Книга: Narziss und Goldmund / Нарцисс и Гольдмунд. Книга для чтения на немецком языке
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Sechzehntes Kapitel

Einen Tag voll glücklicher Ungeduld brachte Goldmund auf den Hügeln zu. Hätte er ein Pferd gehabt, so wäre er heut ins Kloster zu der schönen Madonna seines Meisters geritten, es verlangte ihn, sie noch einmal zu sehen, auch schien ihm, er habe nachts vom Meister Niklaus geträumt. Nun, er würde es nachholen. Sollte auch dies Liebesglück mit Agnes vielleicht von kurzer Dauer sein, vielleicht zu Bösem führen – heut stand es in Blüte, er durfte nichts davon versäumen. Er wollte heute keine Menschen sehen und nicht zerstreut sein, er wollte den sanften Herbsttag draußen verbringen, unter den Bäumen und Wolken. Er sagte es Marie, dass er einen Gang über Land im Sinn habe und wohl erst spät zurückkommen werde, sie möge ihm ein tüchtiges Stück Brot mitgeben, und am Abend möge sie doch nicht seinetwegen warten. Sie sagte nichts dazu, sie steckte ihm die Tasche voll Brot und Äpfeln, fuhr mit der Bürste über seinen alten Rock, dessen Schaden sie gleich am ersten Tage geflickt hatte, und ließ ihn ziehen.

Er spazierte über den Fluss und durch die leeren Weinberge auf steilen Treppenwegen hügelan, verlor sich oben im Walde und hörte nicht auf zu steigen, bis er den letzten Höhenkranz erreicht hatte. Da schien die Sonne lau durch das Gestänge der kahlen Bäume, Amseln flohen vor seinen Schritten ins Gebüsch, saßen scheu geduckt und schauten aus schwarzblanken Augen aus dem Dickicht, und weit unten in blauem Bogen floss der Strom und lag die Stadt klein wie Spielzeug hingebaut, von dort war kein Ton mehr zu hören als die Geläute zu den Betzeiten. Hier oben gab es kleine grasbewachsene Wälle und Hügel aus alter heidnischer Zeit, vielleicht Befestigungen, vielleicht Gräber. Auf einem dieser Hügel ließ er sich nieder, hier saß man trocken im knisternden Herbstgras und übersah das ganze weite Tal und jenseits des Flusses die Hügel und Berge, Kette hinter Kette, bis wo Gebirg und Himmel in bläulichem Spiel sich begegneten und nicht mehr zu unterscheiden waren. All dies weite Land und viel weiter noch, als ein Auge sehen konnte, hatten seine Füße durchwandert, alle diese Gegenden, die jetzt Ferne und Erinnerung waren, waren einmal Nähe und Gegenwart gewesen. In diesen Wäldern hatte er hundertmal geschlafen, hatte Beeren gegessen, hatte gehungert und gefroren, über diese Bergkämme und Heidestriche war er gewandert, war froh und traurig, war frisch und war müde gewesen. Irgendwo in dieser Ferne, jenseits des Sichtbaren, lagen die verbrannten Knochen der guten Lene, dort irgendwo mochte sein Kamerad Robert noch immer auf Wanderung sein, wenn nicht die Pest ihn geholt hatte, da draußen irgendwo lag der tote Viktor, und irgendwo auch, weit und verzaubert, lag das Kloster seiner Jugendjahre, stand die Burg des Ritters mit den schönen Töchtern, lief arm und gehetzt die arme Rebekka oder war umgekommen. Alle diese vielen, weit zerstreuten Orte, diese Heiden und Wälder, diese Städte und Dorfer, Burgen und Klöster, alle diese Menschen, sie mochten leben oder tot sein, wusste er in sich innen vorhanden und miteinander verbunden, in seiner Erinnerung, in seiner Liebe, seiner Reue, seiner Sehnsucht. Und wenn morgen auch ihn der Tod holte, dann würde das alles wieder auseinanderfallen und auslöschen, dies ganze Bilderbuch, so voll von Frauen und Liebe, von Sommermorgen und Winternächten. Oh, es war an der Zeit, noch etwas zu tun, noch etwas zu schaffen und hinter sich zu lassen, das ihn überdaure.

