– Schlagt den Generalmarsch, getreuer Vasalle Tambour, schrie Nussknacker sehr laut und sogleich fing der Tambour an, auf die künstlichste Weise zu wirbeln, dass die Fenster des Glasschranks zitterten und dröhnten.
Nun krackte und klapperte es drinnen und Marie wurde gewahr, dass die Deckel sämtlicher Schachteln, worin Fritzens Armee einquartiert war, mit Gewalt aufund die Soldaten heraus- und herab- ins unterste Fach sprangen, dort sich aber in blanken Rotten sammelten. Nussknacker lief auf und nieder, begeisterte Worte zu den Truppen sprechend:
– Kein Hund von Trompeter regt und rührt sich, schrie Nussknacker erbost, wandte sich aber dann schnell zum Pantalon, der etwas blass geworden, mit dem langen Kinn sehr wackelte, und sprach feierlich:
– General, ich kenne Ihren Mut und Ihre Erfahrung, hier gilt’s schnellen Überblick und Benutzung des Moments – ich vertraue Ihnen das Kommando sämtlicher Kavallerie und Artillerie an – ein Pferd brauchen Sie nicht, Sie haben sehr lange Beine und galoppieren damit leidlich. Tun Sie jetzt was Ihres Berufs ist.
Sogleich drückte Pantalon die dürren langen Fingerchen an den Mund und krähte so durchdringend, dass es klang als würden hundert helle Trompetlein lustig geblasen.
Da ging es im Schrank an ein Wiechern und Stampfen, und siehe, Fritzens Kürassiere und Dragoner, vor allen Dingen aber die neuen glänzenden Husaren rückten aus und hielten bald unten auf dem Fußboden. Nun defilierte Regiment auf Regiment mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel bei Nussknacker vorüber und stellte sich in breiter Reihe quer über den Boden des Zimmers. Aber vor ihnen her fuhren rasselnd Fritzens Kanonen auf, von den Kanoniern umgeben, und bald ging es bum – bum und Marie sah wie die Zuckererbsen einschlugen in den dicken Haufen der Mäuse, die davon ganz weiß überpudert wurden und sich sehr schämten. Vorzüglich tat ihnen aber eine schwere Batterie viel Schaden, die auf Mamas Fußbank aufgefahren war und pum – pum – pum, immer hintereinander fort Pfeffernüsse unter die Mäuse schoss, wovon sie umfielen. Die Mäuse kamen aber doch immer näher und überrannten sogar einige Kanonen, aber da ging es prr – prr, prr, und vor Rauch und Staub konnte Marie kaum sehen, was nun geschah. Doch so viel war gewiss, dass jedes Korps sich mit der höchsten Erbitterung schlug und der Sieg lange hin und her schwankte. Die Mäuse entwickelten immer mehr und mehr Massen, und ihre kleinen silbernen Pillen, die sie sehr geschickt zu schleudern wussten, schlugen schon bis in den Glasschrank hinein. Verzweiflungsvoll liefen Klärchen und Trutchen umher, und rangen sich die Händchen wund.
– Soll ich in meiner blühendsten Jugend sterben! Ich, die schönste der Puppen! schrie Klärchen.
– Hab ich darum mich so gut konserviert, um hier in meinen vier Wänden umzukommen? rief Trutchen.
Dann fielen sie sich um den Hals, und heulten so sehr, dass man es trotz des tollen Lärms doch hören konnte. Denn von dem Spektakel, der nun losging, habt ihr kaum einen Begriff, werte Zuhörer. Das ging prr – prr, puff – piff, schnetterdeng – schnetterdeng, bum – burum, bum – burum-bum durcheinander und dabei quiekten und schrien Mauskönig und Mäuse, und dann hörte man wieder Nussknackers gewaltige Stimme, wie er nützliche Befehle austeilte und sah ihn, wie er über die im Feuer stehenden Bataillone hinwegschritt!
