Книга: Märchen / Сказки. Книга для чтения на немецком языке
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Augustus



In der Mostackerstraße wohnte eine junge Frau, die hatte durch ein Unglück bald nach der Hochzeit ihren Mann verloren, und jetzt saß sie arm und verlassen in ihrer kleinen Stube und wartete auf ihr Kind, das keinen Vater haben sollte. Und weil sie so ganz allein war, so verweilten immer alle ihre Gedanken bei dem erwarteten Kinde, und es gab nichts Schönes und Herrliches und Beneidenswertes, was sie nicht für dieses Kind ausgedacht und gewünscht und geträumt hätte. Ein steinernes Haus mit Spiegelscheiben und einem Springbrunnen im Garten schien ihr für den Kleinen gerade gut genug, und was seine Zukunft anging, so musste er mindestens ein Professor oder König werden.

Neben der armen Frau Elisabeth wohnte ein alter Mann, den man nur selten ausgehen sah, und dann war er ein kleines, graues Kerlchen mit einer Troddelmütze und einem grünen Regenschirm, dessen Stangen noch aus Fischbein gemacht waren wie in der alten Zeit. Die Kinder hatten Angst vor ihm, und die Großen meinten, er werde schon seine Gründe haben, sich so sehr zurückzuziehen. Oft wurde er lange Zeit von niemand gesehen, aber am Abend hörte man zuweilen aus seinem kleinen, baufälligen Hause eine feine Musik wie von sehr vielen kleinen, zarten Instrumenten erklingen. Dann fragten Kinder, wenn sie dort vorübergingen, ihre Mütter, ob da drinnen die Engel oder vielleicht die Nixen sängen, aber die Mütter wussten nichts davon und sagten: »Nein, nein, das muss eine Spieldose sein.«

Dieser kleine Mann, welcher von den Nachbarn als Herr Binßwanger angeredet wurde, hatte mit der Frau Elisabeth eine sonderbare Art von Freundschaft. Sie sprachen nämlich nie miteinander, aber der kleine, alte Herr Binßwanger grüßte jedesmal auf das freundlichste, wenn er am Fenster seiner Nachbarin vorüber-kam, und sie nickte ihm wieder dankbar zu und hatte ihn gern, und beide dachten: Wenn es mir einmal ganz elend gehen sollte, dann will ich gewiss im Nachbarhaus um Rat vorsprechen. Und wenn es dunkel zu werden anfing und die Frau Elisabeth allein an ihrem Fenster saß und um ihren toten Liebsten trauerte oder an ihr kleines Kindlein dachte und ins Träumen geriet, dann machte der Herr Binßwanger leise einen Fensterflügel auf, und aus seiner dunkeln Stube kam leis und silbern eine tröstliche Musik geflossen wie Mondlicht aus einem Wolkenspalt. Hinwieder hatte der Nachbar an seinem hintern Fenster einige alte Geranienstöcke stehen, die er immer zu gießen vergaß und welche doch immer grün und voll Blumen waren und nie ein welkes Blatt zeigten, weil sie jeden Tag in aller Frühe von Frau Elisabeth gegossen und gepflegt wurden.

Als es nun gegen den Herbst ging und einmal ein rauher, windiger Regenabend und kein Mensch in der Mostackerstraße zu sehen war, da merkte die arme Frau, dass ihre Stunde gekommen sei, und es wurde ihr angst, weil sie ganz allein war. Beim Einbruch der Nacht aber kam eine alte Frau mit einer Handlaterne gegangen, trat in das Haus und kochte Wasser und legte Leinwand zurecht und tat alles, was getan werden muss, wenn ein Kind zur Welt kommen soll. Frau Elisabeth ließ alles still geschehen, und erst als das Kindlein da war und in neuen feinen Windeln seinen ersten Erdenschlaf zu schlummern begann, fragte sie die alte Frau, woher sie denn käme.

»Der Herr Binßwanger hat mich geschickt«, sagte die Alte, und darüber schlief die müde Frau ein, und als sie am Morgen wieder erwachte, da war Milch für sie gekocht und stand bereit, und alles in der Stube war sauber aufgeräumt, und neben ihr lag der kleine Sohn und schrie, weil er Hunger hatte; aber die alte Frau war fort. Die Mutter nahm ihren Kleinen an die Brust und freute sich, dass er so hübsch und kräftig war. Sie dachte an seinen toten Vater, der ihn nicht mehr hatte sehen können, und bekam Tränen in die Augen, und sie herzte das kleine Waisenkind und musste wieder lächeln, und darüber schlief sie samt dem Büblein wieder ein, und als sie aufwachte, war wieder Milch und eine Suppe gekocht und das Kind in neue Windeln gebunden.

Bald aber war die Mutter wieder gesund und stark und konnte für sich und den kleinen Augustus selber sorgen, und da kam ihr der Gedanke, dass nun der Sohn getauft werden müsse und dass sie keinen Paten für ihn habe. Da ging sie gegen Abend, als es dämmerte und aus dem Nachbarhäuschen wieder die süße Musik klang, zu dem Herrn Binßwanger hinüber. Sie klopfte schüchtern an die dunkle Türe, da rief er freundlich »herein!« und kam ihr entgegen, die Musik aber war plötzlich zu Ende, und im Zimmer stand eine kleine alte Tischlampe vor einem Buch, und alles war wie bei ändern Leuten.

»Ich bin zu Euch gekommen«, sagte Frau Elisabeth, »um Euch zu danken, weil Ihr mir die gute Frau geschickt habt. Ich will sie auch gerne bezahlen, wenn ich nur erst wieder arbeiten und etwas verdienen kann. Aber jetzt habe ich eine andere Sorge. Der Bub muss getauft werden und soll Augustus heißen, wie sein Vater geheißen hat; aber ich kenne niemand und weiß keinen Paten für ihn.«

»Ja, das habe ich auch gedacht«, sagte der Nachbar und strich an seinem grauen Bart herum. »Es wäre schon gut, wenn er einen guten und reichen Paten bekäme, der für ihn sorgen kann, wenn es Euch einmal schlechtgehen sollte. Aber ich bin auch nur ein alter, einsamer Mann und habe wenig Freunde, darum kann ich Euch niemand raten, wenn Ihr nicht etwa mich selber zum Paten nehmen wollet.«

Darüber war die arme Mutter froh und dankte dem kleinen Mann und nahm ihn zum Paten. Am nächsten Sonntag trugen sie den Kleinen in die Kirche und ließen ihn taufen, und dabei erschien auch die alte Frau wieder und schenkte ihm einen Taler, und als die Mutter das nicht annehmen wollte, da sagte die alte Frau: »Nehmet nur, ich bin alt und habe, was ich brauche. Vielleicht bringt ihm der Taler Glück. Dem Herrn Binßwanger habe ich gern einmal einen Gefallen getan, wir sind alte Freunde.«

