts war zu hören. Leise trat er ein. Dass es streng verboten war, kam jetzt nicht in Betracht.

Auf der schmalen Pritsche lag Narziss, in der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem, spitzem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte aber die Augen offen und schlief nicht. Stumm blickte er Goldmund an, ohne Vorwurf, doch ohne sich zu rühren und sichtlich so in einer Versunkenheit befangen, so in einer andern Zeit und Welt gegenwärtig, dass er Mühe hatte, den Freund zu erkennen und seine Worte zu verstehen.

»Narziss! Verzeih, verzeih, Lieber, dass ich dich störe, es geschieht nicht aus Mutwillen. Ich weiß, dass du jetzt eigentlich nicht mit mir sprechen darfst, aber tue es dennoch, ich bitte dich sehr darum.«

Narziss besann sich, einen Augenblick heftig blinzelnd, als gebe er sich Mühe, wach zu werden.

»Ist es notwendig?« fragte er mit erloschener Stimme.

»Ja, es ist notwendig. Ich komme, um von dir Abschied zu nehmen.«

»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«

Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.

»Verzeih nur!« sagte er schuldbewusst. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.

»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«

»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«

»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«

»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«

Narziss blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht in seinem strengen, arg ermüdeten Gesicht, aber in seiner Stimme war ein Lächeln zu spüren, als er sagte: »Wir haben sehr wenig Zeit, Lieber. Sage nur das Notwendige, and sage es deutlich und kurz. – Oder muss ich es dir sagen, was mit dir geschehen ist?«

»Sage es«, bat Goldmund.

»Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.«

»Wie kannst du nun das wieder wissen!«

»Du machst es mir leicht. Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«

Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.

»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziss, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, dass jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, dass ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuss fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wusste ich ganz plötzlich, dass jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«

Narziss hörte zu und nickte.

»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«

»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, dass er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«

»Ich weiß… Hast du sonst ein Anliegen?«

»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und… ich danke dir.«

»Wofür, Goldmund?«

»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, dass du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, dass du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«

»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«

»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«

»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, dass dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.«

Goldmund lehnte sich an den Freund.

»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muss, weil es mich ruft.«

Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du musst nicht glauben, dass ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, dass es sein muss, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, dass ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe was du Verliebtsein nennst und ein bisschen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziss, ich muss dich verlassen! Ich liebe dich, Narziss, und ich danke dir, dass du mir heut ein bisschen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«

»Mach dir und mir das Herz nicht schwer! Ich vergesse dich niemals. Du wirst wiederkommen, ich bitte dich darum, ich erwarte es. Wenn es dir einmal schlecht geht, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl, Goldmund, Gott sei mit dir!«

Er hatte sich erhoben. Goldmund umarmte ihn. Da er seines Freundes Scheu vor Liebkosungen kannte, küsste er ihn nicht, er streichelte nur seine Hände, Die Nacht brach ein, Narziss schloss die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klappten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebenden Augen, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, angesogen und eingefordert von Übungen, von Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam und verwirrt war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden! Da war er gelegen, todmüde und erloschen, mit dem bleichen Gesicht und den gemagerten Händen, wie ein Toter anzusehen, und war doch alsbald klar und freundlich auf den Freund eingegangen und hatte dem Verliebten, der noch nach einem Weibe duftete, sein Ohr geliehen und seine karge Ruhezeit zwischen zwei Bußübungen geopfert! Wunderlich war es, und wunderbar schön war es, dass es auch diese Art von Liebe gab, diese selbstlose, ganz vergeistigte. Wie anders war sie als diese Liebe heut im sonnigen Feld, dies trunkene und rechenschaftslose Spiel der Sinne! Und doch war beides Liebe. Ach, und jetzt war Narziss ihm verschwunden, nachdem er ihm in dieser letzten Stunde nochmals so deutlich gezeigt hatte, wie ganz und gar verschieden und einander unähnlich sie waren. Narziss lag jetzt vor dem Altar auf müden Knien, vorbereitet und geläutert zu einer Nacht voll Gebet und Betrachtung, in der ihm nicht mehr als zwei Stunden Ruhe und Schlaf erlaubt waren, während er, Goldmund, davonlief, um irgendwo unter den Bäumen seine Lise zu finden und jene süßen tierischen Spiele mit ihr zu wiederholen! Narziss hätte Beachtenswertes darüber zu sagen gewusst. Nun: er, Goldmund, war nicht Narziss. Ihm lag es nicht ob, diese schönen und schauerlichen Rätsel und Verwirrungen zu ergründen und Wichtiges darüber zu sagen. Ihm lag nichts ob, als seine ungewissen, törichten Goldmundwege weiterzugehen. Ihm lag nichts ob, als sich hinzugeben und zu lieben, den betenden Freund in der nächtlichen Kirche nicht minder als die schöne warme junge Frau, die auf ihn wartete.