Von diesem Leben, von diesen Wanderungen, von allen diesen Jahren seit seinem Auszug in die Welt war bis heute wenig Frucht übriggeblieben. Übriggeblieben waren die paar Figuren, die er einst in der Werkstatt gemacht hatte, namentlich der Johannes, und dann noch dies Bilderbuch, diese unwirkliche Welt in seinem Kopfe drin, diese schöne und schmerzliche Bilderwelt der Erinnerungen. Würde es ihm gelingen, einiges von dieser inneren Welt zu retten und nach außen zu stellen? Oder würde es nur immer so weitergehen: immer neue Städte, neue Landschaften, neue Frauen, neue Erlebnisse, neue Bilder, eins aufs andere gehäuft, von denen er nichts davontrug, als diese unruhige, ebenso quälende wie schöne Uberfülltheit des Herzens?

Es war ja schmählich, wie man vom Leben genarrt wurde, es war zum Lachen und zum Weinen! Entweder lebte man, ließ seine Sinne spielen, sog sich voll an der Brust der alten Eva-Mutter – dann gab es zwar manche hohe Lust, aber keinen Schutz gegen die Vergänglichkeit, man war dann wie ein Pilz im Walde, der heut in schönen Farben strotzt und morgen verfault ist. Oder man setzte sich zur Wehr, man sperrte sich in eine Werkstatt ein und suchte dem flüchtigen Leben ein Denkmal zu bauen – dann musste man auf das Leben verzichten, dann war man bloß noch Werkzeug, dann stand man zwar im Dienst des Unvergänglichen, aber man dorrte dabei ein und verlor die Freiheit, Fülle und Lust des Lebens. So war es dem Meister Niklaus ergangen.

Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?

Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Sesshafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.

Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen, man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer musste man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere! Die Frauen hatten es hierin vielleicht leichter. Bei ihnen hatte die Natur es so geschaffen, dass von selbst die Lust ihre Frucht trug und aus dem Liebesglück das Kind wurde. Beim Manne war statt dieser einfachen Fruchtbarkeit die ewige Sehnsucht da. War der Gott, der alles so geschaffen hatte, denn böse oder feindselig, lachte er schadenfroh über seine eigene Schöpfung! Nein, er konnte nicht böse sein, wenn er die Rehe und Hirsche, die Fische und Vögel, den Wald, die Blumen, die Jahreszeiten geschaffen hatte. Aber der Riss ging durch seine Schöpfung, sei es nun, dass sie missglückt und unvollkommen war, sei es, dass Gott eben mit dieser Lücke und Sehnsucht des Menschendaseins besondere Absichten haben mochte, sei es, dass dies der Same des Feindes war, die Erbsünde? Aber warum denn sollte diese Sehnsucht und Ungenüge Sünde sein? Entstand nicht aus ihr alles Schöne und Heilige, was der Mensch geschaffen hatte und Gott als Dankesopfer zurückgab?

Von seinen Gedanken bedrückt, richtete er den Blick auf die Stadt, erspähte Markt und Fischmarkt, die Brücken, die Kirchen, das Rathaus. Und da war auch das Schloss, der stolze Bischofspalast, in dem jetzt der Graf Heinrich regierte. Unter diesen Türmen und langen Dächern wohnte Agnes, wohnte seine schöne königliche Geliebte, die so hochmütig aussah und in der Liebe sich doch so sehr vergessen und hingeben konnte. Freudig dachte er an sie, freudig und dankbar erinnerte er sich der vergangenen Nacht. Um das Glück dieser Nacht erleben, um diese wunderbare Frau so beglücken zu können, dazu hatte es seines ganzen Lebens bedurft, all der Schulung durch Frauen, all der Wanderschaft und Not, all der durchwanderten Schneenächte und all der Freundschaft und Vertrautheit mit Tieren, Blumen, Bäumen, Wassern, Fischen, Schmetterlingen. Es bedurfte dazu der in Wollust und in Gefahr geschärften Sinne, der Heimatlosigkeit, der ganzen in vielen Jahren gehäuften Bilderwelt im Innern. Solange sein Leben ein Garten war, in dem solche Zauberblumen wie Agnes blühten, durfte er nicht klagen.

