Книга: Märchen / Сказки. Книга для чтения на немецком языке
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Traumfährte



Es war ein Mann, der übte den wenig angesehenen Beruf eines Unterhaltungsschriftstellers aus, gehörte aber immerhin zu jener kleineren Zahl der Literaten, die ihren Beruf nach Möglichkeit ernst nehmen und welchen von einigen Schwärmern eine ähnliche Verehrung entgegengebracht wird, wie sie in früheren Zeiten, als es noch eine Dichtung und Dichter gab, den wirklichen Dichtern dargebracht zu werden pflegte. Dieser Literat schrieb allerlei hübsche Sachen, er schrieb Romane, Erzählungen und auch Gedichte, und gab sich dabei die erdenklichste Mühe, seine Sache gut zu machen. Es glückte ihm jedoch selten, seinem Ehrgeiz Genüge zu tun, denn er machte, obwohl er sich für bescheiden hielt, den Fehler, sich anmaßenderweise nicht mit seinen Kollegen und Zeitgenossen, den ändern Unterhaltungsschriftstellern, zu vergleichen und an ihnen zu messen, sondern an den Dichtern der vergangenen Zeit – an jenen also, welche sich schon über Generationen hinweg bewährt hatten, und da musste er denn zu seinem Schmerze immer wieder bemerken, dass auch die beste und geglückteste Seite, die er je geschrieben, noch hinter dem verlorensten Satz oder Vers jedes wirklichen Dichters weit zurückstand. So wurde er immer unzufriedener und verlor alle Freude an seiner Arbeit, und wenn er noch je und je eine Kleinigkeit schrieb, so tat er es nur, um dieser Unzufriedenheit und inneren Dürre in Form von bitteren Kritiken an seiner Zeit und an sich selbst ein Ventil und einen Ausdruck zu geben, und natürlich wurde dadurch nichts besser. Manchmal auch versuchte er wieder in die verzauberten Gärten der reinen Dichtung zurückzufinden und huldigte der Schönheit in hübschen Sprachgebilden, worin er der Natur, den Frauen, der Freundschaft sorgfältige Denkmäler errichtete, und diese Dichtungen hatten in der Tat eine gewisse Musik in sich und eine Ähnlichkeit mit den echten Dichtungen echter Dichter, an welche sie erinnerten wie etwa eine flüchtige Verliebtheit oder Rührung einen Geschäfts – und Weltmann gelegentlich an seine verlorene Seele erinnern kann.

Eines Tages in der Zeit zwischen Winter und Frühling saß dieser Schriftsteller, der so gern ein Dichter gewesen wäre, und sogar von manchen für einen gehalten wurde, wieder an seinem Schreibtisch. Wie gewohnt, war er spät aufgestanden, erst gegen Mittag, nachdem er die halbe Nacht gelesen hatte. Nun saß er und starrte auf die Stelle des Papiers, an welcher er gestern zu schreiben aufgehört hatte. Es standen kluge Dinge auf diesem Papier, in einer geschmeidigen und kultivierten Sprache vorgetragen, feine Einfalle, kunstvolle Schilderungen, manche schöne Rakete und Leuchtkugel stieg aus diesen Zeilen und Seiten auf, manches zarte Gefühl klang an – dennoch aber war der Schreibende enttäuscht von dem, was er auf seinem Papier las, ernüchtert saß er vor dem, was er gestern abend mit einer gewissen Freude und Begeisterung begonnen hatte, was gestern eine Abendstunde lang wie Dichtung ausgesehen und sich nun über Nacht doch eben wieder in Literatur verwandelt hatte, in leidiges beschriebenes Papier, um das es eigentlich schade war.

Wieder auch fühlte und bedachte er in dieser etwas kläglichen Mittagsstunde, was er schon manche Male gefühlt und bedacht hatte, nämlich die sonderbare Tragikomik seiner Lage, die Torheit seines heimlichen Anspruches auf echtes Dichtertum (da es doch echtes Dichterrum in der heutigen Wirklichkeit nicht gab noch geben konnte) und die Kindlichkeit und dumme Vergeblichkeit seiner Anstrengungen, mit Hilfe seiner Liebe zur alten Dichtung, mit Hilfe seiner hohen Bildung, mit Hilfe seines feinen Gehörs für die Worte der echten Dichter etwas erzeugen zu wollen, was echter Dichtung gleichkam oder doch bis zum Verwechseln ähnlich sah (da er doch recht wohl wusste, dass aus Bildung und aus Nachahmung überhaupt nichts erzeugt werden kann).