Pantalon hatte einige sehr glänzende Kavallerieangriffe gemacht und sich mit Ruhm bedeckt, aber Fritzens Husaren wurden von der Mäuseartillerie mit hässlichen, übelriechenden Kugeln beworfen, die ganz fatale Flecke in ihren roten Wämsern machten, weshalb sie nicht recht vor wollten. Pantalon ließ sie links abschwenken und in der Begeisterung des Kommandierens machte er es ebenso und seine Kürassiere und Dragoner auch, das heißt, sie schwenkten alle links ab, und gingen nach Hause.
Dadurch geriet die auf der Fußbank postierte Batterie in Gefahr, und es dauerte auch gar nicht lange, so kam ein dicker Haufe sehr hässlicher Mäuse und rannte so stark an, dass die ganze Fußbank mitsamt den Kanonieren und Kanonen umfiel.
Nussknacker schien sehr bestürzt, und befahl, dass der rechte Flügel eine rückgängige Bewegung machen solle. Du weißt, o mein kriegserfahrner Zuhörer Fritz, dass eine solche Bewegung machen, beinahe so viel heißt als davonlaufen und betrauerst mit mir schon jetzt das Unglück, was über die Armee des kleinen von Marie geliebten Nussknackers kommen sollte! Wende jedoch dein Auge von diesem Unheil ab, und beschaue den linken Flügel der Nussknackerischen Armee, wo alles noch sehr gut steht und für Feldherrn und Armee viel zu hoffen ist. Während des hitzigsten Gefechts waren leise MäuseKavalleriemassen unter der Kommode herausdebouchiert und hatten sich unter lautem grässlichen Gequiek mit Wut auf den linken Flügel der Nussknackerischen Armee geworfen, aber welchen Widerstand fanden sie da!
Langsam, wie es die Schwierigkeit des Terrains nur erlaubte, da die Leiste des Schranks zu passieren, war das Devisen-Korps unter der Anführung zweier chinesischer Kaiser vorgerückt, und hatte sich en quarru plain formiert. Diese wackern, sehr bunten und herrlichen Truppen, die aus vielen Gärtnern, Tirolern, Tungusen, Friseurs, Harlekins, Kupidos, Löwen, Tigern, Meerkatzen und Affen bestanden, fochten mit Fassung, Mut und Ausdauer. Mit spartanischer Tapferkeit hätte dies Bataillon von Eliten dem Feinde den Sieg entrissen, wenn nicht ein verwegener feindlicher Rittmeister tollkühn vordringend einem der chinesischen Kaiser den Kopf abgebissen und dieser im Fallen zwei Tungusen und eine Meerkatze erschlagen hätte. Dadurch entstand eine Lücke, durch die der Feind eindrang und bald war das ganze Bataillon zerbissen. Doch wenig Vorteil hatte der Feind von dieser Untat. Sowie ein Mäusekavallerist mordlustig einen der tapfern Gegner mittendurch zerbiss, bekam er einen kleinen gedruckten Zettel in den Hals, wovon er augenblicklich starb.
Half dies aber wohl auch der Nussknackerischen Armee, die, einmal rückgängig geworden, immer rückgängiger wurde und immer mehr Leute verlor, so dass der unglückliche Nussknacker nur mit einem gar kleinen Häufchen dicht vor dem Glasschranke hielt?
– Die Reserve soll heran! Pantalon, Skaramuz, Tambour – wo seid ihr? So schrie Nussknacker, der noch auf neue Truppen hofte, die sich aus dem Glasschrank entwickeln sollten.
Es kamen auch wirklich einige braune Männer und Frauen aus Thorn mit goldnen Gesichtern, Hüten und Helmen heran, die fochten aber so ungeschickt um sich herum, dass sie keinen der Feinde trafen und bald ihrem Feldherrn Nussknacker selbst die Mütze vom Kopfe heruntergefochten hätten. Die feindlichen Chasseurs bissen ihnen auch bald die Beine ab, so dass sie umstülpten und noch dazu einige von Nussknackers Waffenbrüdern erschlugen.
