1. Womit vergleicht Paul die Front? Erläutern Sie diesen Vergleich.
2. Welche Rolle spielt der Zufall an der Front? Begründen Sie Ihre Meinung.
3. Warum müssen die Freunde auf ihr Brot achtgeben?
4. Beschreiben Sie die Schlacht.
5. Was passiert einem der Rekruten? Wie hilft man ihm?
6. Erläutern Sie die Bedeutung der Wendung „der Anfall der Unterstandsangst”.
7. Woran erinnert sich Paul?
8. Welche Eigenschaften haben die Erinnerungen? Sind sie für einen Soldaten wichtig? Warum?
9. Wie verstehen Sie den folgenden Satz: „ Wir sind fürchterlich gleichgültig”? Warum fühlen sich die Freunde verlassen wie Kinder und erfahren wie alte Leute?
10. Beschreiben Sie die nächsten Tage nach der Schlacht. 11. Wer kommt als Verstärkung? Was bringt man den neuen Rekruten bei?
Offensive, die – Angriff
munkeln – Dinge erzählen, die man oft nicht sicher weiß
Zeltbahn, die – ein Stück Stoff für ein Zelt
Aufschlagzünder, der – Zünder eines Geschosses, der beim Aufschlag die Ladung zur Explosion bringt
Unterstand, der – eine Stelle, wo man sich (zum Schutz vor Regen, Schnee oder Gefahr) unterstellen kann
ausleiern – durch häufigen Gebrauch stark abnutzen
Treffer, der – ein Schuss, Schlag, Wurf oder Stoß (im Sport oder Kampf), der sein Ziel erreicht
dicke Luft – eine gespannte Atmosphäre, Streit bahnt sich an Gefahr
schlurfen – beim Gehen die Füße so über den Boden schleifen lassen, dass sie ein Geräusch verursachen
Lauer, die – meist in auf der Lauer liegen / sein sich irgendwo verstecken, um zu beobachten, was geschieht
Somme, die – nordfranzösischer Fluss
Witterung, die – die Fähigkeit, etwas vorauszuahnen; Spürsinn
Mauscheln, das – ein Kartenglücksspiel
Böschung, die – die schräge Seite eines Erdwalls oder Abhangs
Pranke, die – einer der (Vorder)Füße eines Löwen, Bären; Tatze
kotzen – erbrechen, sich übergeben
Staffel, die – eine militärische Einheit bei der Luftwaffe
Happen, der – eine Kleinigkeit zum Essen, ein kleiner Imbiss; Bissen
zur Genüge – (meist pej.) in ausreichendem Maß (bis zum Überdruss)
in allen Fugen – ein (meist abstraktes) System verliert seine Ordnung
schwefelig – Schwefel enthaltend (chem. Element, Nichtmetall)
Rückenmark, das – der dicke Strang von Nerven in der Wirbelsäule
Verhau, der / das – eine Barriere aus Ästen und Draht
Stiel, der – der lange, feste, meist gerade Teil besonders von Werkzeugen und Pfannen, an dem man sie hält
Ladehemmung, die – eine Störung im Mechanismus einer Waffe, so dass man die Munition nicht hineintun kann
Schafott, das – eine Art Plattform mit einer Guillotine für Hinrichtungen
Corned beef – Fleischkonserve
Begehren, das – ein heftiges Verlangen nach jemandem / etwas
schauern – mich schauert: es gruselt mich, ich erzittere
Graupen, die – in besonderen Graupenmühlen enthülste und entsplitzte Gersten- und Weizenkörner
Wirbelsäule, die – eine Reihe von Knochen, die beweglich miteinander verbunden sind und den Rücken bilden; Rückgrat
Ohrläppchen, das – der untere, weiche Teil des menschlichen Ohrs
etwas hinter den Ohren haben – (oft im Imperativ verwendet) die Lehre aus einer meist schlechten Erfahrung ziehen, um diese in Zukunft zu vermeiden
brüten – <ein Huhn, ein Vogel> ein Vogel sitzt so lange auf befruchteten Eiern, bis die Jungtiere ausschlüpfen
Stellungskampf, der – Kampf in befestigten Stellungen
Streifschuss, der – zu streifen: etwas geht bzw. fährt so nahe an einer Person / Sache vorbei, dass er / es sie leicht berührt
Man nimmt uns weiter als sonst zurück, in ein Feld-Rekrutendepot, damit wir dort neu zusammengestellt werden können. Unsere Kompanie braucht über hundert Mann Ersatz.
Einstweilen bummeln wir umher, wenn wir keinen Dienst machen. Nach zwei Tagen kommt Himmelstoß zu uns. Seine große Schnauze hat er verloren, seit er im Graben war. Er schlägt vor, dass wir uns vertragen wollen. Ich bin bereit, denn ich habe gesehen, dass er Haie Westhus, dem der Rücken weggerissen wurde, mit fortgebracht hat. Da er außerdem wirklich vernünftig redet, haben wir nichts dabei, dass er uns in die Kantine einlädt. Nur Tjaden ist misstrauisch und reserviert.
Doch auch er wird gewonnen, denn Himmelstoß erzählt, dass er den in Urlaub fahrenden Küchenbullen vertreten soll. Als Beweis dafür rückt er sofort zwei Pfund Zucker für uns und ein halbes Pfund Butter für Tjaden besonders heraus. Er sorgt sogar dafür, dass wir für die nächsten drei Tage in die Küche zum Kartoffel- und Steckrübenschälen kommandiert werden. Das Essen, das er uns dort vorsetzt, ist tadellose Offizierskost*.
So haben wir im Augenblick wieder die beiden Dinge, die der Soldat zum Glück braucht: gutes Essen und Ruhe. Das ist wenig, wenn man es bedenkt. Vor ein paar Jahren noch hätten wir uns furchtbar verachtet. Jetzt sind wir fast zufrieden. Alles ist Gewohnheit, auch der Schützengraben.
Diese Gewohnheit ist der Grund dafür, dass wir scheinbar so rasch vergessen. Vorgestern waren wir noch im Feuer, heute machen wir Albernheiten und fechten uns durch die Gegend, morgen gehen wir wieder in den Graben. In Wirklichkeit vergessen wir nichts. Solange wir hier im Felde sein müssen, sinken die Fronttage, wenn sie vorbei sind, wie Steine in uns hinunter, weil sie zu schwer sind, um sofort darüber nachdenken zu können. Täten wir es, sie würden uns hinterher erschlagen; denn soviel habe ich schon gemerkt: Das Grauen lässt sich ertragen, solange man sich einfach duckt; aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt.
Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden* und Schlafmützen*, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind. Kemmerich ist tot, Haie Westhus stirbt, mit dem Körper Hans Kramers werden sie am Jüngsten Tage Last haben, ihn aus einem Volltreffer zusammenzuklauben, Martens hat keine Beine mehr, Meyer ist tot, Marx ist tot, Beyer ist tot, Hämmerling ist tot, hundertzwanzig Mann liegen irgendwo mit Schüssen, es ist eine verdammte Sache, aber was geht es uns noch an, wir leben. Könnten wir sie retten, ja dann sollte man mal sehen, es wäre egal, ob wir selbst draufgingen, so würden wir loslegen; denn wir haben einen verfluchten Muck, wenn wir wollen; Furcht kennen wir nicht viel – Todesangst wohl, doch das ist etwas anderes, das ist körperlich.
Aber unsere Kameraden sind tot, wir können ihnen nicht helfen, sie haben Ruhe – wer weiß, was uns noch bevorsteht; wir wollen uns hinhauen und schlafen oder fressen, soviel wir in den Magen kriegen, und saufen und rauchen, damit die Stunden nicht öde sind. Das Leben ist kurz.
Das Grauen der Front versinkt, wenn wir ihm den Rücken kehren, wir gehen ihm mit gemeinen und grimmigen Witzen zuleibe; wenn jemand stirbt, dann heißt es, dass er den Arsch zugekniffen hat, und so reden wir über alles, das rettet uns vor dem Verrücktwerden, solange wir es so nehmen, leisten wir Widerstand.
Aber wir vergessen nicht! Was in den Kriegszeitungen steht über den goldenen Humor der Truppen, die bereits Tänzchen arrangieren*, wenn sie kaum aus dem Trommelfeuer zurück sind, ist großer Quatsch. Wir tun das nicht, weil wir Humor haben, sondern wir haben Humor, weil wir sonst kaputt gehen. Die Kiste wird ohnehin nicht mehr allzulange halten, der Humor ist jeden Monat bitterer.
Und ich weiß: all das, was jetzt, solange wir im Kriege sind, versackt in uns wie ein Stein, wird nach dem Kriege wieder aufwachen, und dann beginnt erst die Auseinandersetzung auf Leben und Tod.
Die Tage, die Wochen, die Jahre hier vorn werden noch einmal zurückkommen, und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen, gegen wen?
Hier in der Gegend war vor einiger Zeit ein Fronttheater. Auf einer Bretterwand kleben noch bunte Plakate von den Vorstellungen her. Mit großen Augen stehen Kropp und ich davor. Wir können nicht begreifen, dass es so etwas noch gibt. Da ist ein Mädchen in einem hellen Sommerkleid abgebildet, mit einem roten Lackgürtel um die Hüften. Sie stützt sich mit der einen Hand auf ein Geländer, mit der anderen hält sie einen Strohhut. Sie trägt weiße Strümpfe und weiße Schuhe, zierliche Spangenschuhe mit hohen Absätzen. Hinter ihr leuchtet die blaue See mit einigen Wogenkämmen, eine Bucht greift seitlich hell hinein. Es ist ein ganz herrliches Mädchen, mit einer schmalen Nase, mit roten Lippen und langen Beinen, unvorstellbar sauber und gepflegt, es badet gewiss zweimal am Tage und hat nie Dreck unter den Nägeln. Höchstens vielleicht mal ein bisschen Sand vom Strand.