Da gingen sie miteinander heim, und Frau Elisabeth kochte für ihre Gäste Kaffee, und der Nachbar hatte einen Kuchen mitgebracht, dass es ein richtiger Taufschmaus wurde. Als sie aber getrunken und gegessen hatten und das Kindlein längst eingeschlafen war, da sagte Herr Binßwanger bescheiden: »Jetzt bin ich also der Pate des kleinen Augustus und möchte ihm gern ein Königsschloss und einen Sack voll Goldstücke schenken, aber das habe ich nicht, ich kann ihm nur einen Taler neben den der Frau Gevatterin legen. Indessen, was ich für ihn tun kann, das soll geschehen. Frau Elisabeth, Ihr habt Eurem Buben gewiss schon viel Schönes und Gute gewünscht. Besinnt Euch jetzt, was Euch das Beste für ihn zu sein scheint, so will ich dafür sorgen, dass es wahr werde. Ihr habt einen Wunsch für Euren Jungen frei, welchen Ihr wollt, aber nur einen, überlegt Euch den wohl und wenn Ihr heut abend meine kleine Spieldose spielen hört, dann müsst Ihr den Wunsch Eurem Kleinen ins linke Ohr sagen, so wird er in Erfüllung gehen.«

Damit nahm er schnell Abschied, und die Gevatterin ging mit ihm weg, und Frau Elisabeth blieb allein und ganz verwundert zurück, und wenn die beiden Taler nicht in der Wiege gelegen und der Kuchen auf dem Tisch gestanden wäre, so hätte sie alles für einen Traum gehalten. Da setzte sie sich neben die Wiege und wiegte ihr Kind und sann und dachte sich schöne Wünsche aus. Zuerst wollte sie ihn reich werden lassen, oder schön, oder gewaltig stark, oder gescheit und klug, aber überall war ein Bedenken dabei, und schließlich dachte sie: Ach, es ist ja doch nur ein Scherz von dem alten Männlein gewesen.

Es war schon dunkel geworden, und sie wäre beinahe sitzend bei der Wiege eingeschlafen, müde von der Bewirtung und von den Sorgen und den vielen Wünschen, da klang vom Nachbarhause herüber eine feine, sanfte Musik, so zart und köstlich, wie sie noch von keiner Spieldose gehört worden ist. Bei diesem Klang besann sich Frau Elisabeth und kam zu sich, und jetzt glaubte sie wieder an den Nachbar Binßwanger und sein Patengeschenk, und je mehr sie sich besann und je mehr sie wünschen wollte, desto mehr geriet ihr alles in den Gedanken durcheinander, dass sie sich für nichts entscheiden konnte. Sie wurde ganz bekümmert und hatte Tränen in den Augen, da klang die Musik leiser und schwächer, und sie dachte, wenn sie jetzt im Augenblick ihren Wunsch nicht täte, so wäre es zu spät und alles verloren.

Da seufzte sie auf und bog sich zu ihrem Knaben hinunter und flüsterte ihm ins linke Ohr: »Mein Söhnlein, ich wünsche dir – wünsche dir«, – und als die schöne Musik schon ganz am Verklingen war, erschrak sie und sagte schnell: »Ich wünsche dir, dass alle Menschen dich liebhaben müssen.«

Die Töne waren jetzt verklungen, und es war totenstill in dem dunklen Zimmer. Sie aber warf sich über die Wiege und weinte und war voll Angst und Bangigkeit und rief: »Ach, nun habe ich dir das Beste gewünscht, was ich weiß, und doch ist es vielleicht nicht das Richtige gewesen. Und wenn auch alle, alle Menschen dich liebhaben werden, so kann doch niemand mehr dich so liebhaben wie deine Mutter.«

Augustus wuchs nun heran wie andre Kinder, er war ein hübscher, blonder Knabe mit hellen, mutigen Augen, den die Mutter verwöhnte und der überall wohlgelitten war. Frau Elisabeth merkte schon bald, dass ihr Tauftagswunsch sich an dem Kind erfülle, denn kaum war der Kleine so alt, dass er gehen konnte und auf die Gasse und zu ändern Leuten kam, so fand ihn jedermann hübsch und keck und klug wie selten ein Kind, und jedermann gab ihm die Hand, sah ihm in die Augen und zeigte ihm seine Gunst. Junge Mütter lächelten ihm zu, und alte Weiblein schenkten ihm Äpfel, und wenn er irgendwo eine Unart verübte, glaubte niemand, dass er es gewesen sei, oder wenn es nicht zu leugnen war, zuckte man die Achseln und sagte: »Man kann dem netten Kerlchen wahrhaftig nichts übelnehmen.«

Es kamen Leute, die auf den schönen Knaben aufmerksam geworden waren, zu seiner Muter, und sie, die niemand gekannt und früher nur wenig Näharbeit ins Haus bekommen hatte, wurde jetzt als die Mutter des Augustus wohlbekannt und hatte mehr Gönner, als sie sich je gewünscht hätte. Es ging ihr gut und dem Jungen auch, und wohin sie miteinander kamen, da freute sich die Nachbarschaft, grüßte und sah den Glücklichen nach.

Das Schönste hatte Augustus nebenan bei seinem Paten; der rief ihn zuweilen am Abend in sein Häuschen, da war es dunkel, und nur im schwarzen Kaminloch brannte eine kleine, rote Flamme, und der kleine, alte Mann zog das Kind zu sich auf ein Fell am Boden und sah mit ihm in die stille Flamme und erzählte ihm lange Geschichten. Aber manchmal, wenn so eine lange Geschichte zu Ende und der Kleine ganz schläfrig geworden war und in der dunklen Stille mit halboffenen Augen nach dem Feuer schaute, dann kam aus der Dunkelheit eine süße, vielstimmige Musik hervorgeklungen, und wenn die beiden ihr lange und verschwiegen zugehört hatten, dann geschah es oft, dass unversehens die ganze Stube voll kleiner glänzender Kinder war, die flogen mit hellen, goldenen Flügeln in Kreisen hin und wieder und wie in schönen Tänzen kunstvoll umeinander und in Paaren. Und dazu sangen sie, und es klang hundertfach voll Freude und heiterer Schönheit zusammen. Das war das Schönste, was Augustus je gehört und gesehen hatte, und wenn er später an seine Kindheit dachte, so war es die stille, finstere Stube des alten Paten und die rote Flamme im Kamin mit der Musik und mit dem festlichen, goldenen Zauberflug der Engelwesen, die ihm in der Erinnerung wieder emporstieg und Heimweh machte.