Den ganzen Tag brachte er auf den herbstlichen Höhen zu, wandernd, rastend, Brot essend, an Agnes und den Abend denkend. Um die Zeit des Zunachtens war er wieder in der Stadt und näherte sich dem Schloss. Es war kühl geworden, und die Häuser blickten aus stillen roten Fensteraugen, es begegnete ihm ein kleiner Zug von singenden Knaben, die trugen auf Stäben ausgehöhlte Rüben über sich, in welche Gesichter geschnitzt und brennende Kerzen gesteckt waren. Der kleine Mummenschanz brachte einen Duft von Winter mit sich, lächelnd sah Goldmund ihm nach. Lange Zeit trieb er sich vor dem Schloss herum. Noch immer war die Pfaffengesandtschaft da, hier und dort sah man in einem Fenster einen der geistlichen Herren stehen. Endlich gelang es ihm, sich ins Innere zu schleichen und die Zofe Berta zu finden. Wieder wurde er in der Kleiderkammer verborgen, bis Agnes erschien und ihn zärtlich in ihr Zimmer führte. Zärtlich empfing ihn ihr schönes Gesicht, zärtlich, aber gar nicht froh, sie war traurig, sie machte sich Sorgen, sie war ängstlich. Er musste sich viel Mühe geben, sie ein wenig zu erheitern. Langsam gewann sie unter seinen Küssen und Liebesworten etwas Zuversicht.

»Du kannst so sehr lieb sein«, sagte sie dankbar »Du hast so tiefe Töne in deiner Kehle, mein Vogel, wenn du zärtlich bist und gurrst und schwatzest. Ich hab dich lieb, Goldmund. Wenn wir doch weit von hier wären! Es gefällt mir nicht mehr hier, es wird ja ohnehin bald zu Ende sein, der Graf ist abberufen, bald soll der dumme Bischof zurückkommen. Der Graf ist heut böse, die Pfaffen haben ihn geplagt. Ach du, dass er dich nicht zu sehen bekommt! Du würdest keine Stunde mehr leben. Es ist mir so bange um dich.«

In seiner Erinnerung stiegen halbverlorene Klänge aufhatte er nicht dies Lied schon vor Zeiten einmal gehört? So hatte einst Lydia zu ihm gesprochen, so liebend und angstvoll, so zärtlich-traurig. So war sie nachts in seine Kammer gekommen, voll Liebe und voll Angst, voll Sorgen, voll von schrecklichen Bildern der Furcht. Er hörte es gerne, das zärtlich-ängstliche Lied. Was wäre Liebe ohne Heimlichkeit? Was wäre Liebe ohne Gefahr?

Sanft zog er Agnes an sich, streichelte sie, hielt ihre Hand, summte ihr leise Werbungen ins Ohr, küsste ihre Augenbrauen. Es rührte und entzückte ihn, sie seinetwegen so angstvoll und besorgt zu finden. Dankbar empfing sie seine Liebkosungen, beinahe demütig, sie drängte sich voll Liebe an ihn, aber heiter wurde sie nicht.

Und plötzlich zuckte sie heftig zusammen, man hörte in der Nähe eine Tür zuschlagen, und rasche Schritte näherten sich dem Zimmer.