Halb und halb war ihm auch bekannt und bewusst, dass die hoffnungslose Streberei und kindliche Illusion all seiner Bemühungen keineswegs nur eine vereinzelte und persönliche Angelegenheit sei, sondern dass jeder Mensch, auch der scheinbar Normale, auch der scheinbar Glückliche und Erfolgreiche ebendieselbe Torheit und hoffnungslose Selbsttäuschung in sich hege, dass jeder Mensch beständig und immerzu nach irgend etwas Unmöglichem strebe, dass auch der Unscheinbarste das Ideal des Adonis, der Dümmste das Ideal des Weisen, der Ärmste das Wunschbild des Krösus in sich trage. Ja, halb und halb wusste er sogar, dass es auch mit jenem so hochverehrten Ideal der »echten Dichtung« nichts sei, dass Goethe zu Homer oder Shakespeare ganz ebenso hoffnungslos als zu etwas Unerreichbarem emporgeblickt habe, wie ein heutiger Literat etwa zu Goethe emporblicken mochte, und dass der Begriff »Dichter« nur eine holde Abstraktion sei, dass auch Homer und Shakespeare nur Literaten gewesen seien, begabte Spezialisten, welchen es gelungen war, ihren Werken jenen Anschein des Überpersönlichen und Ewigen zu geben. Halb und halb wusste er dies alles, so wie kluge und des Denkens gewohnte Menschen diese selbstverständlichen und schrecklichen Dinge eben zu wissen vermögen. Er wusste oder ahnte, dass auch ein Teil seiner eigenen Schreibversuche auf Leser einer späteren Zeit vielleicht den Eindruck einer »echten Dichtung« machen würde, dass spätere Literaten vielleicht zu ihm und seiner Zeit mit Sehnsucht zurückblicken würden wie zu einem goldenen Zeitalter, wo es noch wirkliche Dichter, wirkliche Gefühle, wirkliche Menschen, eine wirkliche Natur und einen wirklichen Geist gegeben habe. Es hatte, wie ihm bekannt war, der behäbige Kleinstädter der Biedermeierzeit und der feiste Kleinbürger eines mittelalterlichen Städtchens schon ebenso kritisch und ebenso sentimental seine eigene, rafinierte, verdorbene Zeit in Gegensatz gebracht zu einem unschuldigen, naiven, seligen Gestern, und hatte seine Großväter und ihre Lebensweise mit derselben Mischung aus Neid und Mitleid betrachtet, mit welcher der heutige Mensch die selige Zeit vor der Erfindung der Dampfmaschine zu betrachten geneigt ist.

Alle diese Gedanken waren dem Literaten geläufig, alle diese Wahrheiten waren ihm bekannt. Er wusste: dasselbe Spiel, dasselbe gierige, edle, hoffnungslose Streben nach etwas Gültigem, Ewigem, an sich selbst Wertvollem, das ihn zum Vollschreiben von Papierblättern antrieb, trieb auch alle anderen an: den General, den Minister, den Abgeordneten, die elegante Dame, den Kaufmannslehrling. Alle Menschen strebten irgendwie, sei es noch so klug oder noch so dumm, über sich selbst und über das Mögliche hinaus, befeuert von heimlichen Wunschbildern, geblendet von Vorbildern, gelockt von Idealen. Kein Leutnant, der nicht den Gedanken an Napoleon in sich trug – und kein Napoleon, der nicht zuzeiten sich selbst als Affen, seine Erfolge als Spielmünzen, seine Ziele als Illusionen empfunden hätte. Keiner, der nicht diesen Tanz mitgetanzt hätte. Keiner auch, der nicht irgendwann in irgendeiner Spalte das Wissen um diese Täuschung gespürt hätte. Gewiss, es gab Vollendete, es gab Menschgötter, es gab einen Buddha, es gab einen Jesus, es gab einen Sokrates. Aber auch sie waren vollendet und vom Allwissen ganz und gar durchdrungen gewesen nur in einem einzigen Augenblick, im Augenblick ihres Sterbens. Ihr Sterben war ja nichts anderes gewesen als das letzte Durchdrungenwerden vom Wissen, als die letzte, endlich geglückte Hingabe. Und möglicherweise hatte jeder Tod diese Bedeutung, möglicherweise war jeder Sterbende ein sich Vollendender, der den Irrrum des Strebens ablegte, der sich hingab, der nichts mehr sein wollte.