Nun war Nussknacker vom Feinde dicht umringt, in der höchsten Angst und Not. Er wollte über die Leiste des Schranks springen, aber die Beine waren zu kurz, Klärchen und Trutchen lagen in Ohnmacht, sie konnten ihm nicht helfen. Husaren, Dragoner sprangen lustig bei ihm vorbei und hinein, da schrie er auf in heller Verzweiflung:
– Ein Pferd, ein Pferd – ein Königreich für ein Pferd!
In dem Augenblick packten ihn zwei feindliche Tirailleurs bei dem hölzernen Mantel und im Triumph aus sieben Kehlen aufquiekend, sprengte Mausekönig heran. Marie wusste sich nicht mehr zu fassen.
– O, mein armer Nussknacker, mein armer Nussknacker! so rief sie schluchzend, fasste, ohne sich deutlich ihres Tuns bewusst zu sein, nach ihrem linken Schuh, und warf ihn mit Gewalt in den dicksten Haufen der Mäuse hinein auf ihren König.
In dem Augenblick schien alles verstoben und verflogen, aber Marie empfand am linken Arm einen noch stechendern Schmerz als vorher und sank ohnmächtig zur Erde nieder.
Als Marie wie aus tiefem Todesschlaf erwachte, lag sie in ihrem Bettchen und die Sonne schien hell und funkelnd durch die mit Eis belegten Fenster in das Zimmer hinein. Dicht neben ihr saß ein fremder Mann, den sie aber bald für den Chirurgus Wendelstern erkannte. Der sprach leise:
– Nun ist sie aufgewacht!
Da kam die Mutter herbei und sah sie mit recht ängstlich forschenden Blicken an.
– Ach, liebe Mutter, lispelte die kleine Marie: sind denn nun die hässlichen Mäuse alle fort, und ist denn der gute Nussknacker gerettet?
– Sprich nicht solch albernes Zeug, liebe Marie, erwiderte die Mutter, was haben die Mäuse mit dem Nussknacker zu tun. Aber du böses Kind, hast uns allen recht viel Angst und Sorge gemacht. Das kommt davon her, wenn die Kinder eigenwillig sind und den Eltern nicht folgen. Du spieltest gestern bis in die tiefe Nacht hinein mit deinen Puppen. Du wurdest schläfrig, und mag es sein, dass ein hervorspringendes Mäuschen, deren es doch sonst hier nicht gibt, dich erschreckt hat; genug du stießest mit dem Arm eine Glasscheibe des Schranks ein und schnittest dich so sehr in den Arm, dass Herr Wendelstern, der dir eben die noch in den Wunden steckenden Glasscherbchen herausgenommen hat, meint, du hättest, zerschnitt das Glas eine Ader, einen steifen Arm behalten, oder dich gar verbluten können. Gott sei gedankt, dass ich um Mitternacht erwachend, und dich noch so spät vermissend, aufstand, und in die Wohnstube ging. Da lagst du dicht neben dem Glasschrank ohnmächtig auf der Erde und blutetest sehr. Bald wär ich vor Schreck auch ohnmächtig geworden. Da lagst du nun, und um dich her zerstreut erblickte ich viele von Fritzens bleiernen Soldaten und andere Puppen, zerbrochene Devisen, Pfefferkuchenmänner. Nussknacker lag aber auf deinem blutenden Arme und nicht weit von dir dein linker Schuh.
– Ach Mütterchen, Mütterchen, fiel Marie ein: sehen Sie wohl, das waren ja noch die Spuren von der großen Schlacht zwischen den Puppen und Mäusen, und nur darüber bin ich so sehr erschrocken, als die Mäuse den armen Nussknacker, der die Puppenarmee kommandierte, gefangen nehmen wollten. Da warf ich meinen Schuh unter die Mäuse und dann weiß ich weiter nicht was vorgegangen.
