In einer der Südprovinzen unseres schönen Sterns war ein grässliches Unglück geschehen. Ein von furchtbaren Gewitterstürmen und Überschwemmungen begleitetes Erdbeben hatte drei große Dörfer und alle ihre Gärten, Felder, Wälder und Pflanzungen beschädigt. Eine Menge von Menschen und Tieren war umgekommen, und, was am meisten traurig war, es fehlte durchaus an der notwendigen Menge von Blumen, um die Toten einzuhüllen und ihre Ruhestätten geziemend zu schmücken.
Für alles andere war natürlich sofort gesorgt worden. Boten mit dem großen Liebesruf hatten alsbald nach der schrecklichen Stunde die benachbarten Gegenden durcheilt, und von allen Türmen der ganzen Provinz hörte man die Vorsänger jenen rührenden und herzbewegenden Vers singen, der seit alters als der Gruß an die Göttin des Mitleids bekannt ist und dessen Tönen niemand widerstehen konnte. Es kamen aus allen Städten und Gemeinden her alsbald Züge von Mitleidigen und Hilfsbereiten herbei, und die Unglücklichen, welche das Dach über dem Haupte verloren hatten, wurden mit freundlichen Einladungen und Bitten überhäuft, hier und dort bei Verwandten, bei Freunden, bei Fremden Wohnung zu nehmen. Speise und Kleider, Wagen und Pferde, Werkzeuge, Steine und Holz und viele andere Dinge wurden von allen Seiten her zu Hilfe gebracht, und während die Greise, Weiber und Kinder noch von mildtätigen Händen tröstlich und gastlich hinweggeführt wurden, während man die Verletzten sorgfältig wusch und verband und unter den Trümmern nach den Toten suchte, da waren andere schon darangegangen, eingestürzte Dächer abzuräumen, wankende Mauern mit Balken abzustützen und alles Notwendige für den raschen Neubau vorzubereiten. Und obwohl von dem Unglück her noch ein Hauch von Grauen in den Lüften hing und von allen den Toten eine Mahnung zu Trauer und ehrerbietigem Schweigen ausging, war dennoch in allen Gesichtern und Stimmen eine freudige Bereitschaft und eine gewisse zarte Festlichkeit zu verspüren; denn die Gemeinsamkeit eines fleißigen Tuns und die erquickende Gewissheit, etwas so ungemein Notwendiges, etwas so Schönes und Dankenswertes zu tun, strömte in alle Herzen über. Anfangs war alles noch in Scheu und Schweigen geschehen, bald aber wurde da und dort eine fröhliche Stimme, ein leise zur gemeinsamen Arbeit gesungenes Lied hörbar, und wie man sich denken kann, waren unter allem, was gesungen wurde, obenan die beiden alten Spruchverse: »Selig, Hilfe zu bringen dem frisch von der Not Überfallenen; trinkt nicht sein Herz die Wohltat wie ein dürrer Garten den ersten Regen, und gibt Antwort in Blumen der Dankbarkeit?« Und jener andere: »Heiterkeit Gottes strömt aus gemeinsamem Handeln.«
Aber nun entstand ebenjener beklagenswerte Mangel an Blumen. Die Toten zwar, die man zuerst gefunden hatte, waren mit den Blumen und Zweigen geschmückt worden, welche man noch aus den zerstörten Gärten gesammelt hatte. Dann hatte man begonnen, aus den benachbarten Orten alle erreichbaren Blumen zu holen. Aber dies war eben das besondere Unglück, dass gerade die drei zerstörten Gemeinden die größten und schönsten Gärten für die Blumen dieser Jahreszeit besessen hatten. Hierher war man in jedem Jahre gekommen, um die Narzissen und die Krokus zu sehen, deren es nirgends sonst solche unabsehbare Mengen gab und so gepflegte, wunderbar gefärbte Arten; und das alles war nun zerstört und verdorben. So stand man bald ratlos und wusste nicht, wie man an allen diesen Toten das Gebot der Sitte erfüllen sollte, welches doch verlangt, dass jeder gestorbene Mensch und jedes gestorbene Tier festlich mit den Blumen der Jahreszeit geschmückt und dass seine Bestattung desto reicher und prangender begangen werde, je plötzlicher und trauriger einer ums Leben gekommen ist.
Der Älteste der Provinz, der als einer der ersten von den Hilfebringenden in seinem Wagen erschienen war, fand sich bald so sehr von Fragen, Bitten und Klagen bestürmt, dass er Mühe hatte, seine Ruhe und Heiterkeit zu bewahren. Aber er hielt sein Herz in festen Händen, seine Augen blieben hell und freundlich, seine Stimme klar und höflich und seine Lippen unter dem weißen Barte vergaßen nicht einen Augenblick das stille und gütige Lächeln, das ihm als einem Weisen und Ratgeber anstand.