Diese Art von Gedanken, sowenig kompliziert sie auch ist, stört den Menschen sehr im Streben, im Tun, im Weiterspielen seines Spiels. Und so ging es auch mit der Arbeit des strebsamen Dichters in dieser Stunde nicht vorwärts. Es gab kein Wort, das würdig gewesen wäre, niedergeschrieben zu werden, es gab keinen Gedanken, dessen Mitteilung wirklich notwendig gewesen wäre. Nein, es war schade um das Papier, es war besser, es unbeschrieben zu lassen.

Mit diesem Gefühl legte der Literat seine Feder weg und steckte seine Papierblätter in die Schublade; wäre ein Feuer zur Hand gewesen, so hätte er sie ins Feuer gesteckt. Die Situation war ihm nicht neu, es war eine schon oft gekostete, eine gleichsam schon gezähmte und geduldig gewordene Verzweiflung. Er wusch sich die Hände, zog Hut und Mantel an und ging aus. Ortsveränderung war eines seiner längst bewährten Hilfsmittel, er wusste, dass es nicht gut war, in solcher Stimmung lange im selben Räume mit alldem beschriebenen und unbeschriebenen Papier zu bleiben. Besser war es, auszugehen, die Luft zu fühlen und die Augen am Bilderspiel der Straße zu üben. Es konnte sein, dass schöne Frauen ihm begegneten, oder dass er einen Freund antraf, dass eine Horde Schulkinder oder irgendeine drollige Spielerei in einem Schaufenster ihn auf andere Gedanken brachten, es konnte sich begeben, dass das Automobil eines der Herren dieser Welt, eines Zeitungsverlegers oder eines reichen Bäckermeisters, ihn an einer Straßenecke überfuhr: lauter Möglichkeiten zur Änderung der Lage, zur Schaffung neuer Zustände.

Langsam schlenderte er durch die Vorfrühlingsluft, sah in den traurigen kleinen Rasenstücken vor den Mietshäusern nickende Büsche von Schneeglöckchen stehen, atmete feuchte laue Märzluft, die ihn verführte, in einen Park einzubiegen. Dort an der Sonne zwischen den kahlen Bäumen setze er sich auf eine Bank, schloss die Augen und gab sich dem Spiel der Sinne in dieser verfrühten Fühlingssonnenstunde hin: wie weich die Luft sich an die Wangen legte, wie voll versteckter Glut die Sonne schon kochte, wie streng und bang der Erdboden duftete, wie freundlich spielerisch zuweilen kleine Kinderschuhe über den Kies der Wege trappelten, wie hold und allzu süß irgendwo im nackten Gehölz eine Amsel sang. Ja, dies alles war sehr schön, und da der Frühling, die Sonne, die Kinder, die Amsel lauter uralte Dinge waren, an welchen schon vor tausend und tausend Jahren der Mensch seine Freude hatte, so war es eigentlich nicht zu verstehen, warum man nicht am heutigen Tage ebensogut ein schönes Frühlingsgedicht sollte machen können wie vor fünfzig oder hundert Jahren. Und doch war es nichts damit. Die leiseste Erinnerung an Unlands Frühlingslied (allerdings mit der Schubertmusik, deren Vorspiel so fabelhaft durchdringend und erregend nach Vorfrühling schmeckt) war hinreichend, um einem heutigen Dichter auf das eindringlichste zu zeigen, dass jene entzückenden Dinge für eine Weile zu Ende gedichtet seien und dass es keinen Sinn habe, jene so unausschöpflich vollen, selig atmenden Gestaltungen irgend nachahmen zu wollen. In diesem Augenblick, als des Dichters Gedanken eben im Begriffe waren, wieder in jene alten unfruchtbaren Spuren einzulenken, blinzelte er hinter geschlossenen Lidern hervor aus schmaler Augenspalte und nahm, nicht mit den Augen allein, ein lichtes Wehen und Blinken wahr, Sonnenscheininseln, Lichtreflexe, Schattenlöcher, weiß durchwehtes Blau am Himmel, einen flimmernden Reigen bewegter Lichter, wie jeder ihn beim Blinzeln gegen die Sonne sieht, nur aber irgendwie betont, auf irgendeine Art wertvoll und einzig, durch irgendeinen geheimen Gehalt aus bloßer Wahrnehmung zu Erlebnis geworden. Was da vielleicht aufblitzte, wehte, verschwamm, wellte und mit Flügeln schlug, das war nicht bloß Lichtsturm von außen, und sein Schauplatz war nicht bloß das Auge, es war zugleich Leben, aufwallender Trieb von innen, und sein Schauplatz war die Seele, war das eigene Schicksal. Auf diese Weise sehen die Dichter, die »Seher«, auf diese entzückende und erschütternde Art sehen jene, die vom Eros angerührt worden sind. Verschwunden war der Gedanke an Unland und Schubert und Frühlingslieder, es gab keinen Unland, keine Dichtung, keine Vergangenheit mehr, alles war ewiger Augenblick, war Erlebnis, war innerste Wirklichkeit.