»Um Gottes willen, er ist es!« rief sie verzweifelt, »es ist der Graf. Schnell, durch die Kammer kannst du entkommen Schnell! Verrate mich nicht!«

Schon hatte sie ihn in die Kleiderkammer gedrängt, allein stand er und tappte zögernd im Finstern. Drüben hörte er den Grafen laut mit Agnes sprechen. Er tastete sich zwischen den Kleidern hindurch zur Ausgangstür, lautlos setzte er Fuß vor Fuß. Nun war er bei der Türe, die zum Korridor führte, und suchte sie leise zu öffnen. Und in diesem Augenblick erst, als er die Tür von außen verschlossen fand, erschrak auch er, und sein Herz begann wild und schmerzhaft zu schlagen. Es konnte ein unglücklicher Zufall sein, dass jemand, seit er hier hereingekommen war, diese Tür verschlossen hatte. Er glaubte aber nicht daran. Er war in eine Falle gegangen, er war verloren, irgendjemand musste ihn gesehen haben, als er hier hereinschlich. Es wurde ihn den Hals kosten. Zitternd stand er im Finstern, und sogleich fiel Agnesens Abschiedswort ihm ein »Verrate mich nicht!« Nein, er würde sie nicht verraten. Sein Herz hämmerte, aber der Entschluss machte ihn fest, trotzig biss er die Zähne zusammen.

Dies war alles in wenigen Augenblicken geschehen. Jetzt ging jenseits die Tür, und aus Agnesens Zimmer trat der Graf herein, mit einem Leuchter in der Linken und dem gezogenen Schwert in der Rechten. Im selben Augenblick rafte Goldmund mit hastigem Griff einige von den rings um ihn hängenden Kleidern und Mänteln zusammen und nahm sie über den Arm. Man sollte ihn für einen Dieb halten, vielleicht war dies ein Ausweg.

Der Graf hatte ihn sofort gesehen. Langsam kam er heran.

»Wer ist man? Was tut man hier? Antwort, oder ich stoße zu.«

»Verzeihet«, flüsterte Goldmund, »ich bin ein armer Mann, und Ihr seid so reich! Ich gebe alles zurück, Herr, was ich genommen habe, seht!«

Und er legte die Mäntel an den Boden.

»So, also gestohlen hast du! Es war nicht klug von dir, für einen alten Mantel dein Leben zu wagen. Bist du ein Stadtbürger?«

»Nein, Herr, ich bin heimatlos. Ich bin ein armer Mann, Ihr werdet Nachsicht haben —«

»Hör auf. Ich möchte wohl wissen, ob du am Ende so frech warst, die gnädige Frau belästigen zu wollen. Aber da du ohnehin gehängt wirst, brauchen wir das nicht zu untersuchen Der Diebstahl genügt.«

Er klopfte heftig gegen die geschlossene Tür und rief »Seid ihr da? Aufmachen!«

Die Tür wurde von außen geöffnet, drei Knechte standen mit gezogenen Klingen bereit.

»Bindet ihn gut«, rief der Graf mit einer Stimme, die vor Hohn und Hochmut knarrte: »Es ist ein Landstreicher, der hier gestohlen hat. Setzt ihn fest, und morgen früh hängt den Schelm an den Galgen.«

Es wurden Goldmund, ohne dass er sich wehrte, die Hände zusammengeschnürt. So wurde er abgeführt, durch den langen Gang, die Treppen hinab über den inneren Hof, ein Diener trug ein Windlicht voraus. Vor einem runden eisenbeschlagenen Kellertor blieben sie stehen, es wurde verhandelt und gescholten, es fehlte der Schlüssel zum Tor, ein Knecht nahm das Windlicht, der Diener lief zurück, nach dem Schlüssel. So standen sie, die drei Bewaffneten und der Gebundene, und warteten vor dem Tor. Der mit dem Licht zündete dem Gefangenen neugierig ins Gesicht. In diesem Augenblick kamen zwei von den Priestern vorüber, deren so viele im Schloss zu Gast waren, sie kamen von der Schlosskapelle her und blieben vor der Gruppe stehen, beide sahen sich die nächtliche Szene aufmerksam an die drei Knechte, den gebundenen Mann, wie sie dastanden und warteten.