»Meine Freunde«, sagte er, »es ist ein Unglück über uns gekommen, mit welchem die Götter uns prüfen wollen. Alles, was hier vernichtet ist, werden wir unsern Brüdern bald wieder aufbauen und zurückgeben können, und ich danke den Göttern, dass ich im hohen Alter dieses noch erleben durfte, wie ihr alle gekommen seid und das Eure habt liegenlassen, um unsern Brüdern zu helfen. Wo aber nehmen wir nun die Blumen her, um alle diese Toten schön und anständig für das Fest ihrer Verwandlung zu schmücken? Denn es darf, solange wir da sind und leben, nicht geschehen, dass ein einziger von diesen müden Pilgern ohne sein richtiges Blumenopfer begraben werde. Dies ist ja wohl eure Meinung.«
»Ja«, riefen alle, »das ist auch unsere Meinung.«
»Ich weiß es«, sagte der Älteste mit seiner väterlichen Stimme. »Ich will nun sagen, was wir tun müssen, ihr Freunde. Wir müssen alle jene Ermüdeten, welche wir heute nicht begraben können, in den großen Sommertempel hoch ins Gebirge bringen, wo jetzt noch der Schnee liegt. Dort sind sie sicher und werden sich nicht verändern, bis ihre Blumen herbeigeschaft sind. Aber da ist nur einer, der uns zu so vielen Blumen in dieser Jahreszeit verhelfen könnte. Das kann nur der König. Darum müssen wir einen von uns zum König senden, dass er ihn um Hilfe bitte.«
Und wieder nickten alle und riefen: »Ja, ja, zum König!«
»So ist es«, fuhr der Älteste fort, und unter dem weißen Bart sah jedermann mit Freude sein schönes Lächeln glänzen. »Wen aber sollen wir zum König schicken? Er muss jung und rüstig sein, denn der Weg ist weit, und wir müssen ihm unser bestes Pferd mitgeben. Er muss aber auch hübsch und guten Herzens sein und viel Glanz in den Augen haben, damit ihm das Herz des Königs nicht widerstehen kann. Worte braucht er nicht viele zu sagen, aber seine Augen müssen reden können. Am besten wäre es wohl, ein Kind zu senden, das hübscheste Kind aus der Gemeinde, aber wie könnte das eine solche Reise tun? Ihr müsset mir helfen, meine Freunde, und wenn einer da ist, der die Botschaft auf sich nehmen will, oder wenn jemand einen kennt und weiß, so bitte ich ihn, es zu sagen.«
Der Älteste schwieg und blickte mit seinen hellen Augen umher, es trat aber niemand vor, und keine Stimme meldete sich.
Als er seine Frage nochmals und zum drittenmal wiederholte, da kam ihm aus der Menge ein Jüngling entgegen, sechzehn Jahre alt und beinahe noch ein Knabe. Er schlug die Augen zu Boden und wurde rot, als er den Ältesten begrüßte.
Der Älteste sah ihn an und sah im Augenblick, dass dieser der rechte Bote sei. Aber er lächelte und sagte: »Das ist schön, dass du unser Bote sein willst. Aber wie kommt es denn, dass unter all diesen vielen gerade du es bist, der sich anbietet?«
Da hob der Jüngling seine Augen zu dem alten Manne auf und sagte: »Wenn kein andrer da ist, der gehen will, so lasset mich gehen.«
Einer aus der Menge aber rief: »Schicket ihn, Ältester, wir kennen ihn. Er stammt aus diesem Dorfe hier, und das Erdbeben hat seinen Blumengarten verwüstet, es war der schönste Blumengarten in unserm Ort.«
Freundlich blickte der Alte dem Knaben in die Augen und fragte: »Tut es dir so leid um deine Blumen?«
Der Jüngling gab ganz leise Antwort: »Es tut mir leid, aber nicht darum habe ich mich gemeldet. Ich habe einen lieben Freund gehabt, und auch ein junges schönes Lieblingspferd, die sind beide im Erdbeben umgekommen, und sie liegen in unsrer Halle, und es müssen Blumen da sein, damit sie begraben werden können.«
Der Älteste segnete ihn mit aufgelegten Händen, und alsbald wurde das beste Pferd für ihn ausgesucht, und er sprang augenblicklich auf den Rücken des Pferdes, klopfte ihm den Hals und nickte Abschied, dann sprengte er aus dem Dorfe und quer über die nassen und verwüsteten Felder hin von dannen.
Den ganzen Tag war der Jüngling geritten. Um schneller zu der fernen Hauptstadt und zum König zu kommen, schlug er den Weg über die Gebirge ein, und am Abend, als es zu dunkeln anfing, führte er sein Ross am Zügel einen steilen Weg durch Wald und Felsen hinan.
Ein großer dunkler Vogel, wie er noch keinen gesehen hatte, flog ihm voraus, und er folgte ihm, bis der Vogel sich auf dem Dache eines kleinen offenen Tempels niederließ. Der Jüngling ließ sein Ross im Waldgras stehen und trat zwischen den hölzernen Säulen in das einfache Heiligtum. Als Opferstein fand er nur einen Felsblock aufgestellt, einen Block aus schwarzem Gestein, wie man es in der Gegend nicht fand, und darauf das seltene Sinnbild einer Gottheit, die der Bote nicht kannte: ein Herz, an welchem ein wilder Vogel fraß.