Neben ihm steht ein Mann in weißer Hose, mit blauem Jackett und Seglermütze, aber der interessiert uns viel weniger.
Das Mädchen auf der Bretterwand ist für uns ein Wunder. Wir haben ganz vergessen, dass es so etwas gibt, und auch jetzt noch trauen wir unseren Augen kaum. Seit Jahren jedenfalls haben wir nichts Derartiges gesehen, nichts nur entfernt Derartiges an Heiterkeit, Schönheit und Glück. Das ist der Frieden, so muss er sein, spüren wir erregt.
»Sieh dir nur diese leichten Schuhe an, darin könnte sie keinen Kilometer marschieren«, sage ich und komme mir gleich albern vor, denn es ist blödsinnig, bei einem solchen Bild an Marschieren zu denken.
»Wie alt mag sie sein?« fragt Kropp.
Ich schätze: »Allerhöchstens zweiundzwanzig, Albert.«
»Dann wäre sie ja älter als wir. Sie ist nicht mehr als siebzehn, sage ich dir!«
Eine Gänsehaut überläuft uns. »Albert, das wäre was, meinst du nicht?«
Er nickt. »Zu Hause habe ich auch eine weiße Hose.«
»Weiße Hose«, sage ich, »aber so ein Mädchen – «
Wir sehen an uns herunter, gegenseitig. Da ist nicht viel zu finden, eine ausgeblichene, geflickte, schmutzige Uniform bei jedem. Es ist hoffnungslos, sich zu vergleichen.
Zunächst einmal kratzen wir deshalb den jungen Mann mit der weißen Hose von der Bretterwand ab, vorsichtig, damit wir das Mädchen nicht beschädigen. Dadurch ist schon etwas erreicht. Dann schlägt Kropp vor: »Wir könnten uns mal entlausen lassen.«
Ich bin nicht ganz einverstanden, denn die Sachen leiden darunter, aber die Läuse hat man nach zwei Stunden wieder. Doch nachdem wir uns wieder in das Bild vertieft haben, erkläre ich mich bereit. Ich gehe sogar noch weiter. »Könnten auch mal sehen, ob wir nicht ein reines Hemd zu fassen kriegen – «
Albert meint aus irgendeinem Grunde: »Fußlappen* wären noch besser.«
»Vielleicht auch Fußlappen. Wir wollen mal ein bisschen spekulieren gehen.«
Doch da schlendern Leer und Tjaden heran; sie sehen das Plakat, und im Handumdrehen wird die Unterhaltung ziemlich schweinisch. Leer war in unserer Klasse der erste, der ein Verhältnis* hatte und davon aufregende Einzelheiten erzählte. Er begeistert sich in seiner Weise an dem Bilde, und Tjaden stimmt mächtig ein.
Es ekelt uns nicht gerade an. Wer nicht schweinigelt, ist kein Soldat; nur liegt es uns im Moment nicht ganz, deshalb schlagen wir uns seitwärts und marschieren der Entlausungsanstalt zu mit einem Gefühl, als sei sie ein feines Herrenmodengeschäft.
Die Häuser, in denen wir Quartier haben, liegen nahe am Kanal. Jenseits des Kanals sind Teiche, die von Pappelwäldern umstanden sind; – jenseits des Kanals sind auch Frauen.
Die Häuser auf unserer Seite sind geräumt worden. Auf der andern jedoch sieht man ab und zu noch Bewohner.
Abends schwimmen wir. Da kommen drei Frauen am Ufer entlang. Sie gehen langsam und sehen nicht weg, obschon wir keine Badehosen tragen.
Leer ruft zu ihnen hinüber. Sie lachen und bleiben stehen, um uns zuzuschauen. Wir werfen ihnen in gebrochenem Französisch Sätze zu, die uns gerade einfallen, alles durcheinander, eilig, damit sie nicht fortgehen. Es sind nicht gerade feine Sachen, aber wo sollen wir die auch herhaben. Eine Schmale, Dunkle ist dabei. Man sieht ihre Zähne schimmern, wenn sie lacht. Sie hat rasche Bewegungen, der Rock schlägt locker um ihre Beine. Obschon das Wasser kalt ist, sind wir mächtig aufgeräumt und bestrebt, sie zu interessieren, damit sie bleiben. Wir versuchen Witze, und sie antworten, ohne dass wir sie verstehen; wir lachen und winken. Tjaden ist vernünftiger. Er läuft ins Haus, holt ein Kommissbrot und hält es hoch.
Das erzielt großen Erfolg. Sie nicken und winken, dass wir hinüberkommen sollen. Aber das dürfen wir nicht. Es ist verboten, das jenseitige Ufer zu betreten. Überall stehen Posten an den Brücken. Ohne Ausweis ist nichts zu machen. Wir dolmetschen deshalb, sie möchten zu uns kommen; aber sie schütteln die Köpfe und zeigen auf die Brücken. Man lässt auch sie nicht durch.
Sie kehren um, langsam gehen sie den Kanal aufwärts, immer am Ufer entlang. Wir begleiten sie schwimmend. Nach einigen hundert Metern biegen sie ab und zeigen auf ein Haus, das abseits aus Bäumen und Gebüsch herauslugt. Leer fragt, ob sie dort wohnen.
Sie lachen – ja, dort sei ihr Haus.
Wir rufen ihnen zu, dass wir kommen wollen, wenn uns die Posten nicht sehen können. Nachts. Diese Nacht.
Sie heben die Hände, legen sie flach zusammen, die Gesichter darauf, und schließen die Augen. Sie haben verstanden. Die Schmale, Dunkle macht Tanzschritte. Eine Blonde zwitschert: »Brot – gut – «
Wir bestätigen eifrig, dass wir es mitbringen werden. Auch noch andere schöne Sachen, wir rollen die Augen und zeigen sie mit den Händen. Leer ersäuft fast, als er »ein Stück Wurst« klarmachen will. Wenn es notwendig wäre, würden wir ihnen ein ganzes Proviantdepot versprechen. Sie gehen und wenden sich noch oft um. Wir klettern an das Ufer auf unserer Seite und achten darauf, ob sie auch in das Haus gehen, denn es kann ja sein, dass sie schwindeln. Dann schwimmen wir zurück.
Ohne Ausweis darf niemand über die Brücke, deshalb werden wir einfach nachts hinüberschwimmen. Die Erregung packt uns und lässt uns nicht los. Wir können es nicht an einem Fleck aushalten und gehen zur Kantine. Dort gibt es gerade Bier und eine Art Punsch.
Wir trinken Punsch und lügen uns phantastische Erlebnisse vor. Jeder glaubt dem andern gern und wartet ungeduldig, um noch dicker aufzutrumpfen. Unsere Hände sind unruhig, wir paffen ungezählte Zigaretten, bis Kropp sagt: »Eigentlich könnten wir ihnen auch ein paar Zigaretten mitbringen.« Da legen wir sie in unsere Mützen und bewahren sie auf.
Der Himmel wird grün wie ein unreifer Apfel. Wir sind zu viert, aber drei können nur mit; deshalb müssen wir Tjaden loswerden und geben Rum und Punsch für ihn aus, bis er torkelt. Als es dunkel wird, gehen wir unsern Häusern zu. Tjaden in der Mitte. Wir glühen und sind von Abenteuerlust erfüllt. Für mich ist die Schmale, Dunkle, das haben wir verteilt und ausgemacht.
Tjaden fällt auf seinen Strohsack und schnarcht. Einmal wacht er auf und grinst uns so listig an, dass wir schon erschrecken und glauben, er habe gemogelt*, und der ausgegebene Punsch sei umsonst gewesen. Dann fällt er zurück und schläft weiter.
Jeder von uns dreien legt ein ganzes Kommissbrot bereit und wickelt es in Zeitungspapier. Die Zigaretten packen wir dazu, außerdem noch drei gute Portionen Leberwurst, die wir heute abend empfangen haben. Das ist ein anständiges Geschenk.
Vorläufig stecken wir die Sachen in unsere Stiefel; denn Stiefel müssen wir mitnehmen, damit wir drüben auf dem andern Ufer nicht in Draht und Scherben treten. Da wir vorher schwimmen müssen, können wir weiter keine Kleider brauchen. Es ist ja auch dunkel und nicht weit.
Wir brechen auf, die Stiefel in den Händen. Rasch gleiten wir ins Wasser, legen uns auf den Rücken, schwimmen und halten die Stiefel mit dem Inhalt über unsere Köpfe.
Am andern Ufer klettern wir vorsichtig hinauf, nehmen die Pakete heraus und ziehen die Stiefel an. Die Sachen klemmen wir unter die Arme. So setzen wir uns, nass, nackt, nur mit Stiefeln bekleidet, in Trab*. Wir finden das Haus sofort. Es liegt dunkel in den Büschen. Leer fällt über eine Wurzel und schrammt sich die Ellbogen. »Macht nichts«, sagt er fröhlich.
Vor den Fenstern sind Läden*. Wir umschleichen das Haus und versuchen, durch die Ritzen zu spähen. Dann werden wir ungeduldig. Kropp zögert plötzlich. »Wenn nun ein Major drinnen bei ihnen ist?«
»Dann kneifen wir eben aus«, grinst Leer, »er kann unsere Regimentsnummer ja hier lesen«, und klatscht sich auf den Hintern.