Indessen wurde der Knabe größer, und jetzt gab es für seine Mutter zuweilen Stunden, wo sie traurig war und an jene Taufnacht zurückdenken musste. Augustus lief fröhlich in den Nachbargassen umher und war überall willkommen, er bekam Nüsse und Birnen, Kuchen und Spielsachen geschenkt, man gab ihm zu essen und zu trinken, ließ ihn auf dem Knie reiten und in den Gärten Blumen pflücken, und oft kam er erst spät am Abend wieder heim und schob die Suppe der Mutter widerwillig beiseite. Wenn sie dann betrübt war und weinte, fand er es langweilig und ging mürrisch in sein Bettlein; und wenn sie ihn einmal schalt und strafte, schrie er heftig und beklagte sich, dass alle Leute lieb und nett mit ihm seien, bloß seine Mutter nicht. Da hatte sie oft betrübte Stunden, und manchmal erzürnte sie sich ernstlich über ihren Jungen, aber wenn er nachher schlafend in seinen Kissen lag und auf dem unschuldigen Kindergesicht ihr Kerzenlicht schimmerte, dann verging alle Härte in ihrem Herzen und sie küsste ihn vorsichtig, dass er nicht erwache. Es war ihre eigene Schuld, dass alle Leute den Augustus gern hatten, und dachte manchmal mit Trauer und beinahe mit einem Schrecken, dass es vielleich wäre, sie hätte jenen Wunsch niemals getan.

Einmal stand sie gerade beim Geranienfenster des Herrn Binßwanger und schnitt mit einer kleinen Schere die verwelkten Blumen aus den Stöcken, da hörte sie in dem Hof, der hinter den beiden Häusern war, die Stimme ihres Jungen, und sie bog sich vor, um hinüberzusehen. Sie sah ihn an der Mauer lehnen, mit seinem hübschen und ein wenig stolzen Gesicht, und vor ihm stand ein Mädchen, größer als er, das sah ihn bittend an und sagte: »Gelt, du bist lieb und gibst mir einen Kuss?«

»Ich mag nicht«, sagte Augustus und steckte die Hände in die Taschen.

»O doch, bitte«, sagte sie wieder. »Ich will dir ja auch etwas Schönes schenken.«

»Was denn?« fragte der Junge.

»Ich habe zwei Äpfel«, sagte sie schüchtern.

Aber er drehte sich um und schnitt eine Grimasse.

»Äpfel mag ich keine«, sagte er verächtlich und wollte weglaufen.

Das Mädchen hielt ihn aber fest und sagte schmeichelnd: »Du, ich habe auch einen schönen Fingerring.«

»Zeig ihn her!« sagte Augustus.

Sie zeigte ihm ihren Fingerring her, und er sah ihn genau an, dann zog er ihn von ihrem Finger und tat ihn auf seine eigenen, hielt ihn ans Licht und fand Gefallen daran.

»Also, dann kannst du ja einen Kuss haben«, sagte er obenhin und gab dem Mädchen einen flüchtigen Kuss auf den Mund.

»Willst du jetzt mit mir spielen kommen?« fragte sie zutraulich und hing sich an seinen Arm.

Aber er stieß sie weg und rief heftig: »Lass mich jetzt doch endlich in Ruhe! Ich habe andre Kinder, mit denen ich spielen kann.«

Während das Mädchen zu weinen begann und vom Hofe schlich, schnitt er ein gelangweiltes und ärgerliches Gesicht; dann drehte er seinen Ring um den Finger und beschaute ihn, und dann fing er an zu pfeifen und ging langsam davon.

Seine Mutter aber stand mit der Blumenschere in der Hand und war erschrocken über die Härte und Verächtlichkeit, mit welcher ihr Kind die Liebe der ändern hinnahm. Sie ließ die Blumen stehen und stand kopfschüttelnd und sagte immer wieder vor sich hin: »Er ist ja böse, er hat ja gar kein Herz.«

Aber bald darauf, als Augustus heimkam und sie ihn zur Rede stellte, da schaute er sie lachend aus blauen Augen an und hatte kein Gefühl einer Schuld, und dann fing er an zu singen und ihr zu schmeicheln und war so drollig und nett und zärtlich mit ihr, dass sie lachen musste und wohl sah, man dürfe bei Kindern nicht alles gleich so ernst nehmen.

Indessen gingen dem Jungen seine Übeltaten nicht ohne alle Strafe hin. Der Pate Binßwanger war der einzige, vor dem er Ehrfurcht hatte, und wenn er am Abend zu ihm in die Stube kam und der Pate sagte: »Heute brennt kein Feuer im Kamin, und es gibt keine Musik, die kleinen Engelkinder sind traurig, weil du so böse warst«, dann ging er schweigend hinaus und heim und warf sich auf sein Bett und weinte, und nachher gab er sich manchen Tag lang Mühe, gut und lieb zu sein.

Jedoch das Feuer im Kamin brannte seltener und seltener, und der Pate war nicht mit Tränen und nicht mit Liebkosungen zu bestechen. Als Augustus zwölf Jahre alt war, da war ihm der zauberische Engelflug in der Patenstube schon ein ferner Traum geworden, und wenn er ihn einmal in der Nacht geträumt hatte, dann war er am nächsten Tag doppelt wild und laut und kommandierte seine vielen Kameraden als Feldherr über alle Hecken weg.

Seine Mutter war es längst müde, von allen Leuten das Lob ihres Knaben zu hören, und wie fein und herzig er sei, sie hatte nur noch Sorgen um ihn. Und als eines Tages sein Lehrer zu ihr kam und ihr erzählte, er wisse jemand, der erbötig sei, den Knaben in fremde Schulen zu schicken und studieren zu lassen, da hatte sie eine Besprechung mit dem Nachbar, und bald darauf, an einem Frühlingsmorgen, kam ein Wagen gefahren, und Augustus in einem neuen, schönen Kleide stieg hinein und sagte seiner Mutter und dem Paten und den Nachbarsleuten Lebewohl, weil er in die Hauptstadt reisen und studieren durfte. Seine Mutter hatte ihm zum letzten Male die blonden Haare schön gescheitelt und den Segen über ihn gesprochen, und nun zogen die Pferde an, und Augustus reiste in die fremde Welt.

Nach manchen Jahren, als der junge Augustus ein Student geworden war und rote Mützen und einen Schnurrbart trug, da kam er einmal wieder in seine Heimat gefahren, weil der Pate ihm geschrieben hatte, seine Mutter sei so krank, dass sie nicht mehr lange leben könne. Der Jüngling kam am Abend an, und die Leute sahen mit Bewunderung zu, wie er aus dem Wagen stieg und wie der Kutscher ihm einen großen ledernen Koffer in das Häuschen nachtrug. Die Mutter aber lag sterbend in dem alten, niederen Zimmer, und als der schöne Student in weißen Kissen ein weißes, welkes Gesicht liegen sah, das ihn nur noch mit stillen Augen begrüßen konnte, da sank er weinend an der Bettstatt nieder und küsste seiner Mutter kühle Hände und kniete bei ihr die ganze Nacht, bis die Hände kalt und die Augen erloschen waren.