Dem Wunder hingegeben, das er nicht zum ersten Male erlebte, zu welchem er aber die Berufung und Gnade längst verscherzt zu haben gemeint hatte, schwebte er unendliche Augenblicke im Zeitlosen, im Einklang von Seele und Welt, fühlte seinen Atem die Wolken leiten, fühlte die warme Sonne in seiner Brust sich drehen.





Indem er aber, dem seltenen Erlebnis hingegeben, aus blinzelnden Augen vor sich hinabstarrte, alle Sinnestore halb geschlössen haltend, weil er wohl wusste, dass der holde Strom von innen käme – nahm er in seiner Nähe am Boden etwas wahr, was ihn fesselte. Es war, wie er nur langsam und allmählich erkannte, der kleine Fuß eines Mädchens, eines Kindes noch, er stak in braunem Lederhalbschuh und trat auf dem Sand des Weges fest und fröhlich einher, mit dem Gewicht auf dem Absatz. Dieser kleine Mädchenschuh, dies Braun des Leders, dieses kindlich frohe Auftreten der kleinen Sohle, dieses Stückchen Seidenstrumpf überm zarten Knöchel erinnerte den Dichter an etwas, überwallte sein Herz plötzlich und mahnend wie das Gedächtnis eines wichtigen Erlebnisses, doch vermochte er den Faden nicht zu finden. Ein Kinderschuh, ein Kinderfuß, ein Kinderstrumpf – was ging dies ihn an? Wo war dazu der Schlüssel? Wo war die Quelle in seiner Seele, die gerade diesem Bilde unter Millionen Antwort gab, es liebte, es an sich zog, es als lieb und wichtig empfand? Einen Augenblick schlug er das Auge ganz auf, sah einen halben Herzschlag lang die ganze Figur des Kindes, eines hübschen Kindes, spürte aber sofort, dass dies schon nicht mehr jenes Bild sei, das ihn anginge, das für ihn wichtig sei, und kniff unwillkürlich blitzschnell die Augen wieder so weit zu, dass er nur noch für den Rest eines Augenblickes den entschwindenden Kinderfuß sehen konnte. Dann schloss er die Augen ganz und gar, dem Fuß nachsinnend, seine Bedeutung fühlend, doch nicht wissend, gepeinigt vom vergeblichen Suchen, beseligt von der Kraft dieses Bildes in seiner Seele. Irgendwo, irgendwann war dieses Bildchen, dieser kleine Fuß im braunen Schuh von ihm erlebt und mit Erlebniswert durchtränkt worden. Wann war das gewesen? Oh, es musste vor langer Zeit gewesen sein, vor Urzeiten, so weit schien es zu liegen, so von fern, so aus unausdenklicher Raumtiefe herauf blickte es ihn an, so tief war es in den Brunnen seines Gedächtnisses gesunken. Vielleicht trug er es, verloren und bis heute nie wiedergefunden, schon seit der ersten Kindheit in sich herum, seit jener fabelhaften Zeit, deren Erinnerungen alle so verschwommen und unbildlich sind, und so schwer zu rufen, und doch farbenstärker, wärmer, voller als alle späteren Erinnerungen. Lange wiegte er den Kopf, mit geschlossenen Augen, lang sann er hin und wider, sah diesen, sah jenen Faden in sich aufblitzen, diese Reihe, jene Kette von Erlebnissen, aber in keiner war das Kind, war der braune Kinderschuh zu Hause. Nein, es war nicht zu finden, es war hoffnungslos, dies Suchen fortzusetzen.

Es ging ihm mit dem Erinnerungen-Suchen wie es einem geht, der das dicht vor ihm Stehende nicht zu erkennen vermag, weil er es für weit entfernt hält und darum alle Formen umdeutet. In dem Augenblick nun aber, da er seine Bemühungen aufgab und eben bereit war, dies lächerliche kleine Blinzel-Erlebnis fallenzulassen und zu vergessen, rückte die Sache sich um und der Kinderschuh an seine rechte Stelle. Mit einem tiefen Aufseufzen empfand der Mann plötzlich, dass im angehäuften Bildersaal seines Innern der Kinderschuh nicht zuunterst lag, nicht zum uralten Gut gehörte, sondern ganz frisch und neu war. Eben erst hatte er mit diesem Kinde zu tun gehabt, eben erst, so schien ihm, hatte er diesen Schuh hinweglaufen sehen.