Die Haustür ist offen. Unsere Stiefel machen ziemlichen Lärm. Eine Tür öffnet sich, Licht fällt hindurch, eine Frau stößt erschreckt einen Schrei aus. Wir machen »Pst, pst – camerade – bon ami* – « und heben beschwörend unsere Pakete hoch.
Die andern beiden sind jetzt auch sichtbar, die Tür öffnet sich ganz, und das Licht bestrahlt uns. Wir werden erkannt, und alle drei lachen unbändig über unsern Aufzug. Sie biegen und beugen sich im Türrahmen, so müssen sie lachen. Wie geschmeidig sie sich bewegen!
»Un moment* – .« Sie verschwinden und werfen uns Zeugstücke zu, die wir uns notdürftig umwickeln. Dann dürfen wir eintreten. Eine kleine Lampe brennt im Zimmer, es ist warm und riecht etwas nach Parfüm. Wir packen unsere Pakete aus und übergeben sie ihnen. Ihre Augen glänzen, man sieht, dass sie Hunger haben.
Dann werden wir alle etwas verlegen. Leer macht die Gebärde des Essens. Da kommt wieder Leben hinein, sie holen Teller und Messer und fallen über die Sachen her. Bei jedem Scheibchen Leberwurst heben sie, ehe sie es essen, das Stück zuerst bewundernd in die Höhe, und wir sitzen stolz dabei.
Sie übersprudeln uns mit ihrer Sprache – wir verstehen nicht viel, aber wir hören, dass es freundliche Worte sind. Vielleicht sehen wir auch sehr jung aus. Die Schmale, Dunkle, streicht mir über das Haar und sagt, was alle französischen Frauen immer sagen: »La guerre – grand malheur – pauvres garçons* – «
Ich halte ihren Arm fest und lege meinen Mund in ihre Handfläche. Die Finger umschließen mein Gesicht. Dicht über mir sind ihre erregenden Augen, das sanfte Braun der Haut und die roten Lippen. Der Mund spricht Worte, die ich nicht verstehe. Ich verstehe auch die Augen nicht ganz, sie sagen mehr, als wir erwarteten, da wir hierher kamen.
Es sind Zimmer nebenan. Im Gehen sehe ich Leer, er ist mit der Blonden handfest und laut. Er kennt das ja auch. Aber ich – ich bin verloren an ein Fernes, Leises und Ungestümes und vertraue mich ihm an. Meine Wünsche sind sonderbar gemischt aus Verlangen und Versinken. Mir wird schwindelig, es ist nichts hier, woran man sich noch halten könnte. Unsere Stiefel haben wir vor der Tür gelassen, man hat uns Pantoffeln dafür gegeben, und nun ist nichts mehr da, was mir die Sicherheit und Frechheit des Soldaten zurückruft: kein Gewehr, kein Koppel, kein Waffenrock, keine Mütze. Ich lasse mich fallen ins Ungewisse, mag geschehen, was will – denn ich habe etwas Angst, trotz allem.
Die Schmale, Dunkle bewegt die Brauen, wenn sie nachdenkt; aber sie sind still, wenn sie spricht. Manchmal auch wird der Laut nicht ganz zum Wort und erstickt oder schwingt halbfertig über mich weg; ein Bogen, eine Bahn, ein Komet. Was habe ich davon gewusst – was weiß ich davon? – Die Worte dieser fremden Sprache, von der ich kaum etwas begreife, sie schläfern mich ein zu einer Stille, in der das Zimmer braun und halb beglänzt verschwimmt und nur das Antlitz über mir lebt und klar ist.
Wie vielfältig ist ein Gesicht, wenn es fremd war noch vor einer Stunde und jetzt geneigt ist zu einer Zärtlichkeit, die nicht aus ihm kommt, sondern aus der Nacht, der Welt und dem Blut, die in ihm zusammenzustrahlen scheinen. Die Dinge des Raumes werden davon angerührt und verwandelt, sie werden besonders, und vor meiner hellen Haut habe ich beinahe Ehrfurcht, wenn der Schein der Lampe daraufliegt und die kühle braune Hand darüberstreicht.
Wie anders ist dies alles als die Dinge in den Mannschaftsbordells, zu denen wir Erlaubnis haben und wo in langer Reihe angestanden wird. Ich möchte nicht an sie denken; aber sie gehen mir unwillkürlich durch den Sinn, und ich erschrecke, denn vielleicht kann man so etwas nie mehr loswerden.
Dann aber fühle ich die Lippen der Schmalen, Dunklen, und dränge mich ihnen entgegen, ich schließe die Augen und möchte alles damit auslöschen, Krieg und Grauen und Gemeinheit, um jung und glücklich zu erwachen; ich denke an das Bild des Mädchens auf dem Plakat und glaube einen Augenblick, dass mein Leben davon abhängt, es zu gewinnen. – Und um so tiefer presse ich mich in die Arme, die mich umfassen, vielleicht geschieht ein Wunder.
Irgendwie finden wir uns alle nachher wieder zusammen. Leer ist sehr forsch. Wir verabschieden uns herzlich und schlüpfen in unsere Stiefel. Die Nachtluft kühlt unsere heißen Körper. Groß ragen die Pappeln in das Dunkel und rauschen. Der Mond steht am Himmel und im Wasser des Kanals. Wir laufen nicht, wir gehen nebeneinander mit langen Schritten.
Leer sagt: »Das war ein Kommissbrot wert!«
Ich kann mich nicht entschließen zu sprechen, ich bin gar nicht einmal froh.
Da hören wir Schritte und ducken uns hinter einen Busch.
Die Schritte kommen näher, dicht an uns vorbei. Wir sehen einen nackten Soldaten, in Stiefeln, genau wie wir, er hat ein Paket unter dem Arm und sprengt im Galopp vorwärts. Es ist Tjaden in großer Fahrt. Schon ist er verschwunden. Wir lachen. Morgen wird er schimpfen. Unbemerkt gelangen wir zu unseren Strohsäcken.
Ich werde zur Schreibstube gerufen. Der Kompanieführer gibt mir Urlaubsschein und Fahrschein und wünscht mir gute Reise. Ich sehe nach, wieviel Urlaub ich habe. Siebzehn Tage – vierzehn sind Urlaub, drei Reisetage. Es ist zuwenig, und ich frage, ob ich nicht fünf Reisetage haben kann. Bertinck zeigt auf meinen Schein. Da sehe ich erst, dass ich nicht sofort zur Front zurückkomme. Ich habe mich nach Ablauf des Urlaubs noch zum Kursus im Heidelager zu melden.
Die anderen beneiden mich. Kat gibt mir gute Ratschläge, wie ich versuchen soll, Druckpunkt zu nehmen*. »Wenn du gerissen bist, bleibst du da hängen.«
Es wäre mir eigentlich lieber gewesen, wenn ich erst in acht Tagen hätte fahren brauchen; denn so lange sind wir noch hier, und hier ist es ja gut. —
Natürlich muss ich in der Kantine einen ausgeben. Wir sind alle ein bisschen angetrunken. Ich werde trübselig; es sind sechs Wochen, die ich fortbleiben werde, das ist natürlich ein mächtiges Glück, aber wie wird es sein, wenn ich zurückkomme? Werde ich sie hier noch alle wiedertreffen? Haie und Kemmerich sind schon nicht mehr da – wer wird der nächste sein?
Wir trinken, und ich sehe einen nach dem andern an. Albert sitzt neben mir und raucht, er ist munter, wir sind immer zusammen gewesen; – gegenüber hockt Kat mit den abfallenden Schultern, dem breiten Daumen und der ruhigen Stimme, Müller mit den vorstehenden Zähnen und dem bellenden Lachen; – Tjaden mit den Mauseaugen; – Leer, der sich einen Vollbart stehen lässt und ausschaut wie vierzig.
Über unsern Köpfen schwebt dicker Qualm. Was wäre der Soldat ohne Tabak! Die Kantine ist eine Zuflucht, Bier ist mehr als ein Getränk, es ist ein Zeichen, dass man gefahrlos die Glieder dehnen und recken darf. Wir tun es auch ordentlich, die Beine haben wir lang von uns gestreckt, und wir spucken gemütlich in die Gegend, dass es nur so eine Art hat. Wie einem das alles vorkommt, wenn man morgen abreist!
Nachts sind wir noch einmal jenseits des Kanals. Ich habe beinahe Furcht, der Schmalen, Dunklen zu sagen, dass ich fortgehe und dass, wenn ich zurückkehre, wir sicher irgendwo weiter sind; dass wir uns also nicht wiedersehen werden. Aber sie nickt nur und lässt nicht allzuviel merken. Ich kann das erst gar nicht recht verstehen, dann aber begreife ich. Leer hat schon recht: wäre ich an die Front gegangen, dann hätte es wieder geheißen: »pauvre garçon«; aber ein Urlauber – davon wollen sie nicht viel wissen, das ist nicht so interessant. Mag sie zum Teufel gehen mit ihrem Gesumm und Gerede. Man glaubt an Wunder, und nachher sind es Kommissbrote.
Am nächsten Morgen, nachdem ich entlaust bin, marschiere ich zur Feldbahn. Albert und Kat begleiten mich. Wir hören an der Haltestelle, dass es wohl noch ein paar Stunden dauern wird bis zur Abfahrt. Die beiden müssen zum Dienst zurück. Wir nehmen Abschied.
»Mach’s gut, Kat; mach’s gut, Albert.«
Sie gehen und winken noch ein paarmal. Ihre Gestalten werden Meiner. Mir ist jeder Schritt, jede Bewegung an ihnen vertraut, ich würde sie weithin schon daran erkennen. Dann sind sie verschwunden.
Ich setze mich auf meinen Tornister und warte.
Plötzlich bin ich von rasender Ungeduld erfüllt, fortzukommen.