Der Chirurgus Wendelstern winkte der Mutter mit den Augen und diese sprach sehr sanft zu Marien:
– Lass es nur gut sein, mein liebes Kind, beruhige dich, die Mäuse sind alle fort und Nussknackerchen steht gesund und lustig im Glasschrank.
Nun trat der Medizinalrat ins Zimmer und sprach lange mit dem Chirurgus Wendelstern; dann fühlte er Mariens Puls und sie hörte wohl, dass von einem Wundfieber die Rede war. Sie musste im Bette bleiben und Arzenei nehmen und so dauerte es einige Tage, wiewohl sie außer einigem Schmerz am Arm sich eben nicht krank und unbehaglich fühlte. Sie wusste, dass Nussknackerchen gesund aus der Schlacht sich gerettet hatte, und es kam ihr manchmal wie im Traume vor, dass er ganz vernehmlich, wiewohl mit sehr wehmütiger Stimme sprach:
– Marie, teuerste Dame, Ihnen verdanke ich viel, doch noch mehr können Sie für mich tun!
Marie dachte vergebens darüber nach, was das wohl sein könnte, es fiel ihr durchaus nicht ein. Spielen konnte Marie gar nicht recht, wegen des wunden Arms, und wollte sie lesen, oder in den Bilderbüchern blättern, so flimmerte es ihr seltsam vor den Augen, und sie musste davon ablassen. So musste ihr nun wohl die Zeit recht herzlich lang werden, und sie konnte kaum die Dämmerung erwarten, weil dann die Mutter sich an ihr Bett setzte, und ihr sehr viel Schönes vorlas und erzählte. Eben hatte die Mutter die vorzügliche Geschichte vom Prinzen Fakardin vollendet, als die Türe aufging, und der Pate Drosselmeier mit den Worten hineintrat:
– Nun muss ich doch wirklich einmal selbst sehen, wie es mit der kranken und wunden Marie steht.
Sowie Marie den Paten Drosselmeier in seinem gelben Röckchen erblickte, kam ihr das Bild jener Nacht, als Nussknacker die Schlacht wider die Mäuse verlor, gar lebendig vor Augen, und unwillkürlich rief sie laut dem Obergerichtsrat entgegen:
– O Pate Drosselmeier, du bist recht hässlich gewesen, ich habe dich wohl gesehen, wie du auf der Uhr saßest, und sie mit deinen Flügeln bedecktest, dass sie nicht laut schlagen sollte, weil sonst die Mäuse verscheucht worden wären. Ich habe es wohl gehört, wie du dem Mausekönig riefest. Warum kamst du dem Nussknacker, warum kamst du mir nicht zu Hülfe, du hässlicher Pate Drosselmeier, bist du denn nicht allein schuld, dass ich verwundet und krank im Bette liegen muss?
Die Mutter fragte ganz erschrocken:
– Was ist dir denn, liebe Marie?
Aber der Pate Drosselmeier schnitt sehr seltsame Gesichter, und sprach mit schnarrender, eintöniger Stimme:
– Perpendikel musste schnurren, picken wollte sich nicht schicken. Uhren – Uhren – Uhrenperpendikel müssen schnurren – leise schnurren. Schlagen Glocken laut kling klang – Hink und Honk, und Honk und Hank – Puppenmädel sei nicht bang! Schlagen Glöcklein, ist geschlagen, Mausekönig fortzujagen, kommt die Eul im schnellen Flug – Pak und Pik, und Pik und Puk. Glöcklein bim bim – Uhren – schnurr schnurr – Perpendikel müssen schnurren, picken wollte sich nicht schicken – Schnarr und schnurr, und pirr und purr!
Marie sah den Paten Drosselmeier starr mit großen Augen an, weil er ganz anders, und noch viel hässlicher aussah, als sonst, und mit dem rechten Arm hin und her schlug, als würd er gleich einer Drahtpuppe gezogen. Es hätte ihr ordentlich grauen können vor dem Paten, wenn die Mutter nicht zugegen gewesen wäre, und wenn nicht endlich Fritz, der sich unterdessen hineingeschlichen, ihn mit lautem Gelächter unterbrochen hätte.