Goldmund bemerkte weder die Priester, noch sah er seine Wächter an. Er konnte nichts sehen als das leise flackernde Licht, das dicht vor sein Gesicht gehalten wurde und ihm in die Augen blendete. Und hinter dem Licht in einer Dämmerung voll Grauen sah er noch etwas, etwas Gestaltloses, Großes, Gespenstisches: den Abgrund, das Ende, den Tod. Mit starren Augen stand er, nichts sehend und hörend. Einer der Priester flüsterte angelegentlich mit den Knechten. Als er hörte, dass der Mann sterben müsse und ein Dieb sei, fragte er, ob er einen Beichtvater gehabt habe. Nein, hieß es, er sei auf frischer Tat festgenommen.

»So werde ich«, sagte der Priester, »am Morgen vor der Frühmesse mit den heiligen Sakramenten zu ihm kommen und seine Beichte hören. Ihr stehet mir dafür, dass er nicht vorher abgeführt wird. Mit dem Herrn Grafen spreche ich noch heut. Der Mann mag ein Dieb sein, er hat doch das Recht jedes Christen auf den Beichtvater und die Sakramente.«

Die Knechte wagten keinen Widerspruch. Sie kannten den geistlichen Herrn, er gehörte zu den Herren von der Gesandtschaft, sie hatten ihn mehrmals an des Grafen Tisch speisen sehen. Und warum auch sollte man dem armen Vagabunden die Beichte nicht gönnen?

Die Herren gingen davon Goldmund stand und starrte. Endlich kam der Diener mit dem Schlüssel und schloss auf. Der Gefangene wurde in ein Kellergewölbe geführt, stolpernd taumelte er die paar Stufen hinab. Ein paar dreibeinige Stühle ohne Lehne standen hier herum und ein Tisch, es war der Vorraum eines Weinkellers. Sie rückten ihm ein Stühlchen an den Tisch und hießen ihn sitzen.

»Es kommt morgen in der Frühe ein Pfaff, da kannst du noch beichten«, sagte ihm einer von den Knechten. Dann gingen sie und verschlossen das schwere Tor mit Sorgfalt.

»Lass mir das Licht da, Kamerad«, bat Goldmund.

»Nein, Brüderchen, damit könntest du Unfug anrichten. Es wird auch so gehen. Sei gescheit und schick dich drein. Und wie lang brennt denn so ein Licht? In einer Stunde wär es doch aus. Gut Nacht.«

Nun war er im Finstern allein, saß auf dem Stühlchen und legte den Kopf auf den Tisch. Es war schlecht so zu sitzen, und die Einschnürungen an seinen Handgelenken taten weh, doch drangen diese Empfindungen erst spät in sein Bewusstsein. Vorerst saß er nur und legte den Kopf auf den Tisch wie auf einen Richtblock, es trieb ihn ein Drang, auch mit Leib und Sinnen das zu tun, was jetzt seinem Herzen auferlegt war: sich hinzugeben in das Unentrinnbare, sich zu ergeben in das Sterbenmüssen.

Eine Ewigkeit lang blieb er so sitzen, jammervoll hingebogen, und versuchte, das Auferlegte auf sich zu nehmen, es einzuatmen, es einzusehen und sich mit ihm zu erfüllen. Es war jetzt Abend, es begann die Nacht, und das Ende dieser Nacht wird auch ihm das Ende bringen. Das musste er versuchen zu begreifen. Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vögel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte liegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Abschied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.

Er musste Abschied nehmen von der schönen Agnes, nie mehr würde er ihre große Gestalt, ihr lichtes sonniges Haar, ihre kühlen blauen Augen sehen, nie das Schwachwerden und Zittern des Hochmuts in diesen Augen, nie mehr den süßen Goldflaum auf ihrer duftenden Haut. Lebt wohl, blaue Augen, leb wohl, feuchter zuckender Mund! Oft noch hatte er ihn zu küssen gehoft. Oh, noch heut auf den Hügeln, in der Spätherbstsonne, wie hatte er ihrer gedacht, ihr angehört, sich nach ihr gesehnt! Aber Abschied nehmen musste er auch von den Hügeln, von der Sonne, vom blauen weißgewölkten Himmel, Abschied von den Bäumen und Wäldern, von der Wanderschaft, von den Tageszeiten und Jahreszeiten. Nun saß vielleicht Marie noch auf, die arme Marie mit den guten liebenden Augen und dem hinkenden Gang, saß und wartete, schlief in ihrer Küche ein und wachte wieder auf, und kein Goldmund kam mehr nach Hause.