Ich liege auf manchem Bahnhof; ich stehe vor manchem Suppenkessel; ich hocke auf mancher Holzplanke; dann aber wird die Landschaft draußen beklemmend, unheimlich und bekannt. An den abendlichen Fenstern gleitet sie vorüber, mit Dörfern, in denen Strohdächer wie Mützen tief über gekalkte Fachwerkhäuser* gezogen sind, mit Kornfeldern, die wie Perlmutter im schrägen Licht schimmern, mit Obstgärten und Scheunen und alten Linden.
Die Namen der Stationen werden zu Begriffen, bei denen mein Herz zittert. Der Zug stampft und stampft, ich stehe am Fenster und halte mich an den Rahmenhölzern fest. Diese Namen umgrenzen meine Jugend.
Flache Wiesen, Felder, Höfe; ein Gespann zieht einsam vor dem Himmel über den Weg, der parallel zum Horizont läuft. Eine Schranke, vor der Bauern warten, Mädchen, die winken, Kinder, die am Bahndamm spielen, Wege, die ins Land führen, glatte Wege, ohne Artillerie.
Es ist Abend, und wenn der Zug nicht stampfte, müsste ich schreien. Die Ebene entfaltet sich groß, in schwachem Blau beginnt in der Ferne die Silhouette der Bergränder aufzusteigen. Ich erkenne die charakteristische Linie des Dolbenberges*, diesen gezackten Kamm, der jäh abbricht, wo der Scheitel des Waldes aufhört. Dahinter muss die Stadt kommen.
Aber nun fließt das goldrote Licht verschwimmend über die Welt, der Zug rattert durch eine Kurve und noch eine – und unwirklich, verweht, dunkel stehen die Pappeln darin, weit weg, hintereinander in langer Reihe, gebildet aus Schatten, Licht und Sehnsucht.
Das Feld dreht sich mit ihnen langsam vorbei; der Zug umgeht sie, die Zwischenräume verringern sich, sie werden ein Block, und einen Augenblick sehe ich nur eine einzige; dann schieben sich die anderen wieder hinter der vordersten heraus, und sie sind noch lange allein am Himmel, bis sie von den ersten Häusern verdeckt werden.
Ein Bahnübergang. Ich stehe am Fenster, ich kann mich nicht trennen. Die andern bereiten ihre Sachen zum Aussteigen vor. Ich spreche den Namen der Straße, die wir überqueren, vor mich hin, Bremer Straße – Bremer Straße – Radfahrer, Wagen, Menschen sind da unten; es ist eine graue Straße und eine graue Unterführung; – sie ergreift mich, als wäre sie meine Mutter.
Dann hält der Zug, und der Bahnhof ist da mit Lärm, Rufen und Schildern. Ich packe meinen Tornister auf und mache die Haken fest, ich nehme mein Gewehr in die Hand und stolpere die Tritte hinunter.
Auf dem Perron sehe ich mich um; ich kenne niemand von den Leuten, die da hasten. Eine Rote-Kreuz-Schwester bietet mir etwas zu trinken an. Ich wende mich ab, sie lächelt mich zu albern an, so durchdrungen von ihrer Wichtigkeit: Seht nur, ich gebe einem Soldaten Kaffee. – Sie sagt zu mir »Kamerad«, das hat mir gerade gefehlt. Draußen vor dem Bahnhof aber rauscht der Fluss neben der Straße, er zischt weiß aus den Schleusen* der Mühlenbrücke hervor. Der viereckige alte Wartturm steht daran, und vor ihm die große bunte Linde, und dahinter der Abend.
Hier haben wir gesessen, oft – wie lange ist das her – ; über diese Brücke sind wir gegangen und haben den kühlen, fauligen Geruch des gestauten Wassers eingeatmet; wir haben uns über die ruhige Flut diesseits der Schleuse gebeugt, in der grüne Schlinggewächse* und Algen* an den Brückenpfeilern hingen; – und wir haben uns jenseits der Schleuse an heißen Tagen über den spritzenden Schaum gefreut und von unseren Lehrern geschwätzt.
Ich gehe über die Brücke, ich schaue rechts und links; das Wasser ist immer noch voll Algen, und es schießt immer noch in hellem Bogen herab; – im Turmgebäude stehen die Plätterinnen* wie damals mit bloßen Armen vor der weißen Wäsche, und die Hitze der Bügeleisen strömt aus den offenen Fenstern. Hunde trotten durch die schmale Straße, vor den Haustüren stehen Menschen und sehen mir nach, wie ich schmutzig und bepackt vorübergehe.
In dieser Konditorei haben wir Eis gegessen und uns im Zigarettenrauchen geübt. In dieser Straße, die an mir vorübergleitet, kenne ich jedes Haus, das Kolonialwarengeschäft, die Drogerie*, die Bäckerei. Und dann stehe ich vor der braunen Tür mit der abgegriffenen Klinke, und die Hand wird mir schwer.
Ich öffne sie; die Kühle kommt mir wunderlich entgegen, sie macht meine Augen unsicher.
Unter meinen Stiefeln knarrt die Treppe. Oben klappt eine Tür, jemand blickt über das Geländer. Es ist die Küchentür, die geöffnet wurde, sie backen dort gerade Kartoffelpuffer*, das Haus riecht danach, heute ist ja auch Sonnabend, und es wird meine Schwester sein, die sich herunterbeugt. Ich schäme mich einen Augenblick und senke den Kopf, dann nehme ich den Helm ab und sehe hinauf. Ja, es ist meine älteste Schwester.
»Paul!« ruft sie. »Paul – !«
Ich nicke, mein Tornister stößt gegen das Geländer, mein Gewehr ist so schwer.
Sie reißt eine Tür auf und ruft: »Mutter, Mutter, Paul ist da.«
Ich kann nicht mehr weitergehen. Mutter, Mutter, Paul ist da.
Ich lehne mich an die Wand und umklammere meinen Helm und mein Gewehr. Ich umklammere sie, so fest es geht, aber ich kann keinen Schritt mehr machen, die Treppe verschwimmt vor meinen Augen, ich stoße mir den Kolben auf die Füße und presse zornig die Zähne zusammen, aber ich kann nicht gegen dieses eine Wort an, das meine Schwester gerufen hat, nichts kann dagegen an, ich quäle mich gewaltsam, zu lachen und zu sprechen, aber ich bringe kein Wort hervor, und so stehe ich auf der Treppe, unglücklich, hilflos, in einem furchtbaren Krampf, und will nicht, und die Tränen laufen mir immer nur so über das Gesicht.
Meine Schwester kommt zurück und fragt: »Was hast du denn?«
Da raffe ich mich zusammen und stolpere zum Vorplatz hinauf. Mein Gewehr lehne ich in eine Ecke, den Tornister stelle ich gegen die Wand, und den Helm packe ich darauf. Auch das Koppel mit den Sachen daran muss fort. Dann sage ich wütend: »So gib doch endlich ein Taschentuch her!«
Sie gibt mir eins aus dem Schrank, und ich wische mir das Gesicht ab. Über mir an der Wand hängt der Glaskasten mit bunten Schmetterlingen, die ich früher gesammelt habe.
Nun höre ich die Stimme meiner Mutter. Sie kommt aus dem Schlafzimmer.
»Ist sie nicht auf?« frage ich meine Schwester.
»Sie ist krank – «, antwortet sie.
Ich gehe hinein zu ihr, gebe ihr die Hand und sage, so ruhig ich kann: »Da bin ich, Mutter.«
Sie liegt im Halbdunkel. Dann fragt sie angstvoll, und ich fühle, wie ihr Blick mich abtastet: »Bist du verwundet?«
»Nein, ich habe Urlaub.«
Meine Mutter ist sehr blass. Ich scheue mich, Licht zu machen. »Da liege ich nun und weine«, sagt sie, »anstatt mich zu freuen.«
»Bist du krank, Mutter?« frage ich.
»Ich werde heute etwas aufstehen«, sagt sie und wendet sich zu meiner Schwester, die immer auf einen Sprung in die Küche muss, damit ihr das Essen nicht anbrennt: »Mach auch das Glas mit den eingemachten Preiselbeeren* auf, – das isst du doch gern?« fragt sie mich.
»Ja, Mutter, das habe ich lange nicht gehabt.«
»Als ob wir es geahnt hätten, dass du kommst«, lacht meine Schwester, »gerade dein Lieblingsessen, Kartoffelpuffer, und jetzt sogar mit Preiselbeeren.«
»Es ist ja auch Sonnabend«, antworte ich.
»Setz dich zu mir«, sagt meine Mutter.
Sie sieht mich an. Ihre Hände sind weiß und kränklich und schmal gegen meine. Wir sprechen nur einige Worte, und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie nichts fragt. Was soll ich auch sagen: Alles, was möglich war, ist ja geschehen. Ich bin heil herausgelangt und sitze neben ihr. Und in der Küche steht meine Schwester und macht das Abendbrot und singt dazu.
»Mein lieber Junge«, sagt meine Mutter leise.
Wir sind nie sehr zärtlich in der Familie gewesen, das ist nicht üblich bei armen Leuten, die viel arbeiten müssen und Sorgen haben. Sie können das auch nicht so verstehen, sie beteuern nicht gern etwas öfter, was sie ohnehin wissen. Wenn meine Mutter zu mir »lieber Junge« sagt, so ist das so viel, als wenn eine andere wer weiß was anstellt. Ich weiß bestimmt, dass das Glas mit Preiselbeeren das einzige ist seit Monaten und dass sie es aufbewahrt hat für mich, ebenso wie die schon alt schmeckenden Kekse, die sie mir jetzt gibt. Sie hat sicher bei einer günstigen Gelegenheit einige erhalten und sie gleich zurückgelegt für mich.