Als er, das Herz von hundert streitenden Gefühlen erregt, unter den Hoflinden davonschlich und den Ausgang durch die Mühle suchte, musste er dennoch lächeln, als er sich plötzlich jenes Abends erinnerte, an dem er einst mit Konrad auf diesem selben Schleichweg das Kloster verlassen hatte, um »ins Dorf« zu gehen. Wie erregt und heimlich furchtsam hatte er damals den kleinen verbotenen Ausflug angetreten, und heute ging er für immer, ging viel verbotenere und gefährlichere Wege, und hatte keine Furcht dabei, dachte nicht an Pförtner, an Abt und Lehrer.

Es lagen diesmal keine Bretter am Bach, er musste ohne Brücke hinüber. Er zog das Gewand aus und warf es ans andere Ufer, dann ging er nackt durch den tiefen, stark strömenden Bach, bis an die Brust im kalten Wasser.

Während er sich drüben wieder ankleidete, waren seine Gedanken wieder bei Narziss. Mit großer beschämender Klarheit sah er jetzt, dass er in dieser Stunde nichts anderes tue, als was jener vorausgewusst und wozu er ihn geführt habe. Er sah überdeutlich jenen klugen, etwas spöttischen Narziss wieder, der ihn so viel Törichtes hatte reden hören, und jenen, der ihm einst in wichtiger Stunde unter Schmerzen die Augen geöffnet hatte. Einige der Worte, die Narziss ihm damals gesagt, hörte er jetzt deutlich wieder: »Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Deine Träume sind von Mädchen, meine von Jünglingen.«

Einen Augenblick zog sein Herz sich frierend zusammen, schrecklich allein stand er da in der Nacht. Hinter ihm lag das Kloster, eine Scheinheimat nur, aber doch eine geliebte und langgewohnte.

Zugleich aber fühlte er das andere: dass jetzt Narziss nicht mehr sein mahnender und besserwissender Führer und Wecker war. Heute hatte er, so fühlte er, ein Land betreten, in dem er die Wege allein fand, in dem kein Narziss ihn mehr führen konnte. Er war froh, dass ihm dies bewusst wurde; es war ihm drückend und beschämend gewesen, so auf die Zeit seiner Abhängigkeit zurückzublicken. Jetzt war er sehend und war kein Kind und Schüler mehr. Es war gut, das zu wissen. Aber dennoch – wie schwer war es, Abschied zu nehmen! Ihn dort drüben in der Kirche knien zu wissen, ihm nichts geben, nicht helfen, nichts sein zu können! Und nun für lange Zeit, vielleicht für immer, von ihm getrennt zu sein, nichts von ihm zu wissen, seine Stimme nicht mehr zu hören, sein edles Auge nicht mehr zu sehen!

Er riss sich los und folgte dem steinigen Sträßchen. Als er einhundert Schritte von den Klostermauern weg war, blieb er stehen, schöpfte Atem und stieß, so gut er konnte, den Eulenschrei aus. Ein gleicher Eulenschrei antwortete, bachabwärts, in der Ferne.

»Wie die Tiere schreien wir nacheinander«, musste er denken und erinnerte sich der Liebesstunde am Nachmittag; erst jetzt kam es ihm zum Bewusstsein, dass zwischen ihm und Lise erst ganz zuletzt, am Ende der Liebkosungen, Worte gewechselt worden waren, und auch da nur wenige und belanglose! Wie lange Gespräche hatte er mit Narziss gehabt! Nun aber, so schien es, war er in eine Welt eingetreten, wo man nicht sprach, wo man einander mit Eulenrufen lockte, wo Worte keine Bedeutung hatten. Er war damit einverstanden, er hatte heut kein Bedürfnis mehr nach Worten oder Gedanken, nur nach Lise, nur nach diesem wortlosen, blinden, stummen Fühlen und Wühlen, nach diesem seufzenden Hinschmelzen.