Und als sie die Mutter begraben hatten, da nahm ihn der Pate Binßwanger am Arm und ging mit ihm in sein Häuschen, das schien dem jungen Menschen noch niedriger und dunkler geworden, und als sie lange beisammengesessen waren und nur die kleinen Fenster noch schwach in der Dunkelheit schimmerten, da strich der kleine alte Mann mit hageren Fingern über seinen grauen Bart und sagte zu Augustus: »Ich will ein Feuer im Kamin anmachen, dann brauchen wir die Lampe nicht. Ich weiß, du musst morgen wieder davonreisen, und jetzt, wo deine Mutter tot ist, wird man dich ja so bald nicht wiedersehen.«

Indem er das sagte, zündete er ein kleines Feuer im Kamin an und rückte seinen Sessel näher hinzu, und der Student den seinen, und dann saßen sie wieder eine lange Weile und blickten auf die verglühenden Scheiter, bis die Funken spärlicher flogen, und da sagte der Alte sanft: »Lebe wohl, Augustus, ich wünsche dir Gutes. Du hast eine brave Mutter gehabt, und sie hat mehr an dir getan, als du weißt. Gern hätte ich dir noch einmal Musik gemacht und die kleinen Seligen gezeigt, aber du weißt, das geht nicht mehr. Indessen sollst du sie nicht vergessen und sollst wissen, dass sie noch immer singen und dass auch du sie vielleicht einmal wieder hören kannst, wenn du einst mit einem einsamen und sehnsüchtigen Herzen nach ihnen verlangst. Gib mir jetzt die Hand, mein Junge, ich bin alt und muss schlafen gehen.«

Augustus gab ihm die Hand und konnte nichts sagen, er ging traurig in das verödete Häuschen hinüber und legte sich zum letzten Male in der alten Heimat schlafen, und ehe er einschlief, meinte er von drüben ganz fern und leise die süße Musik seiner Kindheit wieder zu hören. Am nächsten Morgen ging er davon, und man hörte lange nichts mehr von ihm.

Bald vergaß er auch den Paten Binßwanger und seine Engel. Das reiche Leben schwoll rings um ihn, und er fuhr auf seinen Wellen mit. Niemand konnte so wie er durch schallende Gassen reiten und die aufschauenden Mädchen mit spöttischen Blicken grüßen, niemand verstand so leicht und hinreißend zu tanzen, so flott und fein im Wagen zu kutschieren, so laut und prangend eine Sommernacht im Garten zu verzechen. Die reiche Witwe, deren Geliebter er war, gab ihm Geld und Kleider und Pferde und alles, was er brauchte und haben wollte, mit ihr reiste er nach Paris und Rom und schlief in ihrem seidenen Bett. Seine Liebe aber war eine sanfte, blonde Bürgerstochter, die er nachts mit Gefahr in ihres Vaters Garten besuchte und die ihm lange, heiße Briefe schrieb, wenn er auf Reisen war.

Aber einmal kam er nicht wieder. Er hatte Freunde in Paris gefunden, und weil die reiche Geliebte ihm langweilig geworden und das Studium ihm längst verdrießlich war, blieb er im fernen Land und lebte wie die große Welt, hielt Pferde, Hunde, Weiber, verlor Geld und gewann Geld in großen Goldrollen, und überall waren Menschen, die ihm nachliefen und sich ihm zu eigen gaben und ihm dienten, und er lächelte und nahm es hin, wie er einst als Knabe den Ring des kleinen Mädchens hingenommen hatte. Der Wunschzauber lag in seinen Augen und auf seinen Lippen, Frauen umgaben ihn mit Zärtlichkeit und Freunde schwärmten für ihn, und niemand sah – er selber fühlte es kaum, – wie sein Herz leer und habgierig geworden war und seine Seele krank und leidend war. Zuweilen wurde er es müde, so von allen geliebt zu sein, und ging allein verkleidet durch fremde Städte, und überall fand er die Menschen töricht und allzu leicht zu gewinnen, und überall schien ihm die Liebe lächerlich, die ihm so eifrig nachlief und mit so wenigem zufrieden war. Frauen und Männer wurden ihm oft zum Ekel, dass sie nicht stolzer waren, und ganze Tage brachte er allein mit seinen Hunden hin oder in schönen Jagdgebieten im Gebirge, und ein Hirsch, den er beschlichen und geschossen hatte, machte ihn froher als die Werbung einer schönen und verwöhnten Frau.

Da sah er einstmals auf einer Seereise die junge Frau eines Gesandten, eine strenge, schlanke Dame aus nord-ländischem Adel, die stand zwischen vielen ändern vornehmen Frauen und weltmännischen Menschen wundervoll abgesondert, stolz und schweigsam, als wäre niemand ihresgleichen, und als er sie sah und beobachtete und wie ihr Blick auch ihn nur flüchtig und gleichgültig zu streifen schien, war ihm so, als erfahre er jetzt zum allerersten Male, was Liebe sei, und er nahm sich vor, ihre Liebe zu gewinnen, und war von da an zu jeder Stunde des Tages in ihrer Nähe und unter ihren Augen, und weil er selbst immerzu von Frauen und Männern umgeben war, die ihn bewunderten und seinen Umgang suchten, stand er mit der schönen Strengen inmitten der Reisegesellschaft wie ein Fürst mit seiner Fürstin, und auch der Mann der Blonden zeichnete ihn aus und bemühte sich, ihm zu gefallen.

Nie war es ihm möglich, mit der Fremden allein zu sein, bis in einer Hafenstadt des Südens die ganze Reisegesellschaft vom Schiffe ging, um ein paar Stunden in der fremden Stadt umherzugehen und wieder eine Weile Erde unter den Sohlen zu fühlen. Da wich er nicht von der Geliebten, bis es ihm gelang, sie im Gewühl eines bunten Marktplatzes im Gespräch zurückzuhalten. Unendlich viele kleine, finstere Gassen mündeten auf diesen Platz, in eine solche Gasse führte er sie, die ihm vertraute, und da sie plötzlich sich mit ihm allein fühlte und scheu wurde und ihre Gesellschaft nicht mehr sah, wandte er sich ihr leuchtend zu, nahm ihre zögernden Hände in seine und bat sie flehend, hier mit ihm am Lande zu bleiben und zu fliehen.