Ich sitze an ihrem Bett, und durch das Fenster funkeln in Braun und Gold die Kastanien des gegenüberliegenden Wirtsgartens. Ich atme langsam ein und aus und sage mir: »Du bist zu Hause, du bist zu Hause.« Aber eine Befangenheit will nicht von mir weichen, ich kann mich noch nicht in alles hineinfinden. Da ist meine Mutter, da ist meine Schwester, da mein Schmetterlingskasten und da das Mahagoniklavier* – aber ich bin noch nicht ganz da. Es sind ein Schleier und ein Schritt dazwischen.
Deshalb gehe ich jetzt, hole meinen Tornister ans Bett und packe aus, was ich mitgebracht habe: einen ganzen Edamer Käse, den Kat mir besorgt hat, zwei Kommissbrote, dreiviertel Pfund Butter, zwei Büchsen Leberwurst, ein Pfund Schmalz und ein Säckchen Reis.
»Das könnt ihr sicher gebrauchen – «
Sie nicken. »Hier ist es wohl schlecht damit?« erkundige ich mich.
»Ja, es gibt nicht viel. Habt ihr denn draußen genug?«
Ich lächele und zeige auf die mitgebrachten Sachen. »So viel ja nun nicht immer, aber es geht doch einigermaßen.«
Erna bringt die Lebensmittel fort. Meine Mutter nimmt plötzlich heftig meine Hand und fragt stockend: »War es sehr schlimm draußen, Paul?«
Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen. War es schlimm, fragst du. – Du, Mutter. – Ich schüttele den Kopf und sage: »Nein, Mutter, nicht so sehr. Wir sind ja mit vielen zusammen, da ist es nicht so schlimm.«
»Ja, aber kürzlich war Heinrich Bredemeyer hier, der erzählte, es wäre jetzt furchtbar draußen, mit dem Gas und all dem andern.«
Es ist meine Mutter, die das sagt. Sie sagt: mit dem Gas und all dem andern. Sie weiß nicht, was sie spricht, sie hat nur Angst um mich. Soll ich ihr erzählen, dass wir einmal drei gegnerische Gräben fanden, die erstarrt waren in ihrer Haltung, wie vom Schlag getroffen? Auf den Brustwehren, in den Unterständen, wo sie gerade waren, standen und lagen die Leute mit blauen Gesichtern, tot.
»Ach, Mutter, was so geredet wird«, antworte ich, »der Bredemeyer erzählt nur so etwas dahin. Du siehst ja, ich bin heil und dick – «
An der zitternden Sorge meiner Mutter finde ich meine Ruhe wieder. Jetzt kann ich schon umhergehen und sprechen und Rede stehen, ohne Furcht, mich plötzlich an die Wand lehnen zu müssen, weil die Welt weich wird wie Gummi und die Adern mürbe wie Zunder*.
Meine Mutter will aufstehen, ich gehe solange in die Küche zu meiner Schwester. »Was hat sie?« frage ich. Sie zuckt die Achseln: »Sie liegt schon ein paar Monate, wir sollten es dir aber nicht schreiben. Es sind mehrere Ärzte bei ihr gewesen. Einer sagte, es wäre wohl wieder Krebs.«
Ich gehe zum Bezirkskommando, um mich anzumelden. Langsam wandere ich durch die Straßen. Hier und da spricht mich jemand an. Ich halte mich nicht lange auf, denn ich will nicht so viel reden.
Als ich aus der Kaserne zurückkomme, ruft mich eine laute Stimme an. Ich drehe mich um, ganz in Gedanken, und stehe einem Major gegenüber. Er fährt mich an: »Können Sie nicht grüßen?«
»Entschuldigen Herr Major«, sage ich verwirrt, »ich habe Sie nicht gesehen.«
Er wird noch lauter: »Können Sie sich auch nicht vernünftig ausdrücken?«
Ich möchte ihm ins Gesicht schlagen, beherrsche mich aber, denn sonst ist mein Urlaub hin, nehme die Knochen zusammen und sage: »Ich habe Herrn Major nicht gesehen.«
»Dann passen Sie gefälligst auf!« schnauzt er. »Wie heißen Sie?«
Ich rapportiere.
Sein rotes, dickes Gesicht ist immernoch empört. »Truppenteil?«
Ich melde vorschriftsmäßig. Er hat immer noch nicht genug. »Wo liegen Sie?«
Aber ich habe jetzt genug und sage: »Zwischen Langemark und Bixschoote*.«
»Wieso?« fragt er etwas verblüfft.
Ich erkläre ihm, dass ich vor einer Stunde auf Urlaub gekommen sei, und denke, dass er jetzt abtrudeln* wird. Aber ich irre mich. Er wird sogar noch wilder: »Das könnte Ihnen wohl so passen, hier Frontsitten einzuführen, was? Das gibt’s nicht! Hier herrscht Gott sei Dank Ordnung!« Er kommandiert: »Zwanzig Schritt zurück, marsch, marsch!«
In mir sitzt die dumpfe Wut. Aber ich kann nichts gegen ihn machen, er lässt mich sofort festnehmen, wenn er will. So spritze ich zurück, gehe vor und zucke sechs Meter vor ihm zu einem zackigen Gruß zusammen, den ich erst wegnehme, als ich sechs Meter hinter ihm bin.
Er ruft mich wieder heran und gibt mir jetzt leutselig bekannt, dass er noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen will. Ich zeige mich stramm dankbar. »Wegtreten!« kommandiert er. Ich knalle die Wendung und ziehe ab.
Der Abend ist mir dadurch verleidet. Ich mache, dass ich nach Hause komme, und werfe die Uniform in die Ecke, das hatte ich sowieso vor. Dann hole ich meinen Zivilanzug aus dem Schrank und ziehe ihn an.
Das ist mir ganz ungewohnt. Der Anzug sitzt ziemlich kurz und knapp, ich bin beim Kommiss gewachsen. Kragen und Krawatte machen mir Schwierigkeiten. Schließlich bindet mir meine Schwester den Knoten. Wie leicht so ein Anzug ist, man hat das Gefühl, als wäre man nur in Unterhosen und Hemd.
Ich betrachte mich im Spiegel. Das ist ein sonderbarer Anblick. Ein sonnenverbrannter, etwas ausgewachsener Konfirmand* sieht mich da verwundert an.
Meine Mutter ist froh, dass ich Zivilzeug trage; ich bin ihr dadurch vertrauter. Doch mein Vater hätte lieber, dass ich Uniform anzöge, er möchte so mit mir zu seinen Bekannten gehen.
Aber ich weigere mich.
Es ist schön, still irgendwo zu sitzen, zum Beispiel in dem Wirtsgarten gegenüber den Kastanien, nahe der Kegelbahn. Die Blätter fallen auf den Tisch und auf die Erde, wenige nur, die ersten. Ich habe ein Glas Bier vor mir stehen, das Trinken hat man beim Militär gelernt. Das Glas ist halb geleert, ich habe also noch einige gute, kühle Schlucke vor mir, und außerdem kann ich ein zweites und ein drittes bestellen, wenn ich will. Es gibt keinen Appell und kein Trommelfeuer, die Kinder des Wirts spielen auf der Kegelbahn, und der Hund legt mir seinen Kopf auf die Knie. Der Himmel ist blau, zwischen dem Laub der Kastanien ragt der grüne Turm der Margaretenkirche auf.
Das ist gut, und ich liebe es. Aber mit den Leuten kann ich nicht fertig werden. Die einzige, die nicht fragt, ist meine Mutter. Doch schon mit meinem Vater ist es anders. Er möchte, dass ich etwas erzähle von draußen, er hat Wünsche, die ich rührend und dumm finde, zu ihm schon habe ich kein rechtes Verhältnis mehr. Am liebsten möchte er immerfort etwas hören. Ich begreife, dass er nicht weiß, dass so etwas nicht erzählt werden kann, und ich möchte ihm auch gern den Gefallen tun*; aber es ist eine Gefahr für mich, wenn ich diese Dinge in Worte bringe, ich habe Scheu, dass sie dann riesenhaft werden und sich nicht mehr bewältigen lassen. Wo blieben wir, wenn uns alles ganz klar würde, was da draußen vorgeht.
So beschränke ich mich darauf, ihm einige lustige Sachen zu erzählen. Er aber fragt mich, ob ich auch einen Nahkampf mitgemacht hätte. Ich sage nein und stehe auf, um auszugehen.
Doch das bessert nichts. Nachdem ich mich auf der Straße ein paarmal erschreckt habe, weil das Quietschen der Straßenbahnen sich wie heranheulende Granaten anhört, klopft mir jemand auf die Schulter. Es ist mein Deutschlehrer, der mich mit den üblichen Fragen überfällt. »Na, wie steht es draußen. Furchtbar, furchtbar, nicht wahr? Ja, es ist schrecklich, aber wir müssen eben durchhalten. Und schließlich, draußen habt ihr doch wenigstens gute Verpflegung, wie ich gehört habe, Sie sehen gut aus, Paul, kräftig. Hier ist das natürlich schlechter, ganz natürlich, ist ja auch selbstverständlich, das Beste immer für unsere Soldaten!«
Er schleppt mich zu einem Stammtisch mit. Ich werde großartig empfangen, ein Direktor gibt mir die Hand und sagt: » So, Sie kommen von der Front? Wie ist denn der Geist dort? Vorzüglich, vorzüglich, was?«
Ich erkläre, dass jeder gern nach Hause möchte.