Er bezeigte der Gottheit seine Ehrfurcht und brachte als Opfergabe eine blaue Glockenblume dar, die er am Fuß des Berges gepflückt und in sein Kleid gesteckt hatte. Alsdann legte er sich in einer Ecke nieder, denn er war sehr müde und gedachte zu schlafen.
Aber er konnte den Schlaf nicht finden, der sonst jeden Abend ungerufen an seinem Lager stand. Die Glockenblume auf dem Felsen, oder der schwarze Stein selbst, oder was es sonst war, strömte einen sonderbar tiefen und schmerzlichen Duft aus, das unheimliche Sinnbild des Gottes schimmerte geisterhaft in der finstern Halle, und auf dem Dache saß der fremde Vogel und schlug von Zeit zu Zeit gewaltig mit seinen ungeheuren Flügeln, dass es rauschte wie Sturm in den Bäumen.
So kam es, dass mitten in der Nacht sich der Jüngling erhob und aus dem Tempel trat und zu dem Vogel emporschaute. Der schlug mit den Flügeln und blickte den Jüngling an.
»Warum schläfst du nicht?« fragte der Vogel.
»Ich weiß nicht«, sagte der Jüngling. »Vielleicht, weil ich Leid erfahren habe.«
»Was für ein Leid hast du denn erfahren?«
»Mein Freund und mein Lieblingsross sind beide umgekommen.«
»Ist denn Sterben so schlimm?« fragte der Vogel höhnend.
»Ach nein, großer Vogel, es ist nicht so schlimm, es ist nur ein Abschied, aber nicht darüber bin ich traurig. Schlimm ist, dass wir meinen Freund und mein schönes Pferd nicht begraben können, weil wir gar keine Blumen mehr haben.«
»Es gibt Schlimmeres als dies«, sagte der Vogel, und seine Flügel rauschten unwillig.
»Nein, Vogel, Schlimmeres gibt es gewiss nicht. Wer ohne Blumenopfer begraben wird, dem ist es verwehrt, nach seines Herzens Wunsche wiedergeboren zu werden. Und wer seine Toten begräbt und feiert nicht das Blumenfest dazu, der sieht die Schatten seiner Gestorbenen im Traum. Du siehst, schon kann ich nicht mehr schlafen, weil meine Toten noch ohne Blumen sind.«
Der Vogel schnarrte kreischend mit dem gebogenen Schnabel. »Junger Knabe, du weißt nichts von Leid, wenn du sonst nichts erfahren hast als dieses. Hast du denn nie von den großen Übeln reden hören? Vom Hass, vom Mord, von der Eifersucht?«
Der Jüngling, da er diese Worte aussprechen hörte, glaubte zu träumen. Dann besann er sich und sagte bescheiden: »Wohl, du Vogel, ich erinnere mich; davon steht in den alten Geschichten und Märchen geschrieben. Aber das ist ja außerhalb der Wirklichkeit, oder vielleicht war es einmal vor langer Zeit so auf der Welt, als es noch keine Blumen und noch keine guten Götter gab. Wer wird daran denken!«
Der Vogel lachte leise mit seiner scharfen Stimme. Dann reckte er sich höher und sagte zu dem Knaben: »Und nun willst du also zum König gehen, und ich soll dir den Weg zeigen?«
»Oh, du weißt es schon«, rief der Jüngling freudig. »Ja, wenn du mich führen willst, so bitte ich dich darum.«
Da senkte sich der große Vogel lautlos auf den Boden nieder, breitete seine Flügel lautlos auseinander und befahl dem Jüngling sein Pferd hier zurückzulassen und mit ihm zum König zu fahren.
Der Königsbote setzte sich und ritt auf dem Vogel. »Schließe die Augen!« befahl der Vogel, und er tat es, und sie flogen durch die Finsternis des Himmels lautlos und weich wie Eulenflug, nur die kalte Luft brauste an des Boten Ohren. Und sie flogen und flogen die ganze Nacht.
Als es früh am Morgen war, da hielten sie still, und der Vogel rief: »Tu deine Augen auf!« Und der Jüngling tat seine Augen auf. Da sah er, dass er am Rande eines Waldes stand, und unter ihm in der ersten Morgenhelle die glänzende Ebene, dass ihr Licht ihn blendete.
»Hier am Walde findest du mich wieder«, rief der Vogel. Er schoss in die Höhe wie ein Pfeil und war alsbald im Blauen verschwunden.
Seltsam war es dem jungen Boten, als er vom Walde in die weite Ebene hineinwanderte. Alles rings um ihn her war so verändert und verwandelt, dass er nicht wusste, ob er wach oder im Traume sei. Wiesen und Bäume standen ähnlich wie daheim, und Sonne schien, und Wind spielte in blühenden Gräsern, aber nicht Mensch noch Tier, nicht Haus noch Garten war zu sehen, sondern es schien hier gerade wie in des Jünglings Heimat ein Erdbeben gewütet zu haben; denn Trümmer von Gebäuden, zerbrochene Äste und umgerissene Bäume, zerstörte Zäune und verlorene Werkzeuge der Arbeit lagen am Boden verstreut, und plötzlich sah er da, mitten im Felde, einen toten Menschen liegen, der war nicht bestattet worden und lag grauenhaft in halber Verwesung. Der Jüngling fühlte bei diesem Anblick ein tiefes Grauen und einen Hauch von Ekel in sich aufsteigen, denn nie hatte er so etwas gesehen. Dem Toten war nicht einmal das Gesicht bedeckt, es schien von den Vögeln und von der Fäulnis schon halb zerstört, und der Jüngling brach mit abgewandten Blicken grüne Blätter und einige Blumen und deckte damit das Angesicht des Toten zu.