Die Fremde war bleich geworden und hielt den Blick zu Boden gewendet. »Oh, das ist nicht ritterlich«, sagte sie leise. »Lassen Sie mich vergessen, was Sie da gesagt haben!«

»Ich bin kein Ritter«, rief Augustus, »ich bin ein Liebender, und ein Liebender weiß nichts anderes als die Geliebte, und hat keinen Gedanken, als bei ihr zu sein. Ach, du Schöne, komm mit, wir werden glücklich sein.«

Sie sah ihn aus ihren hellblauen Augen ernst und strafend an: »Woher konnten Sie denn wissen«, flüsterte sie klagend, »dass ich Sie liebe? Ich kann nicht lügen: ich habe Sie lieb und habe oft gewünscht, Sie möchten mein Mann sein. Denn Sie sind der erste, den ich von Herzen geliebt habe. Ach, wie kann Liebe sich so weit verirren! Ich hätte niemals gedacht, dass es mir möglich wäre, einen Menschen zu lieben, der nicht rein und gut ist. Aber tausendmal lieber will ich bei meinem Manne bleiben, den ich wenig liebe, der aber ein Ritter und voll Ehre und Adel ist, welche Sie nicht kennen. Und nun reden Sie kein Wort mehr zu mir und bringen Sie mich an das Schiff zurück, sonst rufe ich fremde Menschen um Hilfe gegen Ihre Frechheit an.«

Und ob er bat und ob er knirschte, sie wandte sich von ihm und wäre allein gegangen, wenn er nicht schweigend sich zu ihr gesellt und sie zum Schiff begleitet hätte. Dort ließ er seine Koffer an Land bringen und nahm von niemand Abschied.

Von da an neigte sich das Glück des Vielgeliebten. Tugend und Ehrbarkeit waren ihm verhasst geworden, er trat sie mit Füßen, und es wurde sein Vergnügen, tugendhafte Frauen mit allen Künsten seines Zaubers zu verführen und arglose Menschen, die er rasch zu Freunden gewann, auszubeuten und dann mit Hohn zu verlassen. Er machte Frauen und Mädchen arm, die er dann alsbald verleugnete, und er suchte sich Jünglinge aus edlen Häusern aus, die er verführte und verdarb. Kein Genuss, den er nicht suchte und erschöpfte; kein Laster, das er nicht lernte und wieder wegwarf. Aber es war keine Freude mehr in seinem Herzen, und von der Liebe, die ihm überall entgegenkam, klang nichts in seiner Seele wider.

In einem schönen Landhaus am Meer wohnte er finster und verdrossen und quälte die Frauen und die Freunde, die ihn dort besuchten, mit den tollsten Launen und Bosheiten. Er sehnte sich danach, die Menschen zu erniedrigen und ihnen alle Verachtung zu zeigen; er war es satt und überdrüssig, von unerbetener, unverlangter, unverdienter Liebe umgeben zu sein; er fühlte den Unwert seines vergeudeten und zerstörten Lebens, das nie gegeben und immer nur genommen hatte. Manchmal hungerte er eine Zeit, nur um doch wieder einmal ein rechtes Begehren zu fühlen und ein Verlangen stillen zu können.

Es verbreitete sich unter seinen Freunden die Nachricht, er sei krank und bedürfe der Ruhe und Einsamkeit. Es kamen Briefe, die er niemals las, und besorgte Menschen fragten bei der Dienerschaft nach seinem Befinden. Er aber saß allein und tief vergrämt im Saal über dem Meere, sein Leben lag leer und verwüstet hinter ihm, unfruchtbar und ohne Spur der Liebe wie die graue wogende Salzflut. Er sah hässlich aus, wie er da im Sessel am hohen Fenster kauerte und mit sich selber Abrechnung hielt. Die weißen Möwen trieben im Strandwinde vorüber, er folgte ihnen mit leeren Blicken, aus denen jede Freude und jede Teilnahme verschwunden war. Nur seine Lippen lächelten hart und böse, als er mit seinen Gedanken zu Ende war und dem Kammerdiener schellte. Und nun ließ er alle seine Freunde auf einen bestimmten Tag zu einem Fest einladen; seine Absicht aber war, die Ankommenden durch den Anblick eines leeren Hauses und seiner eigenen Leiche zu erschrecken und zu verhöhnen. Denn er war entschlossen, sich vorher mit Gift das Leben zu nehmen.

Am Abend nun vor dem vermeintlichen Fest sandte er seine ganze Dienerschaft aus dem Hause, dass es still in den großen Räumen wurde, und begab sich in sein Schlafzimmer, mischte ein starkes Gift in ein Glas Zyperwein und setzte es an die Lippen.

Als er eben trinken wollte, wurde an seine Türe gepocht, und da er nicht Antwort gab, ging die Tür auf, und es trat ein kleiner alter Mann herein. Der ging auf Augustus zu, nahm ihm sorglich das volle Glas aus den Händen und sagte mit einer wohlbekannten Stimme: »Guten Abend, Augustus, wie geht es dir?«

Der Überraschte, ärgerlich und beschämt, lächelte voll Spott und sagte: »Herr Binßwanger, leben Sie auch noch? Es ist lange her, und Sie scheinen wahrhaftig nicht älter geworden zu sein. Aber im Augenblick stören Sie hier, lieber Mann, ich bin müde und will eben einen Schlaftrunk nehmen.«

»Das sehe ich«, antwortete der Pate ruhig. »Du willst einen Schlaftrunk nehmen, und du hast recht, es ist dies der letzte Wein, der dir noch helfen kann. Zuvor aber wollen wir einen Augenblick plaudern, mein Junge, und da ich einen weiten Weg hinter mir habe, wirst du nicht böse sein, wenn ich mich mit einem kleinen Schluck erfrische.«

Damit nahm er das Glas und setzte es an den Mund, und ehe Augustus ihn zurückhalten konnte, hob er es hoch und trank es in einem raschen Zuge aus.

Augustus war todesbleich geworden. Er stürzte auf den Paten los, schüttelte ihn an den Schultern und schrie gellend: »Alter Mann, weißt du, was du da getrunken hast?«

Herr Binßwanger nickte mit dem klugen grauen Kopf und lächelte: »Es ist Zyperwein, wie ich sehe, und er ist nicht schlecht. Mangel scheinst du nicht zu leiden. Aber ich habe wenig Zeit und will dich nicht lange belästigen, wenn du mich anhören magst.«

Der verstörte Mensch sah dem Paten mit Entsetzen in die hellen Augen und erwartete von Augenblick zu Augenblick, ihn niedersinken zu sehen.

Der Pate setzte sich indessen mit Behagen auf einen Stuhl und nickte seinem jungen Freunde gütig zu.