Er lacht dröhnend: »Das glaube ich! Aber erst müsst ihr den Franzmann* verkloppen! Rauchen Sie? Hier, stecken Sie sich mal eine an. Ober, bringen Sie unserm jungen Krieger auch ein Bier.«
Leider habe ich die Zigarre genommen, deshalb muss ich bleiben. Alle triefen nur so von Wohlwollen, dagegen ist nichts einzuwenden. Trotzdem bin ich ärgerlich und qualme, so schnell ich kann.
Um wenigstens etwas zu tun, stürze ich das Glas Bier in einem Zug* hinunter. Sofort wird mir ein zweites bestellt; die Leute wissen, was sie einem Soldaten schuldig sind. Sie disputieren darüber, was wir annektieren* sollen. Der Direktor mit der eisernen Uhrkette will am meisten haben: ganz Belgien, die Kohlengebiete Frankreichs und große Stücke von Russland. Er gibt genaue Gründe an, weshalb wir das haben müssen, und ist unbeugsam, bis die andern schließlich nachgeben. Dann beginnt er zu erläutern, wo in Frankreich der Durchbruch einsetzen müsse, und wendet sich zwischendurch zu mir: »Nun macht mal ein bisschen vorwärts da draußen mit eurem ewigen Stellungskrieg. Schmeißt die Kerle ‘raus, dann gibt es auch Frieden.« —
Ich antworte, dass nach unserer Meinung ein Durchbruch unmöglich sei. Die drüben hätten zuviel Reserven. Außerdem wäre der Krieg doch anders, als man sich das so denke.
Er wehrt überlegen ab und beweist mir, dass ich davon nichts verstehe. »Gewiss, der einzelne«, sagt er, »aber es kommt doch auf das Gesamte an. Und das können Sie nicht so beurteilen. Sie sehen nur Ihren kleinen Abschnitt und haben deshalb keine Übersicht. Sie tun Ihre Pflicht, Sie setzen Ihr Leben ein, das ist höchster Ehren wert – jeder von euch müsste das Eiserne Kreuz* haben – , aber vor allem muss die gegnerische Front in Flandern durchbrochen und dann von oben aufgerollt werden.«
Er schnauft und wischt sich den Bart. »Völlig aufgerollt muss sie werden, von oben herunter. Und dann auf Paris.«
Ich möchte wissen, wie er sich das vorstellt, und gieße das dritte Bier in mich hinein. Sofort lässt er ein neues bringen.
Aber ich breche auf. Er schiebt mir noch einige Zigarren in die Tasche und entlässt mich mit einem freundschaftlichen Klaps. »Alles Gute! Hoffentlich hören wir nun bald etwas Ordentliches von euch.«
Ich habe mir den Urlaub anders vorgestellt. Vor einem Jahr war er auch anders. Ich bin es wohl, der sich inzwischen geändert hat. Zwischen heute und damals liegt eine Kluft*. Damals kannte ich den Krieg noch nicht, wir hatten in ruhigeren Abschnitten gelegen. Heute merke ich, dass ich, ohne es zu wissen, zermürbter geworden bin. Ich finde mich hier nicht mehr zurecht, es ist eine fremde Welt. Die einen fragen, die andern fragen nicht, und man sieht ihnen an, dass sie stolz darauf sind; oft sagen sie es sogar noch mit dieser Miene des Verstehens, dass man darüber nicht reden könne. Sie bilden sich etwas darauf ein*.
Am liebsten bin ich allein, da stört mich keiner. Denn alle kommen stets auf dasselbe zurück, wie schlecht es geht und wie gut es geht, der eine findet es so, der andere so, – immer sind sie auch rasch bei den Dingen, die ihr Dasein darstellen. Ich habe früher sicher genauso gelebt, aber ich finde jetzt keinen Anschluss mehr daran.
Sie reden mir zuviel. Sie haben Sorgen, Ziele, Wünsche, die ich nicht so auffassen kann wie sie. Manchmal sitze ich mit einem von ihnen in dem kleinen Wirtsgarten und versuche, ihm klarzumachen, dass dies eigentlich schon alles ist: so still zu sitzen. Sie verstehen das natürlich, geben es zu, finden es auch, aber nur mit Worten, nur mit Worten, das ist es ja – sie empfinden es, aber stets nur halb, ihr anderes Wesen ist bei anderen Dingen, sie sind so verteilt, keiner empfindet es mit seinem ganzen Leben; ich kann ja selbst auch nicht recht sagen, was ich meine.
Wenn ich sie so sehe, in ihren Zimmern, in ihren Büros, in ihren Berufen, dann zieht das mich unwiderstehlich an, ich möchte auch darin sein und den Krieg vergessen; aber es stößt mich auch gleich wieder ab, es ist so eng, wie kann das ein Leben ausfüllen, man sollte es zerschlagen, wie kann das alles so sein, während draußen jetzt die Splitter über die Trichter sausen und die Leuchtkugeln hochgehen, die Verwundeten auf Zeltbahnen zurückgeschleift werden und die Kameraden sich in die Gräben drücken! – Es sind andere Menschen hier, Menschen, die ich nicht richtig begreife, die ich beneide und verachte. Ich muss an Kat und Albert und Müller und Tjaden denken, was mögen sie tun? Sie sitzen vielleicht in der Kantine oder sie schwimmen – bald müssen sie wieder nach vorn.
In meinem Zimmer steht hinter dem Tisch ein braunes Ledersofa. Ich setze mich hinein.
An den Wänden sind viele Bilder mit Reißzwecken* festgemacht, die ich früher aus Zeitschriften geschnitten habe. Postkarten und Zeichnungen dazwischen, die mir gefallen haben. In der Ecke steht ein kleiner eiserner Ofen. An der Wand gegenüber das Regal mit meinen Büchern.
In diesem Zimmer habe ich gelebt, bevor ich Soldat wurde. Die Bücher habe ich nach und nach gekauft von dem Geld, das ich mit Stundengeben verdiente. Viele davon antiquarisch, alle Klassiker zum Beispiel, ein Band kostete eine Mark und zwanzig Pfennig, in steifem, blauem Leinen. Ich habe sie vollständig gekauft, denn ich war gründlich, bei ausgewählten Werken traute ich den Herausgebern nicht, ob sie auch das Beste genommen hatten. Deshalb kaufte ich mir »Sämtliche Werke«. Gelesen habe ich sie mit ehrlichem Eifer, aber die meisten sagten mir nicht recht zu. Um so mehr hielt ich von den anderen Büchern, den moderneren, die natürlich auch viel teurer waren. Einige davon habe ich nicht ganz ehrlich erworben, ich habe sie ausgeliehen und nicht zurückgegeben, weil ich mich von ihnen nicht trennen mochte.
Ein Fach des Regals ist mit Schulbüchern gefüllt. Sie sind wenig geschont und stark zerlesen, Seiten sind herausgerissen, man weiß ja wofür. Und unten sind Hefte, Papier und Briefe hingepackt, Zeichnungen und Versuche.
Ich will mich hineindenken in die Zeit damals. Sie ist ja noch im Zimmer, ich fühle es sofort, die Wände haben sie bewahrt. Meine Hände liegen auf der Sofalehne; jetzt mache ich es mir bequem und ziehe auch die Beine hoch, so sitze ich gemütlich in der Ecke, in den Armen des Sofas. Das kleine Fenster ist geöffnet, es zeigt das vertraute Bild der Straße mit dem ragenden Kirchturm am Ende. Ein paar Blumen stehen auf dem Tisch. Federhalter, Bleistifte, eine Muschel* als Briefbeschwerer, das Tintenfass – hier ist nichts verändert.
So wird es auch sein, wenn ich Glück habe, wenn der Krieg aus ist und ich wiederkomme für immer. Ich werde ebenso hier sitzen und mein Zimmer ansehen und warten.
Ich bin aufgeregt; aber ich möchte es nicht sein, denn das ist nicht richtig. Ich will wieder diese stille Hingerissenheit, das Gefühl dieses heftigen, unbenennbaren Dranges verspüren, wie früher, wenn ich vor meine Bücher trat. Der Wind der Wünsche, der aus den bunten Bücherrücken aufstieg, soll mich wieder erfassen, er soll den schweren, toten Bleiblock, der irgendwo in mir liegt, schmelzen und mir wieder die Ungeduld der Zukunft, die beschwingte Freude an der Welt der Gedanken wecken; – er soll mir das verlorene Bereitsein meiner Jugend zurückbringen.
Ich sitze und warte.
Mir fällt ein, dass ich zu Kemmerichs Mutter gehen muss; – Mittelstaedt könnte ich auch besuchen, er muss in der Kaserne sein. Ich sehe aus dem Fenster: – hinter dem besonnten Straßenbild taucht verwaschen und leicht ein Hügelzug auf, verwandelt sich zu einem hellen Tag im Herbst, wo ich am Feuer sitze und mit Kat und Albert gebratene Kartoffeln aus der Schale esse.
Doch daran will ich nicht denken, ich wische es fort. Das Zimmer soll sprechen, es soll mich einfangen und tragen, ich will fühlen, dass ich hierhergehöre, und horchen, damit ich weiß, wenn ich wieder an die Front gehe: Der Krieg versinkt und ertrinkt, wenn die Welle der Heimkehr kommt, er ist vorüber, er zerfrisst uns nicht, er hat keine andere Macht über uns als nur die äußere!
Die Bücherrücken stehen nebeneinander. Ich kenne sie noch und erinnere mich, wie ich sie geordnet habe. Ich bitte sie mit meinen Augen: Sprecht zu mir, – nehmt mich auf – nimm mich auf, du Leben von früher, – du sorgloses, schönes – nimm mich wieder auf —
Ich warte, ich warte.