Ein namenlos scheußlicher und herzbeklemmender Geruch lag lau und zäh über der ganzen Ebene. Wieder lag ein Toter im Grase, von Rabenflug umkreist, und ein Pferd ohne Kopf, und Knochen von Menschen oder Tieren, und alle lagen verlassen in der Sonne, niemand schien an Blumenfest und Bestattung zu denken. Der Jüngling fürchtete, es möchte am Ende unausdenkliches Unglück alle und jeden Menschen in diesem Lande getötet haben, und es waren der Toten so manche, dass er aufhören musste, ihnen Blumen zu brechen und das Gesicht zu bedecken. Ängstlich, mit halbgeschlossenen Augen wanderte er weiter, und von allen Seiten strömte Aasgestank und Blutgeruch, und von tausend Trümmerstätten und Leichenstätten her flutete eine immer mächtigere Woge von unsäglichem Jammer und Leid. Der Bote meinte in einem argen Traume befangen zu sein und fühlte darin eine Mahnung der Himmlischen, weil seine Toten noch ohne Blumenfest und ohne Begräbnis waren. Da kam ihm wieder in den Sinn, was heute nacht der dunkle Vogel auf dem Dach des Tempels gesprochen hatte, und er meinte wieder seine scharfe Stimme zu hören, wie er sagte: »Es gibt viel Schlimmeres.«
Nun erkannte er, dass der Vogel ihn auf einen anderen Stern gebracht habe und dass alles das, was seine Augen sahen, Wirklichkeit und Wahrheit sei. Er erinnerte sich an das Gefühl, mit dem er einigemal als Knabe schaurige Märchen aus der Urzeit hatte erzählen hören. Dieses nämliche Gefühl empfand er jetzt wieder: ein fröstelndes Grausen, und hinter dem Grausen einen stillen frohen Trost im Herzen, denn dies alles war ja unendlich fern und lang vergangen. Alles war hier wie ein Gruselmärchen, diese ganze seltsame Welt der Greuel und Leichen und Aasvögel schien ohne Sinn und ohne Zucht unverständlichen Regeln Untertan, tollen Regeln, nach welchen immer das Schlechte, das Törichte, das Hässliche geschah statt des Schönen und Guten.
Indessen sah er nun einen lebendigen Menschen über das Feld gehen, einen Bauern oder Knecht, und er lief schnell zu ihm hinüber und rief ihn an. Als er ihn in der Nähe sah, erschrak der Jüngling, und sein Herz wurde von Mitleid überfallen, denn dieser Bauer sah furchtbar hässlich und kaum mehr wie ein Kind der Sonne aus. Er sah aus wie ein Mensch, der daran gewöhnt war, nur an sich selber zu denken, der daran gewöhnt war, dass überall stets das Falsche, das Hässliche und Schlimme geschah, wie ein Mensch, der immerfort in grauenvollen Angstträumen lebte. In seinen Augen und in seinem ganzen Gesicht und Wesen war nichts von Heiterkeit oder Güte, nichts von Dankbarkeit und Vertrauen, jede einfachste und selbstverständliche Tugend schien diesem Unglücklichen zu mangeln.
Aber der Jüngling nahm sich zusammen, er näherte sich dem Menschen mit großer Freundlichkeit, als einem vom Unglück Gezeichneten, grüßte ihn brüderlich und redete ihn mit Lächeln an. Der Hässliche stand wie erstarrt und blickte verwundert aus großen, trüben Augen. Seine Stimme war roh und ohne Musik wie das Gebrüll niederer Wesen; aber es war ihm doch nicht möglich, der Heiterkeit und dem demütigen Vertrauen in des Jünglings Blick zu widerstehen. Und als er eine Weile auf den Fremdling gestarrt hatte, brach aus seinem zerklüfteten und rohen Gesicht eine Art von Lächeln oder Grinsen – hässlich genug, aber sanft und erstaunt, wie das erste kleine Lächeln einer wiedergeborenen Seele, die soeben aus dem untersten Bezirk der Erde gekommen wäre.
»Was willst du von mir?« fragte der Mensch den fremden Jüngling.
Nach der heimatlichen Sitte gab der Jüngling Antwort: »Ich danke dir, Freund, und ich bitte dich, mir zu sagen, ob ich dir einen Dienst erweisen kann.«
Als der Bauer schwieg und staunte und verlegen lächelte, fragte ihn der Bote: »Sag mir, Freund, was ist das hier, dieses Entsetzliche und Furchtbare?« und wies mit der Hand ringsum.