»Hast du Sorge, der Schluck Wein könnte mir schaden? Da sei nur ruhig! Es ist freundlich von dir, dass du Sorge um mich hast, ich hätte es gar nicht vermutet. Aber jetzt lass uns einmal reden wie in der alten Zeit! Mir scheint, du hast das leichte Leben satt bekommen? Das kann ich verstehen, und wenn ich weggehe, kannst du ja dein Glas wieder vollmachen und austrinken. Aber vorher muss ich dir etwas erzählen.«

Augustus lehnte sich an die Wand und horchte auf die gute, wohlige Stimme des uralten Männleins, die ihm von Kinderzeiten her vertraut war und die Schatten der Vergangenheit in seiner Seele wachrief. Eine tiefe Scham und Trauer ergriff ihn, als sähe er seiner eigenen unschuldigen Kindheit in die Augen.

»Dein Gift habe ich ausgetrunken«, fuhr der Alte fort, »weil ich es bin, der an deinem Elend schuldig ist. Deine Mutter hat bei deiner Taufe einen Wunsch für dich getan, und ich habe ihr den Wunsch erfüllt, obwohl er töricht war. Du brauchst ihn nicht zu kennen, er ist ein Fluch geworden, wie du ja selber gespürt hast. Es tut mir leid, dass es so gegangen ist, und es möchte mich wohl freuen, wenn ich es noch erlebte, dass du einmal wieder bei mir daheim vor dem Kamin sitzest und die Englein singen hörst. Das ist nicht leicht, und im Augenblick scheint es dir vielleicht unmöglich, dass dein Herz je wieder gesund und rein und heiter werden könne. Es ist aber möglich, und ich möchte dich bitten, es zu versuchen. Der Wunsch deiner armen Mutter ist dir schlecht bekommen, Augustus. Wie wäre es nun, wenn du mir erlaubtest, auch dir noch einen Wunsch zu erfüllen, irgendeinen? Du wirst wohl nicht Geld und Gut begehren, und auch nicht Macht und Frauenliebe, davon du genug gehabt hast. Besinne dich, und wenn du meinst, einen Zauber zu wissen, der dein verdorbenes Leben wieder schöner und besser und dich wieder einmal froh machen könnte, dann wünsche ihn dir!«

In tiefen Gedanken saß Augustus und schwieg, er war aber zu müde und hoffnungslos, und so sagte er nach einer Weile: »Ich danke dir, Pate Binßwanger, aber ich glaube, mein Leben lässt sich mit keinem Kamm wieder glattstreichen. Es ist besser, ich tue, was ich zu tun gedachte, als du hereinkamst. Aber ich danke dir doch, dass du gekommen bist.«

»Ja«, sagte der Alte bedächtig, »ich kann mir denken, dass es dir nicht leichtfällt. Aber vielleicht kannst du dich noch einmal besinnen, Augustus, vielleicht fällt dir das ein, was dir bis jetzt am meisten gefehlt hat, oder vielleicht kannst du dich an die früheren Zeiten erinnern, wo die Mutter noch lebte, und wo du manchmal am Abend zu mir gekommen bist. Da bist du doch zuweilen glücklich gewesen, nicht?«

»Ja, damals«, nickte Augustus, und das Bild seiner strahlenden Lebensfrühe sah ihm fern und bleich wie aus einem uralten Spiegel entgegen. »Aber das kann nicht wiederkommen. Ich kann nicht wünschen, wieder ein Kind zu sein. Ach, da finge doch alles wieder von vorne an!«

»Nein, das hätte keinen Sinn, da hast du recht. Aber denke noch einmal an die Zeit bei uns daheim und an das arme Mädchen, das du als Student bei Nacht in ihres Vaters Garten besucht hast, und denke auch an die schöne blonde Frau, mit der du einmal auf dem Meerschiff gefahren bist, und denke an alle Augenblicke, wo du einmal glücklich gewesen bist und wo das Leben dir gut und wertvoll erschien. Vielleicht kannst du das erkennen, was dich damals glücklich gemacht hat, und kannst dir das wünschen. Tu es, mir zuliebe, mein Junge!«

Augustus schloss die Augen und sah auf sein Leben zurück, wie man aus einem dunklen Gange nach jenem fernen Lichtpunkt sieht, von dem man hergekommen ist, und er sah wieder, wie es einst hell und schön um ihn gewesen und dann langsam dunkler und dunkler geworden war, bis er ganz im Finstern stand und nichts ihn mehr erfreuen konnte. Und je mehr er nachdachte und sich erinnerte, desto schöner und liebenswerter und begehrenswerter blickte der ferne kleine Lichtschein herüber, und schließlich erkannte er ihn, und Tränen stürzten aus seinen Augen.

»Ich will es versuchen«, sagte er zu seinem Paten. »Nimm den alten Zauber von mir, der mir nicht geholfen hat, und gib mir dafür, dass ich die Menschen liebhaben kann!«

Weinend kniete er vor seinem alten Freunde und fühlte schon im Niedersinken, wie die Liebe zu diesem alten Manne in ihm brannte und nach vergessenen Worten und Gebärden rang. Der Pate aber nahm ihn sanft, der kleine Mann, auf seine Arme und trug ihn zum Lager, da legte er ihn nieder und strich ihm die Haare aus der heißen Stirn.

»Es ist gut«, flüsterte er ihm leise zu, »es ist gut, mein Kind, es wird alles gut werden.«

Darüber fühlte Augustus sich von einer schweren Müdigkeit überfallen, als sei er im Augenblick um viele Jahre gealtert, er fiel in einen tiefen Schlaf, und der alte Mann ging still aus dem verlassenen Hause.

Augustus erwachte von einem wilden Lärm, der das hallende Haus erfüllte, und als er sich erhob und die nächste Tür öffnete, fand er den Saal und alle Räume voll von seinen ehemaligen Freunden, die zu dem Fest gekommen waren und das Haus leer gefunden hatten. Sie waren erbost und enttäuscht, und er ging ihnen entgegen, um sie alle wie sonst mit einem Lächeln und einem Scherzwort zurückzugewinnen; aber er fühlte plötzlich, dass diese Macht von ihm gewichen war. Kaum sahen sie ihn, so begannen sie alle zugleich auf ihn einzuschreien, und als er hilflos lächelte und abwehrend die Hände ausstreckte, fielen sie wütend über ihn her.