Bilder ziehen vorüber, sie haken nicht fest, es sind nur Schatten und Erinnerungen.
Nichts – nichts.
Meine Unruhe wächst.
Ein fürchterliches Gefühl der Fremde steigt plötzlich in mir hoch. Ich kann nicht zurückfinden, ich bin ausgeschlossen; so sehr ich auch bitte und mich anstrenge, nichts bewegt sich, teilnahmslos und traurig sitze ich wie ein Verurteilter da, und die Vergangenheit wendet sich ab. Gleichzeitig spüre ich Furcht, sie zu sehr zu beschwören, weil ich nicht weiß, was dann alles geschehen könnte. Ich bin ein Soldat, daran muss ich mich halten.
Müde stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Dann nehme ich eines der Bücher und blättere darin, um zu lesen. Aber ich stelle es weg und nehme ein anderes. Es sind Stellen darin, die angestrichen sind. Ich suche, blättere, nehme neue Bücher. Schon liegt ein Pack neben mir. Andere kommen dazu, hastiger – Blätter, Hefte, Briefe.
Stumm stehe ich davor. Wie vor einem Gericht.
Mutlos.
Worte, Worte, Worte – sie erreichen mich nicht.
Langsam stelle ich die Bücher wieder in die Lücken. Vorbei.
Still gehe ich aus dem Zimmer.
Noch gebe ich es nicht auf. Mein Zimmer betrete ich zwar nicht mehr, aber ich tröste mich damit, dass einige Tage noch nicht ein Ende zu sein brauchen. Ich habe nachher – später – Jahre dafür Zeit. Vorläufig gehe ich zu Mittelstaedt in die Kaserne, und wir sitzen in seiner Stube, da ist eine Luft, die ich nicht liebe, an die ich aber gewöhnt bin.
Mittelstaedt hat eine Neuigkeit parat, die mich sofort elektrisiert. Er erzählt mir, dass Kantorek eingezogen worden sei als Landsturmmann*. »Stell dir vor«, sagt er und holt ein paar gute Zigarren heraus, »ich komme aus dem Lazarett hierher und falle gleich über ihn. Er streckt mir seine Pfote entgegen und quakt: ‚Sieh da, Mittelstaedt, wie geht es denn?’ – Ich sehe ihn groß an und antworte: ‚Landsturmmann Kantorek, Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps, das sollten Sie selbst am besten wissen. Nehmen Sie Haltung an, wenn Sie mit einem Vorgesetzten reden.’ – Du hättest sein Gesicht sehen müssen! Eine Kreuzung aus Essiggurke und Blindgänger. Zögernd versuchte er noch einmal, sich anzubiedern*. Da schnauzte ich etwas schärfer. Nun führte er seine stärkste Batterie ins Gefecht und fragte vertraulich: ‚Soll ich Ihnen vermitteln, dass Sie Notexamen machen?’ Er wollte mich erinnern, verstehst du. Da packte mich die Wut, und ich erinnerte ihn auch. ‚Landsturmmann Kantorek, vor zwei Jahren haben Sie uns zum Bezirkskommando gepredigt, darunter auch den Joseph Behm, der eigentlich nicht wollte. Er fiel drei Monate bevor er eingezogen worden wäre. Ohne Sie hätte er solange gewartet. Und jetzt: Wegtreten. Wir sprechen uns noch.’ – Es war mir leicht, seiner Kompanie zugeteilt zu werden. Als erstes nahm ich ihn zur Kammer und sorgte für eine hübsche Ausrüstung. Du wirst ihn gleich sehen.«
Wir gehen auf den Hof. Die Kompanie ist angetreten. Mittelstaedt lässt rühren und besichtigt.
Da erblicke ich Kantorek und muss das Lachen verbeißen. Er trägt eine Art Schoßrock aus verblichenem Blau. Auf dem Rücken und an den Ärmeln sind große dunkle Flicken eingesetzt. Der Rock muss einem Riesen gehört haben. Um so kürzer ist die abgewetzte schwarze Hose; sie reicht bis zur halben Wade*. Dafür sind aber die Schuhe sehr geräumig, eisenharte, uralte Treter, mit hochgebogenen Spitzen, noch an den Seiten zu schnüren. Als Ausgleich ist die Mütze wieder zu klein, ein furchtbar dreckiges, elendes Krätzchen. Der Gesamteindruck ist erbarmungswürdig.
Mittelstaedt bleibt stehen vor ihm: »Landsturmmann Kantorek, ist das Knopfputz? Sie scheinen es nie zu lernen. Ungenügend, Kantorek, ungenügend – «
Ich brülle innerlich vor Vergnügen. Genauso hat Kantorek in der Schule Mittelstaedt getadelt, mit demselben Tonfall »Ungenügend, Mittelstaedt, ungenügend – «
Mittelstaedt missbilligt weiter: »Sehen Sie sich mal Boettcher an, der ist vorbildlich, von dem können Sie lernen.«
Ich traue meinen Augen kaum. Boettcher ist ja auch da, unser Schulportier. Und der ist vorbildlich! Kantorek schießt mir einen Blick zu, als ob er mich fressen möchte. Ich aber grinse ihm nur harmlos in die Visage*, so als ob ich ihn gar nicht weiter kenne.
Wie blödsinnig er aussieht mit seinem Krätzchen und seiner Uniform! Und vor so was hat man früher eine Heidenangst gehabt, wenn es auf dem Katheder* thronte und einen mit dem Bleistift aufspießte bei den unregelmäßigen französischen Verben, mit denen man nachher in Frankreich doch nichts anfangen konnte. Es ist noch kaum zwei Jahre her; – und jetzt steht hier der Landsturmmann Kantorek, jäh entzaubert, mit krummen Knien und Armen wie Topfhenkel, mit schlechtem Knopfputz und lächerlicher Haltung, ein unmöglicher Soldat. Ich kann ihn mir nicht mehr zusammenreimen mit dem drohenden Bilde auf dem Katheder, und ich möchte wirklich gern mal wissen, was ich machen werde, wenn dieser Jammerpelz mich alten Soldaten jemals wieder fragen darf: »Bäumer, nennen Sie das Imparfait* von aller – «
Vorläufig lässt Mittelstaedt etwas Schwärmen üben. Kantorek wird dabei wohlwollend von ihm zum Gruppenführer bestimmt.
Damit hat es seine besondere Bewandtnis. Der Gruppenführer muss beim Schwärmen nämlich stets zwanzig Schritt vor seiner Gruppe sein; – kommandiert man nun: Kehrt – marsch!, so macht die Schwarmlinie nur die Wendung, der Gruppenführer jedoch, der dadurch plötzlich zwanzig Schritt hinter der Linie ist, muss im Galopp vorstürzen, um wieder seine zwanzig Schritt vor die Gruppe zu kommen. Das sind zusammen vierzig Schritt: Marsch, marsch. Kaum ist er aber angelangt, so wird einfach wieder Kehrt – marsch! befohlen, und er muss eiligst wieder vierzig Schritt nach der anderen Seite rasen. Auf diese Weise macht die Gruppe nur gemütlich immer eine Wendung und ein paar Schritte, während der Gruppenführer hin und her saust wie ein Furz* auf der Gardinenstange. Das Ganze ist eines der vielen probaten Rezepte von Himmelstoß.
Kantorek kann von Mittelstaedt nichts anderes verlangen, denn er hat ihm einmal eine Versetzung vermurkst, und Mittelstaedt wäre schön dumm, diese gute Gelegenheit nicht auszunutzen, bevor er wieder ins Feld kommt. Man stirbt doch vielleicht etwas leichter, wenn der Kommiss einem auch einmal solch eine Chance geboten hat.
Einstweilen spritzt Kantorek hin und her wie ein aufgescheuchtes Wildschwein. Nach einiger Zeit lässt Mittelstaedt aufhören, und nun beginnt die so wichtige Übung des Kriechens. Auf Knien und Ellenbogen, die Knarre* vorschriftsmäßig gefasst, schiebt Kantorek seine Prachtfigur durch den Sand, dicht an uns vorbei. Er schnauft kräftig, und sein Schnaufen ist Musik.
Mittelstaedt ermuntert ihn, indem er den Landsturmmann Kantorek mit Zitaten des Oberlehrers Kantorek tröstet. »Landsturmmann Kantorek, wir haben das Glück, in einer großen Zeit zu leben, da müssen wir alle uns zusammenreißen und das Bittere überwinden.« Kantorek spuckt ein schmutziges Stück Holz aus, das ihm zwischen die Zähne gekommen ist, und schwitzt. Mittelstaedt beugt sich nieder, beschwörend eindringlich: »Und über Kleinigkeiten niemals das große Erlebnis vergessen, Landsturmmann Kantorek!«
Mich wundert, dass Kantorek nicht mit einem Knall zerplatzt, besonders, da jetzt die Turnstunde folgt, in der Mittelstaedt ihn großartig kopiert, indem er ihm in den Hosenboden fasst beim Klimmzug am Querbaum, damit er das Kinn stramm über die Stange bringen kann, und dazu von weisen Reden nur so trieft. Genauso hat Kantorek es früher mit ihm gemacht.
Danach wird der weitere Dienst verteilt. »Kantorek und Boettcher zum Kommissbrotholen! Nehmen Sie den Handwagen mit.«
Ein paar Minuten später geht das Paar mit dem Handwagen los. Kantorek hält wütend den Kopf gesenkt. Der Portier ist stolz, weil er leichten Dienst hat.
Die Brotfabrik ist am andern Ende der Stadt. Beide müssen also hin und zurück durch die ganze Stadt.