Der Bauer bemühte sich, ihn zu verstehen, und als der Bote seine Frage wiederholt hatte, sagte er: »Hast du das nie gesehen? Das ist der Krieg. Das ist ein Schlachtfeld.« Er zeigte auf einen schwarzen Trümmerhaufen und rief: »Das da war mein Haus«, und als der Fremde ihm voll herzlicher Teilnahme in die unreinen Augen blickte, schlug er sie nieder und sah zu Boden.
»Habt ihr keinen König?« fragte nun der Jüngling weiter, und als der Bauer bejahte, fragte er: »Wo ist er denn?« Der Mensch wies mit der Hand hinüber, wo ganz in der Weite ein Zeltlager klein und fern zu sehen war. Da nahm der Bote Abschied, indem er seine Hand auf des Menschen Stirn legte, und ging weiter. Der Bauer aber befühlte seine Stirn mit beiden Händen, schüttelte bekümmert den schweren Kopf und stand noch lange Zeit und starrte dem Fremden nach.
Der lief und lief über Schutt und Greuel hinweg, bis er an dem Zeltlager angekommen war. Da standen und liefen bewaffnete Männer überall, niemand wollte ihn sehen, und er ging zwischen den Menschen und Zelten hindurch, bis er das größte und schönste Zelt des Lagers fand, welches das Zelt des Königs war. Da ging er hinein.
Im Zelte saß auf einem einfachen niedern Lager der König, sein Mantel lag neben ihm, und hinten im tieferen Schatten hockte ein Diener, der war eingeschlafen. Der König saß gebeugt in tiefen Gedanken. Sein Gesicht war schön und traurig, ein Büschel grauen Haares hing über seine gebräunte Stirn, sein Schwert lag vor ihm am Boden.
Der Jüngling grüßte stumm in tiefer Ehrerbietung, wie er seinen eigenen König begrüßt hätte, und er blieb wartend mit auf der Brust gekreuzten Armen stehen, bis der König ihn erblickte.
»Wer bist du?« fragte er streng und zog die dunklen Brauen zusammen, aber sein Blick blieb an den reinen und heitern Zügen des Fremden hängen, und der Jüngling blickte ihn so vertrauensvoll und freundlich an, dass des Königs Stimme milder wurde.
»Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte er nachsinnend, »oder du gleichst jemand, den ich in meiner Kindheit kannte.«
»Ich bin ein Fremder«, sagte der Bote.
»Dann ist es ein Traum gewesen«, sagte leise der König. »Du erinnerst mich an meine Mutter. Sprich zu mir. Erzähle mir.«
Der Jüngling begann: »Ein Vogel hat mich hergebracht. In meinem Lande war ein Erdbeben, da wollten wir unsre Toten bestatten, und keine Blumen waren da.«
»Keine Blumen?« sagte der König.
»Nein, gar keine Blumen mehr. Und nicht wahr, es ist doch schlimm, wenn man einen Toten bestatten soll und kann ihm kein Blumenfest feiern; denn er soll doch in Pracht und Freuden zu seiner Verwandlung eingehen.«
Da fiel dem Boten plötzlich ein, wie viele noch nicht bestattete Toten draußen auf dem schrecklichen Felde lagen, und er hielt inne, und der König sah ihn an und nickte und seufzte schwer.
»Ich wollte zu unserm König gehen und ihn um viele Blumen bitten«, fuhr der Bote fort, »aber als ich im Tempel auf dem Gebirge war, da kam der große Vogel und sagte, er wolle mich zum König bringen, und er brachte mich durch die Lüfte zu dir. Oh, lieber König, es war der Tempel einer unbekannten Gottheit, auf dessen Dach der Vogel saß, und ein höchst seltsames Sinnbild hatte dieser Gott auf seinem Steine stehen: ein Herz, und an dem Herzen fraß ein wilder Vogel. Mit jenem großen Vogel aber hatte ich in der Nacht ein Gespräch, und erst jetzt kann ich seine Worte verstehen, denn er sagte, es gebe viel, viel mehr Leid und Schlimmes in der Welt, als ich wüsste. Und nun bin ich hier und bin über das große Feld hergekommen und habe in diesen Stunden unendliches Leid und Unglück gesehen, ach, viel mehr, als in unsren grausigsten Märchen steht. Da bin ich zu dir gekommen, o König, und ich möchte dich fragen, ob ich dir irgendeinen Dienst erweisen kann.«
Der König, welcher aufmerksam zugehört hatte, versuchte zu lächeln, aber sein schönes Gesicht war so ernst und so bitter traurig, dass er nicht lächeln konnte.
»Ich danke dir«, sagte er, »du kannst mir einen Dienst erweisen. Du hast mich an meine Mutter erinnert, dafür danke ich dir.«
Der Jüngling war betrübt darüber, dass der König nicht lächeln konnte. »Du bist so traurig«, sagte er zu ihm, »ist das wegen dieses Krieges?»
»Ja«, sagte der König.
Der Jüngling konnte sich nicht enthalten, diesem tief bedrückten und doch, wie er spürte, edlen Menschen gegenüber eine Regel der Höflichkeit zu verletzen, indem er ihn fragte: »Aber sage mir, ich bitte darum, warum ihr denn auf eurem Sterne solche Kriege führt? Wer hat denn Schuld daran? Hast du selbst eine Schuld daran?«
Der König starrte lange auf den Boten, er schien über die Dreistigkeit seiner Frage unwillig. Doch vermochte er nicht, seinen finstern Blick lange in dem hellen und arglosen Blick des Fremden zu spiegeln.