– Ei, Pate Drosselmeier, rief Fritz, du bist heute wieder auch gar zu possierlich, du gebärdest dich ja wie mein Hampelmann, den ich längst hinter den Ofen geworfen.
Die Mutter blieb sehr ernsthaft, und sprach:
– Lieber Herr Obergerichtsrat, das ist ja ein recht seltsamer Spaß, was meinen Sie denn eigentlich?
– Mein Himmel! erwiderte Drosselmeier lachend, kennen Sie denn nicht mehr mein hübsches Uhrmacherliedchen? Das pfleg ich immer zu singen bei solchen Patienten wie Marie.
Damit setzte er sich schnell dicht an Mariens Bette, und sprach:
– Sei nur nicht böse, dass ich nicht gleich dem Mausekönig alle vierzehn Augen ausgehackt, aber es konnte nicht sein, ich will dir auch statt dessen eine rechte Freude machen.
Der Obergerichtsrat langte mit diesen Worten in die Tasche, und was er nun leise, leise hervorzog, war der Nussknacker, dem er sehr geschickt die verlornen Zähnchen fest eingesetzt, und den lahmen Kinnbacken eingerenkt hatte. Marie jauchzte laut auf vor Freude, aber die Mutter sagte lächelnd:
– Siehst du nun wohl, wie gut es Pate Drosselmeier mit deinem Nussknacker meint?
– Du musst es aber doch eingestehen, Marie, unterbrach der Obergerichtsrat die Medizinalrätin, du musst es aber doch eingestehen, dass Nussknacker nicht eben zum besten gewachsen und sein Gesicht nicht eben schön zu nennen ist. Wie so eine Hässlichkeit in seine Familie gekommen und vererbt worden ist, das will ich dir wohl erzählen, wenn du es anhören willst. Oder weißt du vielleicht schon die Geschichte von der Prinzessin Pirlipat, der Hexe Mauserinks und dem künstlichen Uhrmacher?
– Hör mal, fiel hier Fritz unversehens ein, hör mal, Pate Drosselmeier, die Zähne hast du dem Nussknacker richtig eingesetzt und der Kinnbacken ist auch nicht mehr so wackelig, aber warum fehlt ihm das Schwert, warum hast du ihm kein Schwert umgehängt?
– Ei, erwiderte der Obergerichtsrat ganz unwillig, du musst an allem mäkeln und tadeln, Junge! Was geht mich Nussknackers Schwert an, ich habe ihn am Leibe kuriert, mag er sich nun selbst ein Schwert schaffen wie er will.
– Das ist wahr, rief Fritz, ist’s ein tüchtiger Kerl, so wird er schon Waffen zu finden wissen.
– Also Marie, fuhr der Obergerichtsrat fort, sage mir, ob du die Geschichte weißt von der Prinzessin Pirlipat?
– Ach nein, erwiderte Marie, erzähle, lieber Pate Drosselmeier, erzähle!
– Ich hoffe, sprach die Medizinalrätin, ich hoffe, lieber Herr Obergerichtsrat, dasss Ihre Geschichte nicht so graulich sein wird, wie gewöhnlich alles ist, was Sie erzählen.
– Mitnichten, teuerste Frau Medizinalrätin, erwiderte Drosselmeier, im Gegenteil ist das gar spaßhaft, was ich vorzutragen die Ehre haben werde.
– Erzähle, o erzähle, lieber Pate, so riefen die Kinder, und der Obergerichtsrat fing also an:
«Pirlipats Mutter war die Frau eines Königs, mithin eine Königin, und Pirlipat selbst in demselben Augenblick, als sie geboren wurde, eine geborne Prinzessin. Der König war außer sich vor Freude über das schöne Töchterchen, das in der Wiege lag, er jubelte laut auf, er tanzte und schwenkte sich auf einem Beine, und schrie ein Mal über das andere:
– Heisa! – hat man was Schöneres jemals gesehen, als mein Pirlipatchen?