Ach, und das Papier und der Zeichenstift, und die Hoffnung auf alle die Figuren, die er noch hatte machen wollen! Dahin, dahin! Und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Narziss, mit dem lieben Jünger Johannes, auch sie musste er hingeben.

Und Abschied nehmen musste er von seinen eigenen Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lautenspielen, vom Schlafen und Erwachen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen im Fenster, und er hörte es nicht mehr singen, es lief der Strom und schwammen stumm die dunkeln Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Sternenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dorfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen.

Er roch den Morgengeruch der Heide, er schmeckte den süßen jungen Wein und die jungen festen Walnüsse, es flog eine Erinnerung, ein aufleuchtender Widerschein der ganzen farbigen Welt durch sein bedrängtes Herz, untersinkend und Abschied nehmend glänzte das ganze schone wirre Leben noch einmal durch alle seine Sinne, und er zog sich in ausbrechendem Weh zusammen und fühlte Träne um Träne aus seinen Augen rinnen. Aufschluchzend gab er sich der Woge hin, heftig flossen seine Tränen, zusammenstürzend gab er sich dem unendlichen Weh anheim. Oh, ihr Täler und waldigen Berge, ihr Bäche im grünen Erlengeholz, ihr Mädchen, ihr Mondabende auf den Brücken, o du schöne strahlende Bilderwelt, wie soll ich dich lassen? Weinend lag er über dem Tisch, ein trostloses Kind. Aus der Not seines Herzens stieg ein Seufzer und flehender Klageruf »O Mutter, o Mutter!«

Und indem er den Zaubernamen sprach, antwortete ihm ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerung, das Bild der Mutter. Es war nicht die Muttergestalt seiner Gedanken und Künstlerträume, es war das Bild seiner eigenen Mutter, schön und lebendig, wie er es seit den Klosterzeiten nie mehr gesehen hatte. An sie richtete er seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich anheim, ihr gab er den Wald, die Sonne, die Augen, die Hände, ihr gab er sein ganzes Wesen und Leben zurück, in die mütterlichen Hände.

Mitten in seinen Tränen schlief er ein, mütterlich nahm ihn Erschöpfung und Schlaf in die Arme. Eine Stunde schlief er, oder zwei, und war dem Elend entrückt.

Wieder erwacht, empfand er heftige Schmerzen.

Peinlich brannten die zerschnürten Handgelenke, zerrende Schmerzen zogen durch Rücken und Nacken. Mit Mühe richtete er sich auf, kam zu sich und erkannte seine Lage wieder. Es war vollkommen schwarze Finsternis um ihn her, er wusste nicht, wie lang er geschlafen habe, er wusste nicht, wieviel Stunden ihm noch zu leben blieben. Vielleicht schon im nächsten Augenblick kamen sie und holten ihn fort, zum Sterben. Da erinnerte er sich, dass ihm ein Priester versprochen worden war. Er glaubte nicht, dass dessen Sakramente ihm viel würden nützen können. Er wusste nicht, ob auch die vollkommenste Lossprechung und Sündenvergebung ihn in den Himmel bringen könne. Er wusste nicht, ob es einen Himmel gebe, und einen Gottvater, und ein Gericht und eine Ewigkeit. Er hatte in diesen Dingen seit langem jede Gewissheit verloren.