»Das machen sie schon ein paar Tage«, grinst Mittelstaedt. »Es gibt bereits Leute, die darauf warten, sie zu sehen.«
»Großartig«, sage ich, »aber hat er sich noch nicht beschwert?«
»Versucht! Unser Kommandeur hat furchtbar gelacht, als er die Geschichte gehört hat. Er kann keine Schulmeister leiden. Außerdem poussiere* ich mit seiner Tochter.«
»Er wird dir das Examen versauen.«
»Darauf pfeife ich«, meint Mittelstaedt gelassen. »Seine Beschwerde ist außerdem zwecklos gewesen, weil ich beweisen konnte, dass er meistens leichten Dienst hat.«
»Könntest du ihn nicht mal ganz groß schleifen?« frage ich.
»Dazu ist er mir zu dämlich«, antwortet Mittelstaedt erhaben und großzügig.
Was ist Urlaub? – Ein Schwanken, das alles nachher noch viel schwerer macht. Schon jetzt mischt sich der Abschied hinein. Meine Mutter sieht mich schweigend an; – sie zählt die Tage, ich weiß es; – jeden Morgen ist sie traurig. Es ist schon wieder ein Tag weniger. Meinen Tornister hat sie weggepackt, sie will durch ihn nicht erinnert werden.
Die Stunden laufen schnell, wenn man grübelt*. Ich raffe mich auf und begleite meine Schwester. Sie geht zum Schlachthof, um einige Pfund Knochen zu holen. Das ist eine große Vergünstigung, und morgens schon stellen sich die Leute hin, um darauf anzustehen. Manche werden ohnmächtig.
Wir haben kein Glück. Nachdem wir drei Stunden abwechselnd gewartet haben, löst sich die Reihe auf. Die Knochen sind zu Ende.
Es ist gut, dass ich meine Verpflegung erhalte. Davon bringe ich meiner Mutter mit, und wir haben so alle etwas kräftigeres Essen.
Immer schwerer werden die Tage, die Augen meiner Mutter immer trauriger. Noch vier Tage. Ich muss zu Kemmerichs Mutter gehen.
Man kann das nicht niederschreiben. Diese bebende, schluchzende Frau, die mich schüttelt und mich anschreit: »Weshalb lebst du denn, wenn er tot ist!«, die mich mit Tränen überströmt und ruft: »Weshalb seid ihr überhaupt da, Kinder, wie ihr – «, die in einen Stuhl sinkt und weint: »Hast du ihn gesehen? Hast du ihn noch gesehen? Wie starb er?«
Ich sage ihr, dass er einen Schuss ins Herz erhalten hat und gleich tot war. Sie sieht mich an, sie zweifelt: »Du lügst. Ich weiß es besser. Ich habe gefühlt, wie schwer er gestorben ist. Ich habe seine Stimme gehört, seine Angst habe ich nachts gespürt, – sag die Wahrheit, ich will es wissen, ich muss es wissen.«
»Nein«, sage ich, »ich war neben ihm. Er war sofort tot.« Sie bittet mich leise: »Sag es mir. Du musst es. Ich weiß, du willst mich damit trösten, aber siehst du nicht, dass du mich schlimmer quälst, als wenn du die Wahrheit sagst? Ich kann die Ungewissheit nicht ertragen, sag mir, wie es war, und wenn es noch so furchtbar ist. Es ist immer noch besser, als was ich sonst denken muss.«
Ich werde es nie sagen, eher kann sie aus mir Hackfleisch machen. Ich bemitleide sie, aber sie kommt mir auch ein wenig dumm vor. Sie soll sich doch zufrieden geben, Kemmerich bleibt tot, ob sie es weiß oder nicht. Wenn man so viele Tote gesehen hat, kann man so viel Schmerz um einen einzigen nicht mehr recht begreifen. So sage ich etwas ungeduldig: »Er war sofort tot. Er hat es gar nicht gefühlt. Sein Gesicht war ganz ruhig.«
Sie schweigt. Dann fragt sie langsam: »Kannst du das beschwören?«
»Ja.«
»Bei allem, was dir heilig ist?«
Ach Gott, was ist mir schon heilig; – so was wechselt ja schnell bei uns.
»Ja, er war sofort tot.«
»Willst du selbst nicht wiederkommen, wenn es nicht wahr ist?«
»Ich will nicht wiederkommen, wenn er nicht sofort tot war.«
Ich würde noch wer weiß was auf mich nehmen. Aber sie scheint mir zu glauben. Sie stöhnt und weint lange. Ich soll erzählen, wie es war, und erfinde eine Geschichte, an die ich jetzt beinahe selbst glaube.
Als ich gehe, küsst sie mich und schenkt mir ein Bild von ihm. Er lehnt darauf in seiner Rekrutenuniform an einem runden Tisch, dessen Beine aus ungeschälten Birkenästen bestehen. Dahinter ist ein Wald gemalt als Kulisse. Auf dem Tisch steht ein Bierseidel.
Es ist der letzte Abend zu Hause. Alle sind schweigsam. Ich gehe früh zu Bett, ich fasse die Kissen an, ich drücke sie an mich und lege den Kopf hinein. Wer weiß, ob ich je wieder so in einem Federbett liegen werde!
Meine Mutter kommt spät noch in mein Zimmer. Sie glaubt, dass ich schlafe, und ich stelle mich auch so. Zu sprechen, wach miteinander zu sein, ist zu schwer.
Sie sitzt fast bis zum Morgen, obschon sie Schmerzen hat und sich manchmal krümmt. Endlich kann ich es nicht mehr aushaken, ich tue, als erwachte ich.
»Geh schlafen, Mutter, du erkältest dich hier.«
Sie sagt: »Schlafen kann ich noch genug später.«
Ich richte mich auf. »Es geht ja nicht sofort ins Feld, Mutter. Ich muss doch erst vier Wochen ins Barackenlager. Von dort komme ich vielleicht einen Sonntag noch herüber.«
Sie schweigt. Dann fragt sie leise: »Fürchtest du dich sehr?«
»Nein, Mutter.«
»Ich wollte dir noch sagen: Nimm dich vor den Frauen in acht* in Frankreich. Sie sind schlecht dort.«
Ach Mutter, Mutter! Für dich bin ich ein Kind, – warum kann ich nicht den Kopf in deinen Schoß legen und weinen? Warum muss ich immer der Stärkere und der Gefasstere sein, ich möchte doch auch einmal weinen und getröstet werden, ich bin doch wirklich nicht viel mehr als ein Kind, im Schrank hängen noch meine kurzen Knabenhosen, – es ist doch erst so wenig Zeit her, warum ist es denn vorbei?
So ruhig ich kann, sage ich: »Wo wir liegen, da sind keine Frauen, Mutter.«
»Und sei recht vorsichtig dort im Felde, Paul.«
Ach Mutter, Mutter! Warum nehme ich dich nicht in meine Arme, und wir sterben. Was sind wir doch für arme Hunde!
»Ja, Mutter, das will ich sein.«
»Ich werde jeden Tag für dich beten, Paul.«
Ach Mutter, Mutter! Lass uns aufstehen und fortgehen, zurück durch die Jahre, bis all dies Elend nicht mehr auf uns liegt, zurück zu dir und mir allein, Mutter!
»Vielleicht kannst du einen Posten bekommen, der nicht so gefährlich ist.«
»Ja, Mutter, vielleicht komme ich in die Küche, das kann wohl sein.«
»Nimm ihn ja an, wenn die andern auch reden – «
»Darum kümmere ich mich nicht, Mutter – «
Sie seufzt. Ihr Gesicht ist ein weißer Schein im Dunkel. »Nun musst du schlafen gehen, Mutter.«
Sie antwortet nicht. Ich stehe auf und lege ihr meine Decke über die Schultern. Sie stützt sich auf meinen Arm, sie hat Schmerzen. So bringe ich sie hinüber. Eine Weile bleibe ich noch bei ihr. »Du musst nun auch gesund werden, Mutter, bis ich wiederkomme.«
»Ja ja, mein Kind.«
»Ihr dürft mir nicht eure Sachen schicken, Mutter. Wir haben draußen genug zu essen. Ihr könnt es hier besser brauchen.«
Wie arm sie in ihrem Bette liegt, sie, die mich liebt, mehr als alles. Als ich schon gehen will, sagt sie hastig: »Ich habe dir noch zwei Unterhosen besorgt. Es ist gute Wolle. Sie werden warm halten. Du musst nicht vergessen, sie dir einzupacken.«
Ach Mutter, ich weiß, was dich diese beiden Unterhosen gekostet haben an Herumstehen und Laufen und Betteln! Ach Mutter, Mutter, wie kann man es begreifen, dass ich weg muss von dir, wer hat denn anders ein Recht auf mich als du. Noch sitze ich hier, und du liegst dort, wir müssen uns so vieles sagen, aber wir werden es nie können.
»Gute Nacht, Mutter.«
»Gute Nacht, mein Kind.«
Das Zimmer ist dunkel. Der Atem meiner Mutter geht darin hin und her. Dazwischen tickt die Uhr. Draußen vor den Fenstern weht es. Die Kastanien rauschen.
Auf dem Vorplatz stolpere ich über meinen Tornister, der fertig gepackt daliegt, weil ich morgen sehr früh fort muss.
Ich beiße in meine Kissen, ich krampfe die Fäuste um die Eisenstäbe meines Bettes. Ich hätte nie hierherkommen dürfen. Ich war gleichgültig und oft hoffnungslos draußen; – ich werde es nie mehr so sein können. Ich war ein Soldat, und nun bin ich nichts mehr als Schmerz um mich, um meine Mutter, um alles, was so trostlos und ohne Ende ist. Ich hätte nie auf Urlaub fahren dürfen.