Aber alle Minister, Generale und Präsidenten und Stabsofiziere sprangen, wie der Landesvater, auf einem Beine herum, und schrien sehr: ,Nein, niemals!’
Zu leugnen war es aber auch in der Tat gar nicht, dass wohl, solange die Welt steht, kein schöneres Kind geboren wurde, als eben Prinzessin Pirlipat. Ihr Gesichtchen war wie von zarten lilienweißen und rosenroten Seidenflocken gewebt, die Äugelein lebendige funkelnde Azure und es stand hübsch, dass die Löckchen sich in lauter glänzenden Goldfaden kräuselten. Dazu hatte Pirlipatchen zwei Reihen kleiner Perlzähnchen auf die Welt gebracht, womit sie zwei Stunden nach der Geburt dem Reichskanzler in den Finger biss, als er die Lineamente näher untersuchen wollte, so dass er laut aufschrie:
– Ojemine!
Andere behaupten, er habe: ,Au weh!’ geschrien, die Stimmen sind noch heutzutage darüber sehr geteilt.
Kurz, Pirlipatchen biss wirklich dem Reichskanzler in den Finger, und das entzückte Land wusste nun, dass auch Geist, Gemüt und Verstand in Pirlipats kleinem engelschönen Körperchen wohne. Wie gesagt, alles war vergnügt, nur die Königin war sehr ängstlich und unruhig, niemand wusste, warum? Vorzüglich fiel es auf, dass sie Pirlipats Wiege so sorglich bewachen ließ. Außerdem, dass die Türen von Trabanten besetzt waren, mussten, die beiden Wärterinnen dicht an der Wiege, abgerechnet noch sechs andere, Nacht für Nacht ringsumher in der Stube sitzen. Was aber ganz närrisch schien, und was niemand begreifen konnte, jede dieser sechs Wärterinnen musste einen Kater auf den Schoß nehmen, und ihn die ganze Nacht streicheln, dass er immerfort zu spinnen genötigt wurde. Es ist unmöglich, dass ihr, lieben Kinder, erraten könnt, warum Pirlipats Mutter all diese Anstalten machte, ich weiß es aber und will es euch gleich sagen.
Es begab sich, dass einmal an dem Hofe von Pirlipats Vater viele vortrefliche Könige und sehr angenehme Prinzen versammelt waren, weshalb es denn sehr glänzend herging und viel Ritterspiele, Komödien und Hofbälle gegeben wurden. Der König, um recht zu zeigen, dass es ihm an Gold und Silber gar nicht mangle, wollte nun einmal einen recht tüchtigen Griff in den Kronschatz tun, und was Ordentliches daraufgehen lassen. Er ordnete daher, zumal er von dem Oberhofküchenmeister insgeheim erfahren, dass der Hofastronom die Zeit des Einschlachtens angekündigt, einen großen Wurstschmaus an, warf sich in den Wagen und lud selbst sämtliche Könige und Prinzen nur auf einen Löffel Suppe ein, um sich der Überraschung mit dem Köstlichen zu erfreuen. Nun sprach er sehr freundlich zur Frau Königin:
– Dir ist ja schon bekannt, Liebchen, wie ich die Würste gern habe!
Die Königin wusste schon, was er damit sagen wollte, es hieß nämlich nichts anders, als sie selbst sollte sich, wie sie auch sonst schon getan, dem sehr nützlichen Geschäft des Wurstmachens unterziehen. Der Oberschatzmeister musste sogleich den großen goldnen Wurstkessel und die silbernen Kasserollen zur Küche abliefern; es wurde ein großes Feuer von Sandelholz angemacht, die Königin band ihre damastene Küchenschürze um, und bald dampften aus dem Kessel die süßen Wohlgerüche der Wurstsuppe. Bis in den Staatsrat drang der anmutige Geruch; der König, von innerem Entzücken erfasst, konnte sich nicht halten.