Aber ob es nun eine Ewigkeit geben mochte oder nicht er begehrte sie nicht, er wollte nichts als dies unsichere, vergängliche Leben, dieses Atmen, dieses Zuhausesein in seiner Haut, er wollte nichts als leben. Rasend richtete er sich auf, tappte schwankend im Dunkeln bis zur Mauer, lehnte sich aufrecht an die Wand und begann nachzudenken Es musste doch eine Rettung geben! Vielleicht war der Priester die Rettung, war vielleicht von seiner Unschuld zu überzeugen, legte ein Wort für ihn ein oder verhalf ihm zu Aufschub oder Flucht! Heftig vertiefte er sich in diese Gedanken, immer wieder. Und wenn es damit nichts war, so wollte er es doch nicht aufgeben, das Spiel durfte noch nicht verloren sein. Er wurde also zuerst versuchen, den Priester für sich zu gewinnen, er wurde sich die äußerste Mühe geben, ihn zu bezaubern, ihn warm zu bekommen, ihn zu überzeugen, ihm zu schmeicheln. Der Priester war die einzige gute Karte in seinem Spiel, alle andern Möglichkeiten waren Träume. Immerhin, es gab Zufälle und Fügungen, der Henker konnte eine Kolik bekommen, der Galgen konnte brechen, es konnte sich eine vorher nicht auszudenkende Fluchtmöglichkeit einstellen. Auf alle Fälle weigerte Goldmund sich zu sterben, er hatte vergeblich versucht, dies Schicksal in sich einzulassen und aufzunehmen, es war ihm nicht gelungen. Er würde sich zur Wehr setzen und bis aufs äußerste kämpfen, er würde dem Wächter ein Bein stellen, er würde den Henker niederrennen, er würde sich bis zum letzten Augenblick mit jedem Blutstropfen um sein Leben wehren. – Oh, wenn er doch den Pfaffen dazu bringen konnte, dass er ihm die Hände losbände! Unendlich viel wäre dann gewonnen.

Inzwischen versuchte er, auf die Schmerzen nicht achtend, mit seinen Zähnen an den Stricken zu arbeiten. Mit wütender Anstrengung brachte er es nach grausam langer Zeit dahin, dass sie ihm ein wenig gelockert schienen. Er stand keuchend in der Nacht seines Gefängnisses, die verschwollenen Arme und Hände taten sehr weh. Als er wieder zu Atem gekommen war, schlich er tastend die Mauer entlang, immer weiter, durchforschte Schritt um Schritt die feuchte Kellerwand, ob er keine vorspringende Kante finde. Da fielen die Stufen ihm ein, über die er in dies Verlies gestolpert war. Er suchte und fand sie. Er kniete nieder und versuchte, den Strick an einer der steinernen Stufenkanten zu reiben. Es ging schwer, immer trafen statt des Stricks seine Handknöchel auf den Stein, es schmerzte wie Feuer, er fühlte das Blut rinnen. Doch ließ er nicht nach. Als schon zwischen Tor und Schwelle ein kläglich dünner Streifen grauen Morgenscheines zu sehen war, hatte er es erreicht. Der Strick war durchgerieben, er konnte ihn lösen, er hatte die Hände frei! Nachher aber konnte er kaum einen Finger bewegen, die Hände waren verschwollen und abgestorben, und die Arme waren bis in die Schultern hinauf steif verkrampft. Er musste sie üben, er zwang sie zu Bewegungen, damit das Blut sie wieder durchströme. Denn er hatte jetzt einen Plan, der ihm gut schien.

Sollte er es gar nicht erreichen können, dass der Pfaffe ihm half, nun dann musste er, falls man den Mann auch nur die kleinste Weile mit ihm allein ließ, ihn totschlagen. Mit einem der Stühle würde es gehen. Erwürgen konnte er ihn nicht, dazu war nicht Kraft genug in Händen und Armen. Also ihn erschlagen, schnell sein Priesterkleid umnehmen und darin entkommen! Bis die andern den Totgeschlagenen fanden, musste er aus dem Schlosse sein, und dann laufen, laufen! Marie wurde ihn hereinlassen und verbergen. Er musste es versuchen. Es war möglich.