»Du bist ein Kind«, sagte der König, »und das sind Dinge, die du nicht verstehen könntest. Der Krieg ist niemandes Schuld, er kommt von selber wie Sturm und Blitz, und wir alle, die ihn kämpfen müssen, wir sind nicht seine Anstifter, wir sind nur seine Opfer.«
»Dann sterbet ihr wohl sehr leicht?« fragte der Jungling. »Bei uns in der Heimat ist zwar der Tod nicht eben sehr gefürchtet, und die meisten gehen willig, und viele gehen freudig zur Verwandlung ein: doch würde niemals ein Mensch es wagen, einen ändern zu töten. Auf eurem Stern muss das anders sein.«
Der König schüttelte den Kopf. »Bei uns wird zwar nicht selten getötet«, sagte er, »doch sehen wir das als das schwerste Verbrechen an. Einzig im Kriege ist es erlaubt, weil im Kriege keiner aus Hass oder Neid zum eignen Vorteil tötet, sondern alle nur das tun, was die Gemeinschaft von ihnen verlangt. Aber es ist ein Irrtum, wenn du glaubst, sie stürben leicht. Wenn du in die Gesichter unsrer Toten schaust, kannst du es sehen. Sie sterben schwer, sie sterben schwer und widerwillig.«
Der Jüngling hörte dies alles an und erstaunte über die Traurigkeit und Schwere des Lebens, das auf diesem Stern die Menschen zu führen schienen. Viele Fragen hätte er noch stellen mögen, aber er fühlte deutlich voraus, dass er den ganzen Zusammenhang dieser dunklen und schrecklichen Dinge nie begreifen würde, ja er fühlte in sich auch nicht den vollen Willen, sie zu verstehen. Entweder waren diese Beklagenswerten Wesen einer niedern Ordnung, waren noch ohne die lichten Götter und wurden von Dämonen regiert, oder aber, es war auf diesem Sterne ein eignes Missgeschick, ein Fehler und Irrtum waltend. Und es schien ihm allzu peinlieh und grausam, diesen König weiter auszufragen und ihn zu Antworten und Bekenntnissen zu nötigen, deren jedes nur bitter und demütigend sein konnte. Diese Menschen, welche in dunkler Bangigkeit vor dem Tode lebten und dennoch einander in Menge erschlugen, diese Menschen, deren Gesichter einer so würdelosen Roheit fähig waren wie das des Bauern, und einer so tiefen und furchtbaren Trauer wie das des Königs, sie taten ihm leid und schienen ihm doch sonderbar und beinahe lächerlich, auf eine betrübende und beschämende Art lächerlich und töricht.
Aber eine Frage konnte er dennoch nicht unterdrücken. Wenn diese armen Wesen hier Zurückgebliebene waren, verspätete Kinder, Söhne eines späten friedlosen Sternes, wenn das Leben dieser Menschen so als ein zuckender Krampf verlief und in verzweifelten Totschlägen endete, wenn sie ihre Toten auf den Feldern liegenließen, ja sie vielleicht auffraßen – denn auch davon war in einigen jener Schreckensmärchen aus der Vorzeit die Rede, – so musste doch immerhin eine Ahnung der Zukunft, ein Traum von den Göttern, etwas wie ein Keim von Seele in ihnen vorhanden sein. Sonst wäre diese ganze unschöne Welt ja nur ein Irrtum und ohne Sinn gewesen.
»Verzeihe, König«, sagte der Jüngling mit schmeichelnder Stimme, »verzeihe, wenn ich noch eine Frage an dich richte, ehe ich dein merkwürdiges Land wieder verlasse.«
»Frage nur!« lud der König ein, dem es mit diesem Fremdling sonderbar erging; denn er erschien ihm in vielen Dingen wie ein feiner, reifer und unübersehbar geweiteter Geist, in ändern aber wie ein kleines Kind, das man schonen muss und nicht ganz ernst nimmt.