Und nun mit einem Schlag hatte er es. Ja, ach ja, da war es, da stand das Kind, zu dem der Schuh gehörte, und war ein Stück aus einem Traum, den der Schriftsteller in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Mein Gott, wie war ein solches Vergessen möglich? Mitten in der Nacht war er aufgewacht, beglückt und erschüttert von der geheimnisvollen Kraft seines Traumes, war erwacht und hatte das Gefühl gehabt, ein wichtiges, herrliches Erlebnis gehabt zu haben – und dann war er nach kurzem wieder eingeschlafen, und eine Stunde Morgenschlaf hatte genügt, das ganze herrliche Erlebnis wieder auszulöschen, so dass er erst in dieser Sekunde wieder, durch den flüchtigen Anblick des Kinderfußes geweckt, daran gedacht hatte. So flüchtig, so vergänglich, so ganz dem Zufall preisgegeben waren die tiefsten, die wunderbarsten Erlebnisse unserer Seele! Und siehe, auch jetzt gelang es ihm nicht mehr, den ganzen Traum dieser Nacht vor sich aufzubauen. Nur vereinzelte Bilder, zum Teil ohne Zusammenhang, waren noch zu finden, einige frisch und voll Lebensglanz, andre schon grau und bestaubt, schon im Verschwimmen begriffen. Und was für ein schöner, tiefer, beseelter Traum war das doch gewesen! Wie hatte ihm bei jenem ersten Erwachen in der Nacht das Herz geschlagen, entzückt und bang wie an Festtagen der Kinderzeit! Wie hatte ihn das lebendige Gefühl durchströmt, mit diesem Traum etwas Edles, Wichtiges, Unvergessliches, Unverlierbares erlebt zu haben! Und jetzt, diese paar Stunden später, war gerade noch dieses Bruchstückchen da, diese paar schon verwehenden Bildchen, dieser schwache Nachhall im Herzen – alles andre war verloren, war vergangen, hatte kein Leben mehr!

Immerhin, dies wenige war nun gerettet. Der Schriftsteller fasste alsbald den Entschluss, in seinem Gedächtnis alles zusammenzusuchen, was von dem Traume noch darin übrig wäre, um es aufzuschreiben, so treu und genau wie möglich. Alsbald zog er ein Notizbuch aus der Tasche und machte die ersten Aufzeichnungen in Stichworten, um womöglich den Aufbau und Umriss des ganzen Traumes, die Hauptlinien wieder aufzufinden. Aber auch dies glückte nicht. Weder Anfang noch Ende des Traumes war mehr zu erkennen, und von den meisten der noch vorhandenen Bruchstücke wusste er nicht, an welche Stelle der Traumgeschichte sie gehörten. Nein, er musste anders beginnen. Er musste vor allem das retten, was noch erreichbar war, musste die paar noch nicht erloschenen Bilder, vor allem den Kinderschuh, sofort festhalten, ehe auch sie entflogen, diese scheuen Zaubervögel.

So wie ein Totengräber die gefundene Inschrift auf einem uralten Steine abzulesen versucht, ausgehend von den wenigen noch erkennbaren Buchstaben oder Bildzeichen, so suchte unser Mann seinen Traum zu lesen, indem er Stückchen um Stückchen zusammensetzte.

Er hatte im Traum irgend etwas mit einem Mädchen zu tun gehabt, einem seltsamen, vielleicht nicht eigentlich schönen, aber irgendwie wunderbaren Mädchen, das vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, aber an Gestalt kleiner als dies Alter war. Ihr Gesicht war gebräunt gewesen. Ihre Augen? Nein, die sah er nicht. Ihr Name? Nicht bekannt. Ihre Beziehung zu ihm, dem Träumer? Halt, da war der braune Schuh! Er sah diesen Schuh samt seinem Zwillingsbruder sich bewegen, sah ihn tanzen, sah ihn Tanzschritte machen, die Schritte eines Boston. O ja, nun wusste er eine Menge wieder. Er musste von neuem beginnen.

Also: Er hatte im Traum mit einem wunderbaren, fremden, kleinen Mädchen getanzt, einem Kinde mit gebräuntem Gesicht, in braunen Schuhen – war nicht alles an ihr braun gewesen? Auch das Haar? Auch die Augen? Auch die Kleider? Nein, das wusste er nicht mehr – es war zu vermuten, es schien möglich, aber gewiss war es nicht. Er musste beim Gewissen bleiben, bei dem, worauf sich sein Gedächtnis tatsächlich stützte, sonst kam er ins Uferlose. Schon jetzt begann er zu ahnen, dass diese Traumsuche ihn weit hinwegführen würde, dass er da einen langen, einen endlosen Weg begonnen habe. Und eben jetzt wieder fand er ein Stück.