– Mit Erlaubnis, meine Herren! rief er, sprang schnell nach der Küche, umarmte die Königin, rührte etwas mit dem goldnen Szepter in dem Kessel und kehrte dann beruhigt in den Staatsrat zurück. Eben nun war der wichtige Punkt gekommen, dass der Speck in Würfel geschnitten und auf silbernen Rosten geröstet werden sollte. Die Hofdamen traten ab, weil die Königin dies Geschäft aus treuer Anhänglichkeit und Ehrfurcht vor dem königlichen Gemahl allein unternehmen wollte. Allein sowie der Speck zu braten anfing, ließ sich ein ganz feines wisperndes Stimmchen vernehmen:
– Von dem Brätlein gib mir auch, Schwester, will auch schmausen, bin ja auch Königin – gib mir von dem Brätlein!
Die Königin wusste wohl, dass es Frau Mauserinks war, die also sprach. Frau Mauserinks wohnte schon seit vielen Jahren in des Königs Palast. Sie behauptete, mit der königlichen Familie verwandt und selbst Königin in dem Reiche Mausolien zu sein, deshalb hatte sie auch eine große Hofhaltung unter dem Herde. Die Königin war eine gute mildtätige Frau, wollte sie daher auch sonst Frau Mauserinks nicht gerade als Königin und als ihre Schwester anerkennen, so gönnte sie ihr doch von Herzen an dem festlichen Tage die Schmauserei, und rief:
– Kommt nur hervor, Frau Mauserinks, Ihr möget immerhin von meinem Speck genießen.
Da kam auch Frau Mauserinks sehr schnell und lustig hervorgehüpft, sprang auf den Herd, und ergriff mit den zierlichen kleinen Pfötchen ein Stückchen Speck nach dem andern, das ihr die Königin hinlangte. Aber nun kamen alle Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks hervorgesprungen, und auch sogar ihre sieben Söhne, recht unartige Schlingel. Die machten sich über den Speck her, und nicht wehren konnte ihnen die erschrockene Königin. Zum Glück kam die Oberhofmeisterin dazu und verjagte die zudringlichen Gäste, so dass noch etwas Speck übrigblieb, welcher nach Anweisung des herbeigerufenen Hofmathematikers sehr künstlich auf alle Würste verteilt wurde. Pauken und Trompeten erschallten, alle anwesenden Potentaten und Prinzen zogen in glänzenden Feierkleidern zum Teil auf weißen Zeltern, zum Teil in kristallnen Kutschen zum Wurstschmause. Der König empfing sie mit herzlicher Freundlichkeit und Huld, und setzte sich dann, als Landesherr mit Kron und Szepter angetan, an die Spitze des Tisches. Schon in der Station der Leberwürste sah man, wie der König immer mehr und mehr erblasste, wie er die Augen gen Himmel hob, leise Seufzer entflohen seiner Brust, ein gewaltiger Schmerz schien in seinem Innern zu wühlen! Doch in der Station der Blutwürste sank er, laut schluchzend und ächzend, in den Lehnsessel zurück, er hielt beide Hände vors Gesicht, er jammerte und stöhnte.
Alles sprang auf von der Tafel, der Leibarzt bemühte sich vergebens des unglücklichen Königs Puls zu erfassen, ein tiefer, namenloser Jammer schien ihn zu zerreißen. Endlich, endlich, nach vielem Zureden, nach Anwendung starker Mittel, als da sind, gebrannte Federposen und dergleichen, schien der König etwas zu sich selbst zu kommen, er stammelte kaum hörbar die Worte: ’Zu wenig Speck.’ Da warf sich die Königin trostlos ihm zu Füßen und schluchzte:
– O, mein armer unglücklicher königlicher Gemahl! O, welchen Schmerz mussten Sie dulden! Aber sehen Sie hier die Schuldige zu Ihren Füßen! Strafen, strafen Sie sie hart! Ach, Frau Mauserinks mit ihren sieben Söhnen, Gevattern und Muhmen hat den Speck aufgefressen und damit fiel die Königin rücklings über in Ohnmacht. Aber der König sprang voller Zorn auf und rief laut:
– Oberhofmeisterin, wie ging das zu?