»Du fremder König«, war nun des Boten Rede, »du hast mich traurig gemacht. Sieh, ich komme aus einem ändern Lande, und der große Vogel auf dem Dache des Tempels hat recht gehabt: es gibt hier bei euch unendlich viel mehr Jammer, als ich mir hätte erdenken können. Ein Traum der Angst scheint euer Leben zu sein, und ich weiß nicht, ob ihr von Göttern oder Dämonen regiert werdet. Sieh, König, bei uns ist eine Sage, und ich habe sie früher für Märchenwust und leeren Rauch gehalten, es ist eine Sage, dass einstmals auch bei uns solche Dinge bekannt gewesen seien wie Krieg und Mord und Verzweiflung. Diese schaudervollen Worte, welche unsre Sprache seit langem nicht mehr kennt, lesen wir in den alten Märchenbüchern, und sie klingen uns grausig und auch ein wenig lächerlich. Heute habe ich gelernt, dass dies alles Wirklichkeit ist, und ich sehe dich und die Deinigen das tun und erleiden, was ich nur aus den schrecklichen Sagen der Vorzeit gekannt hatte. Aber nun sage mir: Habt ihr nicht in eurer Seele eine Ahnung, dass ihr nicht das Richtige tuet? Habt ihr nicht eine Sehnsucht nach hellen, heitern Göttern, nach verständigen und fröhlichen Führern und Lenkern? Träumet ihr niemals im Schlaf von einem ändern und schönern Leben, wo keiner will, was nicht alle wollen, wo Vernunft und Ordnung herrscht, wo die Menschen einander nicht anders begegnen als mit Heiterkeit und Schonung? Habt ihr niemals den Gedanken gedacht, es möchte die Welt ein Ganzes sein, und es möchte beglückend und heilend sein, das Ganze ahnend zu verehren und ihm in Liebe zu dienen? Wißt ihr denn nichts von dem, was wir bei uns Musik nennen, und Gottesdienst, und Seligkeit?«
Der König hatte beim Anhören dieser Worte sein Haupt gesenkt. Als er es nun erhob, da war sein Gesicht verwandelt und mit einem Schimmer von Lächeln umglänzt, obwohl ihm Tränen in den Augen standen.
»Schöner Knabe«, sagte der König, »ich weiß nicht recht, ob du ein Kind oder ein Weiser oder vielleicht eine Gottheit bist. Aber ich kann dir Antwort geben, dass wir das alles kennen und in der Seele tragen, wovon du sprachest. Wir ahnen Glück, wir ahnen Freiheit, wir ahnen Götter. Wir haben eine Sage von einem Weisen der Vorzeit, er habe die Einheit der Welt als einen harmonischen Zusammenklang der Himmelsräume vernommen. Genügt dir dies? Sieh, vielleicht bist du ein Seliger aus dem Jenseits, aber du magst Gott selber sein, so ist doch in deinem Herzen kein Glück, keine Macht, kein Wille, davon nicht eine Ahnung und ein Widerschein und ferner Schatten auch in unsern Herzen lebte.«
Und plötzlich richtete er sich in die Höhe, und der Jüngling stand überrascht, denn einen Augenblick war des Königs Gesicht in ein helles, schattenloses Lächeln getaucht wie in Morgenschein.
»Geh nun«, rief er dem Boten zu, »geh und lass uns kriegen und morden! Du hast mir das Herz weich gemacht, du hast mich an meine Mutter erinnert. Genug, genug davon, du lieber hübscher Knabe. Geh nun und fliehe, ehe die neue Schlacht beginnt! Ich werde an dich denken, wenn das Blut fließt und die Städte brennen, und ich werde daran denken, dass die Welt ein Ganzes ist, davon unsre Torheit und unser Zorn und unsre Wildheit uns doch nicht abtrennen kann. Leb wohl, und grüße mir deinen Stern, und grüße mir jene Gottheit, deren Sinnbild ein Herz ist, daran der Vogel frisst! Ich kenne dies Herz und kenne den Vogel wohl. Und merke dir, mein hübscher Freund aus der Ferne: Wenn du an deinen Freund, den armen König im Kriege denkst, so denke nicht an ihn, wie er auf dem Lager saß und in Trauer versunken war, sondern denke an ihn, wie er mit den Tränen im Auge und mit dem Blut an den Händen gelächelt hat!«
Der König hob das Zelttuch, ohne den Diener zu wecken, mit eigener Hand und ließ den Fremden hinaustreten. In neuen Gedanken schritt der Jüngling über die Ebene zurück, und sah im Abendschein am Rande des Himmels eine große Stadt in Flammen stehen, und stieg über tote Menschen und zerfallene Leichen von Pferden hinweg, bis es dunkel ward und er den Rand des Waldgebirges erreichte.
Da senkte sich auch schon der große Vogel aus den Wolken herab, er nahm ihn auf seine Flügel, und sie flogen durch die Nacht zurück, lautlos und weich wie Eulenflug.
Als der Jüngling aus einem unruhigen Schlaf erwachte, lag er in dem kleinen Tempel im Gebirge, und vor dem Tempel stand im feuchten Grase sein Pferd und wieherte dem Tage entgegen. Von dem großen Vogel aber und von seiner Reise nach einem fremden Stern, von dem König und von dem Schlachtfeld wusste er nichts mehr. Es war nur ein Schatten in seiner Seele geblieben, ein kleiner verborgener Schmerz wie ein feiner Dorn, so wie hilfloses Mitleid schmerzt, und ein kleiner, unbefriedigter Wunsch, wie er in Träumen uns quälen kann, bis wir endlich dem begegnen, dem Liebe zu erzeigen, dessen Freude zu teilen, dessen Lächeln zu sehen unser heimliches Verlangen war.