Ja, er hatte mit der Kleinen getanzt, oder tanzen wollen, oder sollen, und sie hatte, noch für sich allein, eine Reihe von frischen, sehr elastischen und entzückend straffen Tanzschritten getan. Oder hatte er doch mit ihr getanzt, war sie nicht allein gewesen? Nein. Nein, er hatte nicht getanzt, er hatte es nur gewollt, vielmehr es war so verabredet worden, von ihm und irgend jemandem, dass er mit dieser kleinen Braunen tanzen solle. Aber zu tanzen hatte dann doch nur sie allein begonnen, ohne ihn, und er hatte sich ein wenig vor dem Tanzen gefürchtet oder geniert, es war ein Boston, den konnte er nicht gut. Sie aber hatte zu tanzen begonnen, allein, spielend, wundervoll rhythmisch, mit ihren kleinen braunen Schuhen hatte sie sorgfältig die Figuren des Tanzes auf den Teppich geschrieben. Aber warum hatte er selbst nicht getanzt? Oder warum hatte er ursprünglich tanzen wollen? Was war das für eine Verabredung gewesen? Das konnte er nicht finden.

Es meldete sich eine andere Frage: Wem hatte das liebe kleine Mädchen geglichen, an wen erinnerte sie? Lange suchte er vergeblich, alles schien wieder hoffnungslos, und einen Augenblick wurde er geradezu ungeduldig und verdrießlich, beinahe hätte er alles wieder aufgegeben. Aber da war schon wieder ein Einfall da, eine neue Spur glänzte auf. Die Kleine hatte seiner Geliebten geglichen – o nein, geglichen hatte sie ihr nicht, er war sogar darüber erstaunt gewesen, sie ihr so wenig ähnlich zu finden, obwohl sie doch ihre Schwester war. Halt! Ihre Schwester? O da sprang ja die ganze Spur wieder leuchtend auf, alles bekam Sinn, alles war wieder da. Er begann von neuem aufzuzeichnen, hingerissen von der plötzlich hervortretenden Inschrift, wie entzückt von der Wiederkehr der verloren geglaubten Bilder.

So war es gewesen: Im Traum war seine Geliebte dagewesen, Magda, und zwar war sie nicht wie in der letzten Zeit zänkisch und böser Laune gewesen, sondern überaus freundlich, etwas still, aber vergnügt und hübsch. Magda hatte ihn mit einer besonderen stillen Zärtlichkeit begrüßt, ohne Kuss, sie hatte ihm die Hand gegeben und ihm erzählt, jetzt wolle sie ihn endlich mit ihrer Mutter bekannt machen, und dort bei der Mutter werde er dann ihre jüngere Schwester kennenlernen, die ihm später zur Geliebten und Frau bestimmt sei. Die Schwester sei sehr viel jünger als sie und tanze sehr gern, er werde sie am raschesten gewinnen, wenn er mit ihr tanzen gehe.

Wie schön war Magda in diesem Traume gewesen! Wie hatte alles Besondere, Liebliche, Seelenvolle, Zarte ihres Wesens, so wie es in seinen Vorstellungen von ihr zur Zeit seiner größten Liebe gelebt hatte, aus ihren frischen Augen, aus ihrer klaren Stirn, aus ihrem vollen duftenden Haar geleuchtet!

Und dann hatte sie ihn im Traume in ein Haus geführt, in ihr Haus, ins Haus ihrer Mutter und Kindheit, in ihr Seelenhaus, um ihm dort ihre Mutter zu zeigen und ihre kleine schönere Schwester, damit er diese Schwester kennenlerne und liebe, denn sie sei ihm zur Geliebten bestimmt. Er konnte sich aber des Hauses nicht mehr erinnern, nur einer leeren Vorhalle, in welcher er hatte warten müssen, und auch der Mutter konnte er sich nicht mehr entsinnen, nur eine alte Frau, eine grau oder schwarzgekleidete Bonne oder Pflegerin war im Hintergrunde sichtbar gewesen. Dann aber war die Kleine gekommen, die Schwester, ein entzückendes Kind, ein Mädchen von etwa zehn oder elf Jahren, im Wesen aber wie eine Vierzehnjährige. Besonders ihr Fuß in dem braunen Schuh war so kindlich gewesen, so völlig unschuldig, lachend und unwissend, so noch gar nicht damenhaft und doch so weiblich! Sie hatte seine Begrüßung freundlich aufgenommen, und Magda war von diesem Augenblick an verschwunden, es war nur noch die Kleine da. Sich an Magdas Rat erinnernd, schlug er ihr vor, zu tanzen. Und da hatte sie alsbald aufstrahlend genickt und ohne Zögern zu tanzen begonnen, allein, und er hatte sich nicht getraut, sie zu umfassen und mitzutanzen, einmal, weil sie so schön und vollkommen war in ihrem kindlichen Tanz, und dann auch, weil das, was sie tanzte, ein Boston war, ein Tanz, in dem er sich nicht sicher fühlte.