»Du Gauner«, schrie einer, »wo ist das Geld, das du mir schuldig bist?« Und ein anderer: »Und das Pferd, das ich dir geliehen habe?« Und eine hübsche, zornige Frau: »Alle Welt weiß meine Geheimnisse, die du ausgeplaudert hast. O wie ich dich hasse, du Scheusal!« Und ein hohläugiger junger Mensch schrie mit verzerrtem Gesicht: »Weißt du, was du aus mir gemacht hast, du Satan, du Jugendverderber?«

Und so ging es weiter, und jeder häufte Schmach und Schimpf auf ihn, und jeder hatte recht, und viele schlugen ihn, und als sie gingen und im Gehen die Spiegel zerschlugen und viele von den Kostbarkeiten mitnahmen, erhob sich Augustus vom Boden, geschlagen und verunehrt, und als er in sein Schlafzimmer trat und in den Spiegel blickte, um sich zu waschen, da schaute sein Gesicht ihm welk und hässlich entgegen, die roten Augen tränten, und von der Stirne tropfte Blut.

»Das ist die Vergeltung«, sagte er zu sich selber und wusch das Blut von seinem Gesicht, und kaum hatte er sich ein wenig besonnen, da drang von neuem Lärm ins Haus und Menschen kamen die Treppen heraufgestürmt: Geldleiher, denen er sein Haus verpfändet hatte, und ein Gatte, dessen Frau er verführt hatte, und Väter, deren Söhne durch ihn verlockt ins Laster und Elend gekommen waren, und entlassene Diener und Mägde, Polizei und Advokaten, und eine Stunde später saß er gefesselt in einem Wagen und wurde ins Gefängnis geführt. Hinterher schrie das Volk und sang Spottlieder, und ein Gassenjunge warf durchs Fenster dem Davongeführten eine Handvoll Kot ins Gesicht.

Da war die Stadt voll von den Schandtaten dieses Menschen, den so viele gekannt und geliebt hatten. Kein Laster, dessen er nicht angeklagt war, und keines, das er verleugnete. Menschen, die er lange vergessen hatte, standen vor den Richtern und sagten Dinge aus, die er vor Jahren getan hatte; Diener, die er beschenkt und die ihn bestohlen, erzählten die Geheimnisse seiner Laster, und jedes Gesicht war voll von Abscheu und Hass, und keiner war da, der für ihn sprach, der ihn lobte, der ihn entschuldigte, der sich an Gutes von ihm erinnerte.

Er ließ alles geschehen, ließ sich in die Zelle und aus der Zelle vor die Richter und vor die Zeugen führen, er blickte verwundert und traurig aus kranken Augen in die vielen bösen, entrüsteten, gehässigen Gesichter, und in jedem sah er unter der Rinde von Hass und Entstellung einen heimlichen Liebreiz und Schein des Herzens glimmen. Alle diese hatten ihn einst geliebt, und er keinen von ihnen, nun tat er allen Abbitte und suchte bei jedem sich an etwas Gutes zu erinnern.

Am Ende wurde er in ein Gefängnis gesteckt, und niemand durfte zu ihm kommen, da sprach er in Fieberträumen mit seiner Mutter und mit seiner ersten Geliebten, mit dem Paten Binßwanger und mit der nordischen Dame vom Schiff, und wenn er erwachte und furchtbare Tage einsam und verloren saß, dann litt er alle Pein der Sehnsucht und Verlassenheit und schmachtete nach dem Anblick von Menschen, wie er nie nach irgendeinem Genüsse oder nach irgendeinem Besitz geschmachtet hatte.

Und als er aus dem Gefängnis kam, da war er krank und alt, und niemand kannte ihn mehr. Die Welt ging ihren Gang, man fuhr und ritt und promenierte in den Gassen, Früchte und Blumen, Spielzeug und Zeitungen wurden feilgeboten, nur an Augustus wandte sich niemand. Schöne Frauen, die er einst bei Musik und Champagner in seinen Armen gehalten hatten, fuhren in Equipagen an ihm vorbei, und hinter ihren Wagen schlug der Staub über Augustus zusammen.

Die furchtbare Leere und Einsamkeit aber, in welcher er mitten in seinem prächtigen Leben erstickt war, die hatte ihn ganz verlassen. Wenn er in ein Haustor trat, um sich für Augenblicke vor der Sonnenglut zu schützen, oder wenn er im Hof eines Hinterhauses um einen Schluck Wasser bat, dann wunderte er sich darüber, wie mürrisch und feindselig ihn die Menschen anhörten, dieselben, die ihm früher auf stolze und lieblose Worte dankbar und mit leuchtenden Augen geantwortet hatten. Ihn aber freute und ergriff und rührte jetzt der Anblick jedes Menschen, er liebte die Kinder, die er spielen und zur Schule gehen sah, und er liebte die alten Leute, die vor ihrem Häuschen auf der Bank saßen und die welken Hände an der Sonne wärmten. Wenn er einen jungen Burschen sah, der ein Mädchen mit sehnsüchtigen Blicken verfolgte, oder einen Arbeiter, der heimkehrend am Feierabend seine Kinder auf die Arme nahm, oder einen feinen, klugen Arzt, der still und eilig im Wagen dahinfuhr und an seine Kranken dachte, oder auch eine arme, schlechtgekleidete Dirne, die am Abend in der Vorstadt bei einer Laterne wartete und sogar ihm, dem Verstoßenen, ihre Liebe anbot, dann waren alle diese seine Brüder und Schwestern, und jeder trug die Erinnerung an eine geliebte Mutter und an eine bessere Herkunft oder das heimliche Zeichen einer schöneren und edleren Bestimmung an sich und jeder war ihm lieb und merkwürdig und gab ihm Anlass zum Nachdenken, und keiner war schlechter, als er selbst sich fühlte. Augustus beschloss, durch die Welt zu wandern und einen Ort zu suchen, wo es ihm möglich wäre, den Menschen irgendwie zu nützen und ihnen seine Liebe zu zeigen. Er musste sich daran gewöhnen, dass sein Anblick niemanden mehr froh machte; sein Gesicht war eingefallen, seine Kleider und Schuhe waren die eines Bettlers, auch seine Stimme und sein Gang hatten nichts mehr von dem, was einst die Leute erfreut und bezaubert hatte. Die Kinder fürchteten ihn, weil sein struppiger grauer Bart lang herunterhing, die Wohlgekleideten scheuten seine Nähe, in der sie sich unwohl und beschmutzt fühlten, und die Armen misstrauten ihm als einem Fremden, der ihnen ihre paar Bissen wegschnappen wollte. So hatte er Mühe, den Menschen zu dienen. Aber er lernte und ließ sich nichts verdrießen. Er sah ein kleines Kind sich nach der Türklinke des Bäckerladens strecken und sie mit dem Händchen nicht erreichen. Dem konnte er helfen, und manchmal fand sich auch einer, der noch ärmer war als er selbst, ein Blinder oder Gelähmter, dem er ein wenig auf seinem Wege helfen und wohltun konnte. Und wo er das nicht konnte, da gab er doch freudig das wenige, was er hatte, einen hellen, gütigen Blick und einen brüderlichen Gruß, eine Gebärde des Verstehens und des Mitleidens. Er lernte es auf seinen Wegen den Leuten ansehen, was sie von ihm erwarteten, woran sie Freudehaben würden: der eine an einem lauten, frischen Gruß, der andere an einem stillen Blick und wieder einer daran, dass man ihm auswich und ihn nicht störte. Er wunderte sich täglich, wieviel Elend es auf der Welt gäbe, und wie vergnügt doch die Menschen sein können, und er fand es herrlich und begeisternd, immer wieder zu sehen, wie neben jedem Leid ein frohes Lachen, neben jedem Totengeläut ein Kindergesang, neben jeder Not und Gemeinheit eine Artigkeit, ein Witz, ein Trost, ein Lächeln zu finden war.