Lise war da, schon kam sie ihm aus dem Walde entgegen. Er streckte die Hände aus, um sie zu fühlen, umfasste mit zärtlich tastenden Händen ihren Kopf, ihr Haar, ihren Hals und Nacken, ihren schlanken Leib und die festen Hüften. Einen Arm um sie geschlungen, ging er mit ihr weiter, ohne zu sprechen, ohne zu fragen: wohin? Sicher ging sie in den nächtlichen Wald, er hatte Mühe mitzukommen, wie ein Fuchs oder Marder schien sie mit Nachtaugen zu sehen, ging ohne anzustoßen, ohne zu stolpern. Er ließ sich führen, in die Nacht, in den Wald, in das blinde geheimnisvolle Land ohne Worte, ohne Gedanken. Er dachte nicht mehr, auch nicht an das verlassene Kloster, auch nicht an Narziss.

Stumm liefen sie eine finstere Waldstrecke, zuweilen auf weichem, polstrigem Moos, zuweilen auf harten Wurzelrippen, zuweilen war zwischen spärlichen hohen Baumkronen lichter Himmel über ihnen, zuweilen war es völlig finster; Sträucher schlugen ihm ins Gesicht, Brombeerranken hielten ihn am Gewände fest. Überall wusste sie Bescheid und fand sich durch, selten blieb sie stehen, selten zögerte sie. Nach einer langen Weile kamen sie zwischen einzelnen, weit voneinander stehenden Kiefern an, weithin lag der blasse Nachthimmel offen, der Wald war zu Ende, ein Wiesental nahm sie auf, süß duftete es nach Heu. Sie wateten durch einen kleinen, lautlos rinnenden Bach, hier im Freien war es noch stiller als im Walde: kein rauschendes Gesträuch, kein aufschnellendes Nachtgetier, kein Knacken von Dürrholz mehr.

Bei einem großen Heuhaufen machte Lise halt.

»Hier bleiben wir«, sagte sie.

Sie setzten sich beide ins Heu, erst einmal aufatmend und die Rast genießend, beide etwas ermüdet. Sie streckten sich, hörten der Stille zu, fühlten ihre Stirnen trocknen und ihre Gesichter allmählich kühl werden. Goldmund kauerte in angenehmer Müdigkeit, zog spielend die Knie an und streckte sie wieder, sog Nacht und Heuduft in langen Atemzügen ein und dachte weder zurück noch an die Zukunft. Langsam nur ließ er sich vom Duft und der Wärme seiner Geliebten anziehen und bezaubern, erwiderte je und je das Streicheln ihrer Hände und fühlte beglückt, wie sie neben ihm allmählich zu erglühen begann und sich näher und näher zu ihm schob. Nein, hier waren weder Worte noch Gedanken vonnöten. Deutlich fühlte er alles, was wichtig und schön war, die Jugendkraft und einfache gesunde Schönheit des Frauenleibes, sein Warmwerden und Begehren; deutlich auch fühlte er, dass sie diesmal anders geliebt zu werden wünsche als beim erstenmal, dass sie diesmal ihn nicht verführen und belehren, sondern sein Angreifen und seine Begierde erwarten wolle. Still ließ er die Ströme durch sich hingehen, glücklich empfand er das lautlose stillwachsende Feuer, das in ihnen beiden lebendig war und das ihre kleine Lagerstätte zur atmenden und glühenden Mitte der ganzen schweigenden Nacht machte.

Als er sich über Lises Gesicht gebeugt hatte und im Dunkeln ihre Lippen zu küssen begann, sah er plötzlich ihre Augen und die Stirn in einem sanften Licht erschimmern, staunend blickte er hin und sah zu, wie der Schein aufdämmerte und schnell sich verstärkte. Dann begriff er und wandte sich um: überm Rand der schwarzen langgestreckten Wälder kam der Mond herauf. Wunderbar sah er das weiße sanfte Licht über ihre Stirn und Wangen fließen, über den runden lichten Hals, und sagte leise und entzückt: »Wie schön du bist!«

Sie lächelte wie beschenkt, er richtete sie halb auf, zog ihr sanft das Gewand vom Halse weg, half ihr heraus und schälte sie, bis Schultern und Brust nackt im kühlen Mondlicht schimmerten. Mit Augen und Lippen folgte er hingenommen den zarten Schatten, schauend und küssend; wie bezaubert hielt sie still, mit gesenktem Blick und einem feierlichen Ausdruck, als werde ihre Schönheit in diesem Augenblick zum erstenmal, auch ihr selbst, entdeckt und offenbar.

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