Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Neunzehntes Kapitel

Zwei Jahre arbeitete Goldmund an diesem Werk, und vom zweiten Jahr an bekam er Erich ganz als Schüler zugewiesen. Im Schnitzwerk der Treppe dichtete er ein kleines Paradies, mit Wollust gestaltete er eine holde Wildnis von Bäumen, Laubwerk und Gekräute, mit Vögeln im Geäste, und die Leiber und Kopfe von Tieren tauchten überall dazwischen auf. Inmitten dieses friedlich sprossenden Urgartens stellte er einige Szenen aus dem Leben der Patriarchen dar. Selten erlitt dies fleißige Leben eine Unterbrechung. Selten kam ein Tag, an dem die Arbeit ihm unmöglich war, an dem Unrast oder Überdruss ihm sein Werk entleideten. Dann gab er dem Schüler eine Arbeit, lief oder ritt ins Land hinein, atmete im Wald den mahnenden Duft der Freiheit und des Vagantenlebens, suchte da oder dort eine Bauerntochter auf, ging auch auf die Jagd und lag Stunden im Grünen, in die Gewölbehallen der Waldwipfel starrend und in die wuchernden Wildnisse von Farnkraut und Ginster. Nie blieb er länger weg als einen Tag oder zwei. Dann ging er mit neuer Leidenschaft ans Werk, schnitzte mit Wollust die krautig wuchernden Pflanzen, holte sacht und zärtlich die Menschenköpfe aus dem Holz, schnitt einen Mund mit kräftigem Schnitt, ein Auge, einen faltigen Bart. Außer Erich kannte nur Narziss das Werk, oft kam er herüber, die Werkstatt wurde ihm zuzeiten der liebste Raum im Kloster. Mit Freude und Erstaunen sah er zu. Da kam nun zur Blüte, was sein Freund in seinem unruhigen, trotzigen und kindlichen Herzen getragen hatte, da wuchs und blühte es herauf, eine Schöpfung, eine kleine quellende Welt, ein Spiel vielleicht, aber gewiss kein schlechteres als das Spiel mit Logik, Grammatik und Theologie.

Nachdenklich sagte er einmal »Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen. Ich dachte etwa so da nun einmal der Mensch eine zweifelhafte Mischung aus Geist und Materie ist, da ihm der Geist die Erkenntnis des Ewigen öffnet, die Materie aber ihn hinabzieht und ans Vergängliche fesselt, sollte er von den Sinnen weg ins Geistige streben, um sein Leben zu erhohen und ihm Sinn zu geben. Ich gab zwar vor, die Kunst hochzuachten, aus Gewohnheit, aber eigentlich war ich hochmutig und sah auf sie herab. Jetzt erst sehe ich, wie viele Wege zur Erkenntnis es gibt und dass der Weg des Geistes nicht der einzige und vielleicht nicht der beste ist. Es ist mein Weg, gewiss, ich werde auf ihm bleiben. Aber ich sehe dich auf dem entgegengesetzten Weg, auf dem Weg durch die Sinne, das Geheimnis des Seins ebenso tief erfassen und viel lebendiger ausdrücken, als die meisten Denker es können.«

»Du begreifst nun«, sagte Goldmund, »dass ich nicht verstehen kann, was Denken ohne Vorstellungen sein soll!«

»Ich habe es längst begriffen. Unser Denken ist ein beständiges Abstrahieren, ein Wegsehen vom Sinnlichen, ein Versuch am Bau einer rein geistigen Welt. Du aber nimmst gerade das Unbeständigste und Sterblichste ans Herz und verkündest den Sinn der Welt gerade im Vergänglichen. Du siehst nicht davon weg, du gibst dich ihm hin, und durch deine Hingabe wird es zum Höchsten, zum Gleichnis des Ewigen. Wir, Denker, suchen uns Gott zu nähern, indem wir die Welt von ihm abziehen. Du näherst dich ihm, indem du seine Schöpfung liebst und nochmals erschaffst. Beides ist Menschenwerk und unzulänglich, aber die Kunst ist unschuldiger.«