Das Menschenleben schien ihm vorzüglich eingerichtet. Wenn er um die Ecke bog, und es kam ihm eine Horde Schulbuben entgegengesprungen, wie blitzte da Mut und Lebenslust und junge Schönheit aus allen Augen, und wenn sie ihn ein wenig hänselten und plagten, so war das nicht so schlimm: es war sogar zu begreifen, er fand sich selber, wenn er sich in einem Schaufenster oder beim Trinken im Brunnen gespiegelt sah, recht welk und dürftig von Ansehen. Nein, für ihn konnte es sich nicht mehr darum handeln, den Leuten zu gefallen oder Macht auszuüben, davon hatte er genug gehabt. Für ihn war es jetzt schön und erbaulich, andere auf jenen Bahnen streben und sich fühlen zu sehen, die er einst gegangen war, und wie alle Menschen so eifrig und mit soviel Kraft und Stolz und Freude ihren Zielen nachgingen, das war ihm ein wunderbares Schauspiel.

Indessen wurde es Winter und wieder Sommer, Augustus lag lange Zeit in einem Armenspital krank, und hier genoss er still und dankbar das Glück, arme, niedergeworfene Menschen mit hundert zähen Kräften und Wünschen am Leben hängen und den Tod überwinden zu sehen. Herrlich war es, in den Zügen der Schwerkranken die Geduld und in den Augen der Genesenden die helle Lebenslust gedeihen zu sehen, und schön waren auch die stillen, würdigen Gesichter der Gestorbenen, und schöner als dies alles war die Liebe und Geduld der hübschen, reinlichen Pflegerinnen. Aber auch diese Zeit ging zu Ende, der Herbstwind blies, und Augustus wanderte weiter, dem Winter entgegen, und eine seltsame Ungeduld ergriff ihn, als er sah, wie unendlich langsam er vorwärts kam, da er doch noch überall hinkommen und noch so vielen, vielen Menschen in die Augen sehen wollte. Sein Haar war grau geworden, und seine Augen lächelten blöde hinter roten, kranken Lidern, und allmählich war auch sein Gedächtnis trübe geworden, so dass ihm schien, er habe die Welt niemals anders gesehen als heute; aber er war zufrieden und fand die Welt durchaus herrlich und liebenswert.

So kam er mit dem Einbruch des Winters in eine Stadt; der Schnee trieb durch die dunkeln Straßen, und ein paar späte Gassenbuben warfen dem Wanderer Schneeballen nach, sonst aber war alles schon abendlich still. Augustus war sehr müde, da kam er in eine schmale Gasse, die schien ihm wohlbekannt, und wieder in eine, und da stand seiner Mutter Haus und das Haus des Paten Binßwanger, klein und alt im kalten Schneetreiben, und beim Paten war ein Fenster hell, das schimmerte rot und friedlich durch die Winternacht.

Augustus ging hinein und pochte an die Stubentür, und der kleine Mann kam ihm entgegen und führte ihn schweigend in seine Stube, da war es warm und still und ein kleines, helles Feuer brannte im Kamin.

»Bist du hungrig?« fragte der Pate. Aber Augustus war nicht hungrig, er lächelte nur und schüttelte den Kopf.

»Aber müde wirst du sein?« fragte der Pate wieder, und er breitete sein altes Fell auf dem Boden aus, und da kauerten die beiden alten Leute nebeneinander und sahen ins Feuer.

»Du hast einen weiten Weg gehabt«, sagte der Pate.

»Oh, es war sehr schön, ich bin nur ein wenig müde geworden. Darf ich bei dir schlafen? Dann will ich morgen weitergehen.«

»Ja, das kannst du. Und willst du nicht auch die Engel wieder tanzen sehen?«

»Die Engel? O ja, das will ich wohl, wenn ich einmal wieder ein Kind sein werde.«

»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen«, fing der Pate wieder an. »Du bist so hübsch geworden, deine Augen sind wieder so gut und sanft wie in der alten Zeit, wo deine Mutter noch am Leben war. Es war freundlich von dir, mich zu besuchen.«

Der Wanderer in seinen zerrissenen Kleidern saß zusammengesunken neben seinem Freunde. Er war noch nie so müde gewesen, und die schöne Wärme und der Feuerschein machten ihn verwirrt, so dass er zwischen heute und damals nicht mehr deutlich unterscheiden konnte.

»Pate Binßwanger«, sagte er, »ich bin wieder unartig gewesen, und die Mutter hat daheim geweint. Du mußt mit ihr reden und ihr sagen, dass ich wieder gut sein will. Willst du?«

»Ich will«, sagte der Pate, »sei nur ruhig, sie hat dich ja lieb.«

Nun war das Feuer kleingebrannt, und Augustus starrte mit denselben großen schläfrigen Augen in die schwache Röte, wie einstmals in seiner früheren Kindheit, und der Pate nahm seinen Kopf auf den Schoß, eine feine, frohe Musik klang zart und selig durch die finstere Stube, und tausend kleine, strahlende Geister kamen geschwebt und kreisten frohmütig in kunstvollen Verschlingungen umeinander und in Paaren durch die Luft. Und Augustus schaute und lauschte und tat alle seine zarten Kindersinne weit dem wiedergefundenen Paradiese auf.

Einmal war ihm, als habe ihn seine Mutter gerufen; aber er war zu müde, und der Pate hatte ihm ja versprochen, mit ihr zu reden. Und als er eingeschlafen war, legte ihm der Pate die Hände zusammen und lauschte an seinem still gewordenen Herzen, bis es in der Stube völlig Nacht geworden war.

(1913)
Fragen

1. Was hat für Augustus seine Mutter gewünscht?

2. Was ungewöhnliches gab es im Zimmer des Paten von Augustus?

3. Warum hat der Mutterwunsch Augustus unglücklich gemacht?

4. Welches Wunsch hat Augustus selbst gewählt? Warum?

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