Mitten zwischen seinen Bemühungen, der Traumbilder wieder habhaft zu werden, musste der Literat einen Augenblick über sich selbst lächeln. Es fiel ihm ein, dass er soeben noch gedacht hatte, wie unnütz es sei, sich um ein neues Frühlingsgedicht zu bemühen, da doch dies alles längst unübertreflich gesagt sei – aber wenn er an den Fuß des tanzenden Kindes dachte, an die leichten holden Bewegungen der braunen Schuhe, an die Sauberkeit der Tanzfigur, die sie auf den Teppich schrieben, und daran, wie über all dieser hübschen Grazie und Sicherheit doch ein Hauch von Befangenheit, ein Duft von Mädchenscheu gelegen hatte, dann war ihm klar, dass man bloß diesem Kinderfuß ein Lied zu singen brauchte, um alles zu übertreffen, was die früheren Dichter je über Frühling und Jugend und Liebesahnung gesagt hatten. Aber kaum waren seine Gedanken auf dies Gebiet hinüber abgeirrt, kaum hatte er begonnen, flüchtig mit dem Gedanken an ein Gedicht »An einen Fuß im braunen Schuh« zu spielen, da fühlte er mit Schrecken, dass der ganze Traum ihm wieder entgleiten wollte, dass all die seligen Bilder undicht wurden und wegschmolzen. Ängstlich zwang er seine Gedanken zur Ordnung, und fühlte doch, dass der ganze Traum, mochte er seinen Inhalt auch aufgeschrieben haben, ihm in diesem Augenblick doch schon nicht mehr ganz und gar gehöre, dass er fremd und alt zu werden beginne. Und er fühlte auch sofort, dass dies immer so sein werde: dass diese entzückenden Bilder ihm stets nur so lange zu eigen gehören und seine Seele mit ihrem Duft erfüllen würden, als er mit ganzem Herzen bei ihnen verweilte, ohne Nebengedanken, ohne Absichten, ohne Sorgen.

Nachdenklich trat der Dichter seinen Heimweg an, den Traum vor sich her tragend wie ein unendlich krauses, unendlich zerbrechliches Spielzeug aus dünnstem Glase. Er war voll Bangen um seinen Traum. Ach, wenn es ihm nur glücken würde, die Gestalt der Traumgeliebten ganz wieder in sich aufzubauen! Aus dem braunen Schuh, aus der Tanzfigur, aus dem Schimmer von Braun im Gesicht der Kleinen, aus diesen wenigen kostbaren Resten das Ganze wiederherzustellen, das schien ihm wichtiger als alles andere auf der Welt. Und musste es nicht in der Tat unendlich wichtig für ihn sein? War nicht diese anmutige Frühlingsgestalt ihm zur Geliebten versprochen, war sie nicht aus den tiefsten und besten Quellen seiner Seele geboren, ihm als Sinnbild seiner Zukunft, als Ahnung seiner Schicksalsmöglichkeiten, als sein eigenster Traum vom Glücke entgegengetreten? – Und während er bangte, war er doch im Innersten unendlich froh. War es nicht wunderbar, dass man solche Dinge träumen konnte, dass man diese Welt aus luftigstem Zaubermaterial in sich trug, dass innen in unserer Seele, in der wir so oft verzweifelt wie in einem Trümmerhaufen vergebens nach irgendeinem Rest von Glauben, von Freude, von Leben gesucht haben, dass innen in dieser Seele solche Blumen aufwachsen konnten?