»Ich weiß nicht, Narziss. Aber mit dem Leben fertig zu werden, die Verzweiflung abzuwehren, das scheint euch Denkern und Theologen doch besser zu gelingen. Ich beneide dich längst nicht mehr um deine Wissenschaft, mein Freund, aber ich beneide dich um deine Ruhe, um deinen Gleichmut, um deinen Frieden.«

»Du solltest mich nicht beneiden, Goldmund. Es gibt keinen Frieden, so, wie du es meinst. Es gibt den Frieden, gewiss, aber nicht einen, der dauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verlässt. Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigem Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muss. Du siehst mich nicht streiten, du kennst weder meine Kämpfe beim Studium, noch kennst du meine Kämpfe in der Betzelle. Es ist gut, dass du sie nicht kennst. Du siehst nur, dass ich weniger als du Launen unterworfen bin, das hältst du für Frieden. Es ist aber Kampf, es ist Kampf und Opfer wie jedes rechte Leben, wie das deine auch.«

»Wir wollen darüber nicht streiten. Auch du siehst meine Kämpfe nicht alle. Und ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie mir ums Herz ist, wenn ich daran denke, dass nun bald dieses Werk hier fertig sein wird. Es wird dann fortgebracht und aufgestellt, und man sagt mir einige Lobsprüche, und dann kehre ich in eine nackte leere Werkstatt zurück, betrübt über alles das, was in meinem Werk mir nicht gelungen ist und was ihr andern gar nicht sehen könnt, und bin im Innern so leer und beraubt, wie die Werkstatt es ist.«

»Das mag so sein«, sagte Narziss, »und keiner von uns kann den andern dann ganz verstehen. Gemeinsam aber ist allen Menschen, die des guten Willens sind, dieses dass unsere Werke uns am Ende beschämen, dass wir immer wieder von vorn beginnen müssen, dass das Opfer immer neu gebracht werden muss.«

Einige Wochen später war Goldmunds große Arbeit fertig und aufgestellt. Es wiederholte sich, was er schon längst erlebt hatte: sein Werk ging in den Besitz der andern über, ward betrachtet, beurteilt, gelobt, man rühmte ihn und erwies ihm Ehre, sein Herz aber und seine Werkstatt standen leer, und er wusste nicht mehr, ob das Werk des Opfers wert gewesen sei. Am Tag der Enthüllung war er bei den Patres zur Tafel geladen, es gab ein Festmahl und den ältesten Wein des Hauses; Goldmund schluckte den guten Fisch und das Wildbret, und mehr als der alte Wein erwärmte ihn die Teilnahme und Freude, mit welcher Narziss sein Werk und seine Ehrung begrüßte.

Eine neue Arbeit, vom Abt gewünscht und bestellt, war schon entworfen, ein Altar für die Marienkapelle in Neuzell, die dem kloster gehörte und in der ein Mariabronner Pater als Priester amtete. Für diesen Altar wollte Goldmund eine Marienfigur machen und wollte in ihr eine der unvergesslichen Gestalten seiner Jugend verewigen, die schöne ängstliche Ritterstochter Lydia. Im übrigen war dieser Auftrag ihm wenig wichtig, er schien ihm aber geeignet, dass Erich sein Gesellenstück an ihm machte. Bewährte sich Erich, so würde er an ihm für immer einen guten Mitarbeiter haben, der ihn ersetzen konnte und ihn für jene Arbeiten freimachte, die allein ihm noch am Herzen lagen. Jetzt suchte er mit Erich die Hölzer für den Altar aus und ließ ihn sie herrichten. Oft ließ Goldmund ihn allein, er hatte das Streifen und die weiten Waldgänge wieder angefangen; als er einmal mehrere Tage ausblieb, meldete Erich es dem Abt, und auch der Abt fürchtete ein wenig, er möchte sich für immer davongemacht haben. Er kam indessen zurück, arbeitete eine Woche lang an der Lydiafigur, dann fing er wieder an zu schweifen.