Noch nie in seinem Leben hatte Goldmund das Morgengrauen so beobachtet, erharrt, ersehnt und doch gefürchtet wie in dieser Stunde. Bebend vor Spannung und Entschlossenheit äugte er mit Jägeraugen, wie der elende Lichtspalt unterm Tor langsam, langsam heller wurde. Er kehrte zum Tisch zurück und übte sich darin, so mit den Händen zwischen den Knien auf der Stabelle zu hocken, dass man das Fehlen seiner Fesseln nicht gleich bemerken konnte. Seit seine Hände frei waren, glaubte er nicht mehr an den Tod. Er war entschlossen durchzukommen, und wenn die ganze Welt dabei in Scherben ging. Er war entschlossen zu leben, um jeden Preis. Seine Nase bebte vor Begierde nach Freiheit und Leben. Und wer weiß, vielleicht kam man ihm von draußen zu Hilfe! Agnes war ein Weib, und ihre Macht reichte nicht weit, vielleicht auch nicht ihr Mut, es war möglich, dass sie ihn preisgab. Aber sie liebte ihn, vielleicht konnte sie doch etwas tun. Vielleicht schlich draußen die Zofe Berta – und gab es nicht auch noch einen Reitknecht, von dem sie meinte, dass Verlaß auf ihn sei? Und wenn niemand erschien und ihm kein Zeichen gegeben würde, nun, dann führte er seinen Plan aus. Missglückte er, so schlug er mit dem Stuhl die Wächter tot, zwei oder drei oder wie viele eben kamen. Eines Vorteils war er gewiss: seine Augen hatten sich an den finsteren Raum gewöhnt, jetzt in der Dämmerung erkannte er ahnend alle Formen und Maße, während die anderen hier zuerst ganz blind sein würden.

Fiebernd hockte er nun am Tisch, genau überlegend, was er dem Priester zu sagen habe, um ihn als Helfer zu gewinnen, denn damit musste begonnen werden. Zugleich beobachtete er gierig das bescheidene Wachsen des Lichtes in der Spalte. Den Augenblick, den er vor Stunden so sehr gefürchtet hatte, ersehnte er jetzt mit Inbrunst, kaum konnte er ihn mehr erwarten, die furchtbare Spannung ließ sich nicht lange mehr ertragen. Auch mussten ja seine Kräfte, seine Aufmerksamkeit, seine Entschlusskraft und Wachheit allmählich wieder abnehmen. Der Wärter mit dem Priester musste bald kommen, solang diese gespannte Bereitschaft, dieser entschlossene Wille zur Rettung noch in der Blüte stand.

Endlich erwachte draußen die Welt, endlich näherte sich der Feind. Es hallten Schritte auf dem Hofpflaster, es wurde der Schlüssel ins Loch gesteckt und gedreht, jeder dieser Laute klang nach der langen Todesstille laut wie Donner.

Und jetzt öffnete sich langsam das schwere Tor ein Stückchen weit und kreischte in den Angeln. Herein kam ein Geistlicher, ohne Begleitung, ohne Wächter. Allein kam er herein, einen Leuchter mit zwei Kerzen tragend. Nun war alles wieder anders, als der Gefangene es sich gedacht hatte.

Und wie sonderbar und bewegend der eingetretene Priester, hinter welchem unsichtbare Hände die Tür wieder zudrückten, trug die Ordenstracht des Klosters Mariabronn, die wohlbekannte, heimatliche Tracht, wie sie einst der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Pater Martin getragen hatten! Der Anblick gab ihm einen wunderlichen Stoß im Herzen, er musste die Augen abwenden. Das Erscheinen dieser Klostertracht mochte Freundliches versprechen, es mochte ein gutes Zeichen sein. Aber vielleicht gab es doch keinen andern Ausweg als den Totschlag. Er biss die Zähne zusammen. Es würde ihm sehr schwerfallen, diesen Ordensbruder umzubringen.

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