Zu Hause angekommen, schloss der Literat die Tür hinter sich ab und legte sich auf einen Ruhestuhl. Das Notizbuch mit seinen Aufzeichnungen in der Hand, las er aufmerksam die Stichworte durch, und fand, dass sie wertlos seien, dass sie nichts gaben, dass sie nur hinderten und verbauten. Er riss die Blätter aus und vernichtete sie sorgfältig, und beschloss, nichts mehr aufzuschreiben. Unruhig lag er und suchte Sammlung, und plötzlich kam ein Stück des Traumes wieder hervor, plötzlich sah er sich wieder im fremden Hause in jener kahlen Vorhalle warten, sah im Hintergrunde eine besorgte alte Dame im dunkeln Kleide hin und wider gehen, fühlte noch einmal den Augenblick des Schicksals: dass jetzt Magda gegangen sei, um ihm seine neue, jüngere, schönere, seine wahre und ewige Geliebte zuzuführen. Freundlich und besorgt blickte die alte Frau zu ihm herüber – und hinter ihren Zügen und hinter ihrem grauen Kleide tauchten andere Züge und andre Kleider auf, Gesichter von Wärterinnen und Pflegerinnen aus seiner eigenen Kindheit, das Gesicht und graue Hauskleid seiner Mutter. Und aus dieser Schicht von Erinnerungen, aus diesem mütterlichen, schwesterlichen Kreise von Bildern also fühlte er die Zukunft, die Liebe ihm entgegenwachsen. Hinter dieser leeren Vorhalle, unter den Augen besorgter, lieber, treuer Mütter und Mägde war das Kind herangediehen, dessen Liebe ihn beglücken, dessen Besitz sein Glück, dessen Zukunft seine eigne sein sollte.

Auch Magda sah er nun wieder, wie sie ihn ohne Kuss so sonderbar zärtlich-ernst begrüßte, wie ihr Gesicht noch einmal, wie im Abendgoldlicht, allen Zauber umschloss, den es einst für ihn gehabt, wie sie im Augenblick des Verzichtens und Abschiednehmens noch einmal in aller Liebenswürdigkeit ihrer seligsten Zeiten strahlte, wie ihr vertieftes und verdichtetes Gesicht die Jüngere, Schönere, Wahre, Einzige vorausverkündete, welche ihm zuzuführen und gewinnen zu helfen sie gekommen war. Sie schien ein Sinnbild der Liebe selbst zu sein, ihrer Demut, ihrer Wandlungsfähigkeit, ihrer halb mütterlichen, halb kindlichen Zauberkraft. Alles, was er je in diese Frau hineingesehen, hineingeträumt, hineingewünscht und gedichtet hatte, alle Verklärung und Anbetung, die er ihr einst in der hohen Zeit seiner Liebe dargebracht hatte, war in ihrem Gesicht gesammelt, ihre ganze Seele, samt seiner eigenen Liebe war Gesicht geworden, strahlte sichtbar aus ernsten, holden Zügen, lächelte traurig und freundlich aus ihren Augen. War es möglich, von einer solchen Geliebten Abschied zu nehmen? Aber ihr Blick sagte: es muss Abschied genommen werden, es muss Neues geschehen.

Und herein auf kleinen flinken Kinderfüßen kam das Neue, kam die Schwester, aber ihr Gesicht war nicht zu sehen, nichts von ihr war deutlich zu sehen als dass sie klein und zierlich war, in braunen Schuhen stak, Braunes im Gesicht und Braunes im Gewand hatte, und dass sie mit einer entzückenden Vollendung tanzen konnte. Und zwar Boston – den Tanz, den ihr zukünftiger Geliebter gar nicht gut konnte. Mit gar nichts anderem konnte die Überlegenheit des Kindes über den Erwachsenen, Erfahrenen, oft Enttäuschten besser ausgedrückt werden als damit, dass sie so frei und schlank und fehlerlos tanzte, und ausgerechnet den Tanz, worin er schwach, worin er ihr hoffnungslos unterlegen war!

Den ganzen Tag blieb der Literat mit seinem Traum beschäftigt, und je tiefer er in ihn eindrang, desto schöner schien er ihm, desto mehr schien er ihm alle Dichtungen der besten Dichter zu übertreffen. Lange Zeit, manche Tage lang hing er dem Wunsche und Plane nach, diesen Traum so aufzuschreiben, dass er nicht nur für den Träumer selbst, sondern auch für andere diese unnennbare Schönheit, Tiefe und Innigkeit habe. Spät erst gab er diese Wünsche und Versuche auf, und sah, dass er sich damit begnügen müsse, in seiner Seele ein echter Dichter zu sein, ein Träumer, ein Seher, dass sein Handwerk aber das eines bloßen Literaten bleiben müsse.

(1926)
Fragen

1. Warum gefiel dem Schriftsteller sein eigenes Schaffen nicht?

2. Welches Mädchen hat er in Traum gesehen?

3. Was hat ihm in Traum seine Geliebte erzählt?

4. Wie wollte der Schriftsteller diesen Traum nützen?

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