Er hatte Sorgen; seit dem Fertig werden der großen Arbeit war sein Leben in Unordnung, er versäumte die Frühmesse, er war tief unruhig und unzufrieden. Viel dachte er jetzt an den Meister Nikiaus und ob nicht bald auch er selbst so werden würde, wie Nikiaus war, fleißig und bieder und kunstfertig, aber unfrei und unjung. Kürzlich hatte ein kleines Erlebnis ihn nachdenklich gemacht. Auf seinen Streifen hatte er ein junges Bauernmädchen namens Franziska gefunden, die ihm sehr gefiel, so dass er sich Mühe gab, sie zu bezaubern, und alle seine einstigen Werbekünste anwandte. Das Mädchen hörte sein Geplauder gern, sie lachte beglückt zu seinen Witzen, aber seine Werbungen lehnte sie ab, und zum erstenmal spürte er, dass er einem jungen Weibe alt erscheine. Er war nicht mehr hingegangen, aber er hatte es nicht vergessen. Franziska hatte recht, er war anders geworden, er fühlte es selbst, und zwar waren es nicht die paar verfrühten grauen Haare und die paar Falten um die Augen, es war mehr etwas im Wesen, im Gemüt;

er fand sich alt, er fand sich dem Meister Nikiaus unheimlich ähnlich geworden. Mit Unwillen beobachtete er sich selber und zuckte die Achseln über sich; er war unfrei und sesshaft geworden, er war kein Adler und kein Hase mehr, er war ein Haustier geworden. Trieb er sich draußen herum, so suchte er den Duft der Vergangenheit, das Gedächtnis seiner einstigen Wanderschaft mehr als neue Wanderung und neue Freiheit, er suchte sehnlich und misstrauisch danach wie ein Hund nach einer verlorengegangenen Witterung. Und war er einen Tag oder zwei draußen gewesen, hatte er ein wenig gebummelt und gefeiert, so zog es ihn unweigerlich wieder zurück, er hatte ein schlechtes Gewissen, er fühlte die Werkstatt warten, er fühlte sich für den begonnenen Altar, für das vorbereitete Holz, für den Gehilfen Erich verantwortlich. Er war nicht mehr frei, er war nicht mehr jung. Fest nahm er sich vor: wenn die Lydia-Maria fertig wäre, wollte er eine Reise antreten und es noch einmal mit dem Wanderleben probieren. Es war nicht gut, so lange in einem Kloster und bei lauter Männern zu leben. Für Mönche mochte es gut sein, für ihn aber nicht. Mit Männern konnte man schön und klug sprechen, und sie hatten Verstand für die Arbeit eines Künstlers, aber alles andere, das Schwatzen, das Zärtlichsein, das Spiel, die Liebe, das Behagen ohne Gedanken – das gedieh unter Männern nicht, dazu brauchte es Frauen und Wanderung und Schweifen und immer neue Bilder. Es war alles hier um ihn her ein wenig grau und ernsthaft, ein wenig schwer und männlich, und er war davon angesteckt, es war ihm ins Blut gekrochen.

Der Gedanke an die Reise tröstete ihn; er hielt sich brav zur Arbeit, um desto eher frei zu werden. Und wie ihm aus dem Holz die Gestalt Lydias allmählich entgegenkam, wie er von ihren edlen Knien die strengen Kleidfalten niederstreben ließ, entzückte ihn eine innige und schmerzliche Freude, eine wehmütige Verliebtheit in das Bild, in die schöne scheue Mädchenfigur, in die Erinnerung an damals, an seine erste Liebe, an seine ersten Reisen, an seine Jugend. Andächtig arbeitete er an dem zarten Bilde, fühlte es eins mit dem Besten in sich, mit seiner Jugend, mit seinen zärtlichsten Erinnerungen. Es war ein Glück, ihren geneigten Hals zu bilden, ihren freundlichtraurigen Mund, ihre vornehmen Hände, die langen Finger, die schön gewölbten Kuppen der Fingernägel. Mit Bewunderung und ehrfürchtiger Verliebtheit betrachtete auch Erich die Figur, so oft er konnte.