Die Oberhofmeisterin erzählte, soviel sie wusste und der König beschloss Rache zu nehmen an der Frau Mauserinks und ihrer Familie, die ihm den Speck aus der Wurst weggefressen hatten.
Der Geheime Staatsrat wurde berufen, man beschloss, der Frau Mauserinks den Prozess zu machen, und ihre sämtliche Güter einzuziehen; da aber der König meinte, dass sie unterdessen ihm doch noch immer den Speck wegfressen könnte, so wurde die ganze Sache dem Hofuhrmacher und Arkanisten übertragen. Dieser Mann, der ebenso hieß, als ich, nämlich Christian Elias Drosselmeier, versprach durch eine ganz besonders staatskluge Operation die Frau Mauserinks mit ihrer Familie auf ewige Zeiten aus dem Palast zu vertreiben. Er erfand auch wirklich kleine, sehr künstliche Maschinen, in die an einem Fädchen gebratener Speck getan wurde, und die Drosselmeier rings um die Wohnung der Frau Speckfresserin aufstellte.
Frau Mauserinks war viel zu weise, um nicht Drosselmeiers List einzusehen, aber alle ihre Warnungen, alle ihre Vorstellungen halfen nichts. Von dem süßen Geruch des gebratenen Specks verlockt, gingen alle sieben Söhne und viele, viele Gevattern und Muhmen der Frau Mauserinks in Drosselmeiers Maschinen hinein, und wurden, als sie eben den Speck wegnaschen wollten, durch ein plötzlich vorfallendes Gitter gefangen, dann aber in der Küche selbst schmachvoll hingerichtet. Frau Mauserinks verließ mit ihrem kleinen Häufchen den Ort des Schreckens. Gram, Verzweiflung, Rache erfüllte ihre Brust.
Der Hof jubelte sehr, aber die Königin war besorgt, weil sie die Gemütsart der Frau Mauserinks kannte, und wohl wusste, dass sie den Tod ihrer Söhne und Verwandten nicht ungerächt hingehen lassen würde.
In der Tat erschien auch Frau Mauserinks, als die Königin eben für den königlichen Gemahl einen Lungenmus bereitete, den er sehr gern aß, und sprach:
– Meine Söhne, meine Gevattern und Muhmen sind erschlagen, gib wohl acht, Frau Königin, dass Mausekönigin dir nicht dein Prinzeschen entzwei beißt – gib wohl acht. Darauf verschwand sie wieder, und ließ sich nicht mehr sehen, aber die Königin war so erschrocken, dass sie den Lungenmus ins Feuer fallen ließ, und zum zweiten Mal verdarb Frau Mauserinks dem Könige seine Lieblingsspeise, worüber er sehr zornig war.
Nun ist’s aber genug für heute Abend, künftig das Übrige.“
So sehr auch Marie, die bei der Geschichte ihre ganz eignen Gedanken hatte, den Pate Drosselmeier bat, doch nur ja weiterzuerzählen, so ließ er sich doch nicht erbitten, sondern sprang auf, sprechend:
– Zu viel auf einmal ist ungesund, morgen das Übrige.
Eben als der Obergerichtsrat im Begriff stand, zur Tür hinauszuschreiten, fragte Fritz:
– Aber sag mal, Pate Drosselmeier, ist’s denn wirklich wahr, dass du die Mausefallen erfunden hast?
– Wie kann man nur so albern fragen, rief die Mutter, aber der Obergerichtsrat lächelte sehr seltsam, und sprach leise:
– Bin ich denn nicht ein künstlicher Uhrmacher und sollt nicht einmal Mausefallen erfinden können.