Der Bote stieg zu Pferde und ritt den ganzen Tag und kam in die Hauptstadt zu seinem Könige, und es zeigte sich, dass er der rechte Bote gewesen war. Denn der König empfing ihn mit dem Gruß der Gnade, indem er seine Stirn berührte und ihm zurief: »Deine Augen haben zu meinem Herzen gesprochen, und mein Herz hat ja gesagt. Deine Bitte hat sich erfüllt, noch ehe ich sie angehört habe.«
Alsbald erhielt der Bote einen Freibrief des Königs, dass ihm alle Blumen des ganzen Landes, deren er bedürfte, zu Gebote ständen, und Begleiter und Boten zogen mit, und Pferde und Wagen schlössen sich ihnen an, und als er, das Gebirge umgehend, nach wenigen Tagen auf der ebenen Landstraße in seine Provinz und seine Gemeinde heimkehrte, da führte er Wagen und Karren und Körbe, Pferde und Maultiere mit sich, und alles war beladen mit den schönsten Blumen aus Gärten und aus Treibhäusern, deren es im Norden viele gab, und es waren ihrer genug vorhanden, sowohl um die Körper der Toten zu bekränzen und ihre Grabstätten reichlich zu schmücken, wie auch um für eines jeden Toten Andenken eine Blume, einen Strauch und einen jungen Fruchtbaum zu pflanzen, wie es die Sitte erfordert. Und der Schmerz um seinen Freund und sein Lieblingspferd wich von ihm und sank im stillen heitern Angedenken unter, nachdem er auch sie geschmückt und begraben und über ihren Stätten zwei Blumen, zwei Büsche und zwei Fruchtbäume gepflanzt hatte.
Nachdem er so seinem Herzen Genüge getan und seine Pflichten erfüllt hatte, begann die Erinnerung an die Reise in jener Nacht sich in seiner Seele zu rühren, und er bat seine Nächsten um einen Tag der Einsamkeit und saß unter dem Gedankenbaum einen Tag und eine Nacht, und breitete die Bilder dessen, was er auf dem fremden Stern gesehen, rein und faltenlos in seinem Gedächtnis aus. Darauf trat er eines Tages zum Ältesten, bat ihn um ein geheimes Gespräch und erzählte ihm alles.
Der Älteste hörte zu, blieb in Gedanken sitzen und fragte dann: »Hast du, mein Freund, nun dieses alles mit deinen Augen gesehen, oder ist es ein Traum gewesen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Jüngling. »Ich glaube wohl, dass es ein Traum gewesen sein mag. Indessen, mit deiner Erlaubnis sei es gesagt, es scheint mir kaum einen Unterschied zu bedeuten, sollte die Sache nun auch meinen Sinnen in aller Wirklichkeit begegnet sein. Es ist ein Schatten von Traurigkeit in mir geblieben, und mitten in das Glück des Lebens weht mir von jenem Sterne her ein kühler Wind hinein. Darum frage ich dich, Verehrter, was ich tun soll.«
»Gehe morgen«, sprach der Älteste, »nochmals in das Gebirge und an jenen Ort hinauf, wo du den Tempel gefunden hast. Seltsam scheint mir das Sinnbild jenes Gottes, von dem ich nie gehört habe, und es mag wohl sein, dass es ein Gott von einem ändern Sterne ist. Oder aber ist jener Tempel und sein Gott vielleicht so alt, dass er von unsern frühesten Vorfahren stammt und aus den fernen Zeiten, da es unter uns noch Waffen, Furcht und Todesangst gegeben haben soll. Gehe du zu jenem Tempel, Lieber, und dort bringe Blumen, Honig und Lieder dar.«
Der Jüngling dankte und gehorchte dem Rat des Ältesten. Er nahm eine Schale mit feinem Honig, wie man ihn im Frühsommer beim ersten Immenfest den Ehrengästen vorzusetzen pflegt, und nahm seine Laute mit. Im Gebirge fand er die Stelle wieder, wo er damals eine blaue Glockenblume gepflückt hatte, und fand den steilen Felsenpfad, der im Walde bergan führte und wo er kürzlich vor seinem Pferde her zu Fuß gegangen war. Die Stelle des Tempels aber und den Tempel selbst, den schwarzen Opferstein, die hölzernen Säulen, das Dach und den großen Vogel auf dem Dache konnte er nicht wiederfinden, heute nicht und nicht am nächsten Tage, und niemand wusste ihm etwas von einem solchen Tempel, wie er ihn beschrieb, zu sagen.
Da kehrte er in seine Heimat zurück, und da er am Heiligtum des liebevollen Gedenkens vorüber-kam, trat er hinein, brachte den Honig dar, sang sein Lied zur Laute und empfahl der Gottheit des liebevollen Gedenkens seinen Traum, den Tempel und den Vogel, den armen Bauern und die Toten auf dem Schlachtfelde, und am meisten den König in seinem Kriegszelte. Danach ging er mit erleichtertem Herzen in seine Wohnung, hängte im Schlafzimmer das Sinnbild von der Einheit der Welten auf, ruhte in tiefem Schlafe von den Erlebnissen dieser Tage aus und begann am nächsten Morgen den Nachbarn zu helfen, welche in Gärten und Feldern unter Gesang die letzten Spuren des Erdbebens hinwegzutilgen bemüht waren.
(1915)
1. Wodurch wurden die Dörfer des Sternes zerstört?
2. Warum konnten die Gestorbenen nicht begraben werden?
3. Worüber sprachen der Bote und der König von einem anderen Stern?