Als sie nahezu fertig war, zeigte er sie dem Abt. Narziss sagte: »Das ist dein schönstes Werk, Lieber, wir haben nichts im ganzen Kloster, was ihm gleich kommt. Ich muss dir gestehen, dass ich in diesen letzten Monaten einige Male um dich in Sorgen gewesen bin. Ich sah dich unruhig und leidend, und wenn du verschwandest und länger als einen Tag ausbliebest, dachte ich manchmal mit Sorge: vielleicht kommt er nicht wieder. Und nun hast du diese wundervolle Figur gemacht! Ich bin froh über dich und bin stolz auf dich!«

»Ja«, sagte Goldmund, »die Figur ist ganz gut geworden. Aber nun höre mich, Narziss! Dass diese Figur gut geworden ist, dazu war meine ganze Jugend nötig, meine Wanderschaft, meine Verliebtheit, mein Werben um viele Frauen. Das ist der Brunnen, aus dem ich geschöpft habe. Der Brunnen wird bald leer sein, es wird mir dürr im Herzen. Ich werde diese Maria fertigmachen, dann aber werde ich für eine gute Weile Urlaub nehmen, ich weiß nicht, für wie lange, und werde meine Jugend und alles dies wieder aufsuchen, was mir einst so lieb gewesen ist. Kannst du es verstehen? – Nun ja. Du weißt, ich war dein Gast, und ich habe für meine Arbeit hier nie eine Bezahlung genommen.«

»Ich habe sie dir oft angeboten«, warf Narziss ein.

»Ja, und jetzt nehme ich sie an. Ich werde mir neue Kleider machen lassen, und wenn sie fertig sind, bitte ich dich um ein Pferd und um ein paar Taler Geld, dann reite ich in die Welt. Sage nichts, Narziss, und sei nicht betrübt. Es ist nicht, dass es mir hier nicht mehr gefallen würde, ich könnte es nirgends besser haben. Es geht um anderes. Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?«

Es wurde wenig mehr darüber gesprochen. Goldmund ließ sich ein einfaches Reiterkleid und Stiefel machen, und während der Sommer näher kam, machte er die Maria fertig, als sei es sein letztes Werk, mit liebender Behutsamkeit gab er den Händen, dem Gesicht, dem Haar die letzte Vollendung. Es konnte sogar so scheinen, als zögere er die Abreise hinaus, als lasse er sich recht gerne von diesen letzten zarten Arbeiten an der Figur immer wieder ein wenig aufhalten. Tag um Tag verging, und er hatte noch immer dies und jenes anzuordnen. Narziss, obwohl er den bevorstehenden Abschied schwer empfand, lächelte manchmal ein wenig über die Verliebtheit Goldmunds und sein Nichtloskommenkönnen von der Marienfigur.

Dann aber überraschte ihn Goldmund doch eines Tages, indem er plötzlich kam, um sich zu verabschieden. Über Nacht hatte er seinen Entschluss gefasst. Im neuen Kleide, in einem neuen Barett, kam er zu Narziss, um Abschied zu nehmen. Er hatte schon vor einer Weile gebeichtet und kommuniziert. Jetzt kam er, um Lebewohl zu sagen und sich den Reisesegen zu holen. Beiden fiel der Abschied schwer, und Goldmund tat forscher und gleichmütiger, als ihm ums Herz war. »Werde ich dich denn wiedersehen?« fragte Narziss.

»O ja, wenn dein hübscher Gaul mir den Hals nicht bricht, wirst du mich gewiss wiedersehen. Es wäre ja sonst niemand da, der dich noch Narziss nennt und dir Sorgen macht. Verlass dich drauf. Vergiss nicht, ein Auge auf Erich zu haben. Und dass niemand mir meine Figur anrührt! Sie bleibt in meiner Kammer stehen, wie ich gesagt habe, und du darfst mir den Schlüssel nicht aus der Hand geben.«

»Freust du dich auf die Reise?«

Goldmund zwinkerte mit den Augen.

»Na, ich habe mich darauf gefreut, das ist schon so. Aber jetzt, wo ich losreiten soll, kommt es mir doch weniger lustig vor, als man meinen sollte. Du wirst mich auslachen, aber ich trenne mich gar nicht leicht, und diese Anhänglichkeit gefällt mir nicht. Es ist wie eine Krankheit: junge und gesunde Leute haben das nicht. Der Meister Niklaus war auch so. Ach, schwatzen wir nicht unnützes Zeug! Segne mich, Lieber, ich will abreisen.«

Er ritt davon.

Narziss war in seinen Gedanken viel mit dem Freunde beschäftigt, er sorgte um ihn und hatte Sehnsucht nach ihm. Würde er ihm denn zurückkommen, der entflohene Vogel, der liebe Leichtfuß? Nun zog dieser wunderliche und geliebte Mensch wieder seine krause, willenlose Bahn, nun strich er wieder lüstern und neugierig durch die Welt, seinen starken dunklen Trieben nach, stürmisch und unersättlich, ein großes Kind. Möge Gott mit ihm sein, möge er heil zurückkommen. Nun flog er wieder kreuz und quer, der Schmetterling, nun sündigte er wieder, verführte Frauen, ging seinen Gelüsten nach, geriet vielleicht wieder in Totschlag, in Gefahr und Gefangenschaft und kam dann um. Wieviel Sorgen machte einem dieser blonde Knabe, der über sein Altwerden klagte und aus solchen Kinderaugen blickte! Wie musste man um ihn in Angst sein. Und doch freute sich Narziss von Herzen über ihn. Es gefiel ihm im Grunde sehr, dass dieses trotzige Kind so schwer zu bändigen war, dass er solche Launen hatte, dass er nun wieder ausgebrochen war und sich die Hörner ablief.

Jeden Tag kehrten die Gedanken des Abts zu irgendeiner Stunde zu seinem Freunde zurück, in Liebe und Sehnsucht, in Dankbarkeit, in Sorge, zuweilen auch mit Bedenken und Selbstvorwürfen. Hatte er dem Freunde nicht vielleicht mehr davon verraten sollen, wie sehr er ihn liebte, wie wenig er ihn anders wünschte, wie reich er durch ihn und durch seine Kunst geworden war? Er hatte ihm wenig davon gesagt, viel zu wenig vielleicht – wer weiß, ob er ihn nicht hätte halten können?

Er war durch Goldmund aber nicht nur reicher geworden Er war durch ihn auch ärmer geworden, ärmer und schwächer, und es war gewiss gut, dass er das dem Freunde nicht gezeigt hatte. Die Welt, in der er lebte und Heimat hatte, seine Welt, sein Klosterleben, sein Amt, seine Gelehrsamkeit, sein schön gegliedertes Gedankengebäude waren ihm durch den Freund oft stark erschüttert und zweifelhaft geworden. Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von obengesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Verrichtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.

Ja, und es war vielleicht nicht bloß kindlicher und menschlicher, ein Goldmundleben zu führen, es war am Ende wohl auch mutiger und größer, sich dem grausamen Strom und Wirrwarr zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen, sich einen schönen Gedankengarten voll Harmonie anzulegen und zwischen seinen behüteten Beeten sündelos zu wandeln Es war vielleicht schwerer, tapferer und edler, mit zerrissenen Schuhen durch die Wälder und auf den Landstraßen zu wandern, Sonne und Regen, Hunger und Not zu leiden, mit den Freuden der Sinne zu spielen und sie mit Leiden zu bezahlen.

Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, dass ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, dass er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne dass im Heiligtum seiner Seele das göttliche Licht und die Schöpferkraft erlosch. Tief hatte Narziss in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar stilllebendigen, von innerer Form und Ordnung verklärten Gebilde hatte hervorgehen sehen, diese innigen, von Seele leuchtenden Gesichter, diese unschuldigen Pflanzen und Blumen, diese flehenden oder begnadeten Hände, all diese kühnen und sanften, stolzen oder heiligen Gebärden, seitdem wusste er wohl, dass in diesem unsteten Künstler- und Verführerherzen eine Fülle von Licht und Gottesgnade wohne.

Leicht hatte er es gehabt, in ihren Gesprächen dem Freund überlegen zu scheinen, dessen Leidenschaft seine Zucht und Gedankenordnung entgegenzusetzen. Aber war nicht jede kleine Gebärde einer Goldmundfigur, jedes Auge, jeder Mund, jede Ranke und Kleidfalte mehr, war wirklicher, lebendiger und unersetzlicher als alles, was ein Denker leisten konnte? Hatte dieser Künstler, dessen Herz so voll Widerstreit und Not war, nicht für unzählige Menschen, heutige und kommende, Sinnbilder ihrer Not und ihres Strebens aufgestellt, Gestalten, zu welchen Andacht und Ehrfurcht, Herzensangst und Sehnsucht Unzähliger sich wenden konnte, um in ihnen Trost, Bestätigung und Stärkung zu finden?

Lächelnd und traurig erinnerte Narziss sich all der Szenen seit früher Jugend, in denen er seinen Freund geführt und belehrt hatte. Dankbar hatte der Freund es angenommen, hatte immer wieder seine Überlegenheit und Führerschaft gelten lassen. Und dann hatte er in aller Stille die aus dem Sturm und Leid seines gepeitschten Lebens geborenen Werke hingestellt: keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen, sondern echtes, erhöhtes Leben. Wie arm war er selbst dagegen mit seinem Wissen, seiner Klosterzucht, seiner Dialektik?

Dies waren die Fragen, um welche seine Gedanken kreisten. So wie er vor vielen Jahren einst erschütternd und mahnend in Goldmunds Jugend eingegriffen und sein Leben in einen neuen Raum gestellt hatte, so hatte seit seiner Rückkehr der Freund ihm zu schaffen gemacht, ihn erschüttert, ihn zu Zweifel und Selbstprüfung gezwungen. Er war ihm ebenbürtig, nichts hatte Narziss ihm gegeben, das er nicht vielfach wiederbekommen hatte.

Der davongerittene Freund ließ ihm Zeit zu seinen Gedanken. Die Wochen vergingen, längst hatte der Kastanienbaum geblüht, längst war das milchig hellgrüne Buchenlaub dunkel, fest und hart geworden, längst hatten die Storche auf dem Torturm gebrütet, hatten Junge und hatten sie fliegen gelehrt. Je länger Goldmund ausblieb, desto mehr sah Narziss, was er an ihm gehabt hatte. Er hatte einige gelehrte Patres im Hause, einen Kenner des Plato, einen vorzüglichen Grammatiker, einen oder zwei subtile Theologen. Er hatte unter den Mönchen einige treue, redliche Seelen, denen es Ernst war. Aber er hatte keinen seinesgleichen, keinen, an dem er sich ernstlich messen konnte. Dies Unersetzliche hatte nur Goldmund ihm gegeben. Es nun wieder entbehren zu müssen, fiel ihm schwer. Mit Sehnsucht dachte er an den Entfernten.

Oft ging er in die Werkstatt hinüber, ermunterte den Gehilfen Erich, der am Altar weiterarbeitete und sehr nach der Rückkehr seines Meisters bangte. Manchmal schloss der Abt Goldmunds Kammer auf, wo die Maria stand, hob vorsichtig das Tuch von der Figur und verweilte bei ihr. Er wusste nichts von ihrer Herkunft, Goldmund hatte ihm die Geschichte Lydias nie erzählt. Aber er fühlte alles, er sah, dass diese Mädchengestalt lange in seines Freundes Herzen gelebt habe. Vielleicht hatte er sie verführt, vielleicht sie betrogen und verlassen. In seiner Seele aber hatte er sie mitgenommen und bewahrt, treuer als der beste Gatte, und schließlich hatte er, vielleicht nach vielen Jahren, in denen er sie nie mehr gesehen, diese schöne rührende Mädchenfigur gemacht und in ihr Gesicht, ihre Haltung, ihre Hände alle Zärtlichkeit, Bewunderung und Sehnsucht eines Liebenden beschlossen. Auch in den Figuren der Lesekanzel im Refektorium las er dies und jenes von der Geschichte seines Freundes. Es war die Geschichte eines Landfahrers und Triebmenschen, eines Heimatlosen und Treulosen, aber was hier davon übriggeblieben, war alles gut und treu, war voll lebendiger Liebe. Wie geheimnisvoll war dieses Leben, wie trüb und reißend flossen seine Ströme, und wie edel und klar standen die Ergebnisse da!

Narziss kämpfte. Er wurde Herr darüber, er wurde seiner Bahn nicht untreu, er versäumte nichts an seinem strengen Dienst. Aber er litt unter dem Verlust und litt unter der Erkenntnis, wie sehr sein Herz, das doch nur Gott und seinem Amt gehören sollte, an diesem Freunde hing.

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