Комментарии, задания И. О. Ситниковой
Впервые опубликовано на немецком языке как “Die Nacht von Lissabon” von Erich Maria Remarque
© Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH&Co. KG, Cologne/Germany, 1962, 1988, 1998
© Издательско-полиграфический центр КАРО, 2011
Erich Maria Remarque gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Roman-Autoren des XX. Jahrhunderts. Seine Bücher erreichten Millionenauflagen und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Er wurde am 22. Juni 1898 als Erich Paul Remark in Osnabrück geboren. 1916 wurde er eingezogen, im Juni 1917 kam er als Rekrut an die Westfront nach Belgien, wo er einige Wochen später von einem Granatsplitter verwundet wurde. Die Erlebnisse während des Krieges sollten ihn entscheidend prägen.
1919 aus der Armee entlassen, arbeitete er u. a. als Verkäufer von Grabsteinen, als Volksschullehrer und als Journalist. In dieser Zeit schrieb Erich Maria Remarque sein erstes Buch: den Roman „Die Trambude“. Der Roman „Im Westen nichts Neues“ (1929) machte ihn finanziell unabhängig, 1931 veröffentlichte er den Roman »Der Weg zurück«, in dem er die Heimkehr der Kriegsversehrten ins Nachkriegsdeutschland schilderte.
1933 fielen seine Bücher wegen „Literarischen Verrats am Soldaten des Weltkriegs“ der Bücherverbrennung der Nazis zum Opfer, Erich Maria Remarque verließ Deutschland. Er ging ins Exil in die USA, deren Staatsbürgerschaft er 1947 annahm.
Weitere Veröffentlichungen waren: „Drei Kameraden“ (1938), „Liebe Deinen Nächsten“ (1941), „Arc de Triomphe“ (1946), „Der Funke Leben“ (1952), „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ (1954), „Der schwarze Obelisk“ (1956). „Die letzte Station“ (1956), „Der Himmel kennt keine Günstlinge“ (1961), „Die Nacht von Lissabon“ (1962) und „Schatten im Paradies“ (posthum 1971).
Remarque starb am 25. September 1970 in Locarno.
Erich Maria Remarque greift in seinen zahlreichen Romanen immer wieder die Themen Krieg, Faschismus und Flucht auf. In „Die Nacht von Lissabon“ verarbeitet er ganz persönliche Erlebnisse aus der Zeit des Hitlerfaschismus. Zu Freiwild geworden, flüchten Menschen über die Schweiz nach Paris, nach Marseille, durch Spanien nach Lissabon. Von dort legen die Schiffe ab, die zum rettenden Kontinent Amerika übersetzen. Remarque schildert an der Geschichte des Josef Schwarz die unmenschlichen Strapazen, die tödlichen Gefahren dieser Flucht, aber auch Menschlichkeit und gegenseitige Hilfe unter Gleichgesinnten. In besagter Nacht von Lissabon erzählt Schwarz sein bisheriges Leben einem Fremden, den er für sein geduldiges Zuhören mit zwei Schiffskarten und gültigen Einreisevisa in die USA belohnt. Am Ende der Erzählung – ein neuer Tag ist inzwischen angebrochen – resümiert Josef Schwarz, dessen todkranke Frau freiwillig aus dem Leben geschieden ist, es wäre „ein Verbrechen, ein Leben mit Selbstmord zu verschwenden, das man gegen Barbaren … einsetzen kann“.
Ich starrte auf das Schiff. Es lag ein Stück vom Quai entfernt, grell beleuchtet, im Tejo*. Obschon ich seit einer Woche in Lissabon war, hatte ich mich noch immer nicht an das sorglose Licht dieser Stadt gewöhnt. In den Ländern, aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben, und eine Laterne in der Dunkelheit war gefährlicher als die Pest im Mittelalter. Ich kam aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts.
Das Schiff war ein Passagierdampfer, der beladen wurde. Ich wusste, dass es am nächsten Abend abgehen sollte. Im harten Schein der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven, Brot und Gemüse verstaut; Arbeiter schleppten Gepäck an Bord, und ein Kran schwang Kisten und Ballen so lautlos herauf, als wären sie ohne Gewicht. Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut*. Es war eine Arche*. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1940 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat* war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das Gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisen, der unerreichbaren Arbeits-und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles.
Ich war nachmittags im Casino von Estoril gewesen, um zu spielen. Ich besaß noch einen guten Anzug, und man hatte mich hineingelassen. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, das Schicksal zu bestechen. Unsere portugiesische Aufenthaltserlaubnis lief in wenigen Tagen ab, und Ruth und ich hatten keine anderen Visa. Das Schiff, das im Tejo lag, war das letzte, mit dem wir in Frankreich gehofft hatten, New York zu erreichen; aber es war seit Monaten ausverkauft, und uns hätten, außer der amerikanischen Einreiseerlaubnis, auch noch über dreihundert Dollar Fahrgeld gefehlt. Ich hatte versucht, wenigstens das Geld zu bekommen, in der einzigen Art, die hier noch möglich war – durch Spielen. Es war sinnlos gewesen, denn selbst wenn ich gewonnen hätte, hätte immer noch ein Wunder geschehen müssen, um auf das Schiff zu kommen. Doch auf der Flucht und in Verzweiflung und Gefahr lernt man, an Wunder zu glauben; sonst würde man nicht überleben. Ich hatte von den zweiundsechzig Dollars, die wir noch besessen hatten, sechsundfünfzig verloren.
Der Quai war in der späten Nacht ziemlich leer. Nach einer Weile bemerkte ich jedoch einen Mann, der ziellos hin und her ging, dann stehenblieb und ebenso zu dem Schiff hinüberstarrte wie ich. Ich nahm an, er sei auch einer der vielen Gestrandeten, und beachtete ihn nicht weiter, bis ich spürte, dass er mich beobachtete. Die Furcht vor der Polizei verlässt den Flüchtling nie, nicht einmal im Schlaf, auch wenn er nichts zu fürchten hat – deshalb drehte ich mich sofort scheinbar gelangweilt um und verließ langsam den Quai wie jemand, der vor nichts Angst zu haben braucht.
Kurz darauf hörte ich Schritte hinter mir. Ich ging weiter, ohne schneller zu werden, während ich überlegte, wie ich Ruth benachrichtigen könne, wenn ich verhaftet würde. Die pastellfarbenen Häuser, die am Ende des Quais wie Schmetterlinge in der Nacht schliefen, waren noch zu weit entfernt, als dass ich, ohne Gefahr, angeschossen zu werden, zu ihnen hatte hinüberlaufen können, um in den Gassen zu verschwinden.
Der Mann war jetzt neben mir. Er war etwas kleiner als ich. „Sind Sie Deutscher?“ fragte er auf deutsch.
Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.
„Österreicher?“
Ich antwortete nicht. Ich sah auf die pastellfarbenen Häuser, die viel zu langsam näher kamen. Ich wusste, dass es portugiesische Polizisten gab, die sehr gut deutsch sprachen.
„Ich bin kein Polizist“, sagte der Mann.
Ich glaubte ihm nicht. Er war in Zivil, aber Gendarmen in Zivil hatten mich ein halbes dutzendmal in Europa festgenommen. Ich hatte zwar jetzt Ausweispapiere bei mir, die nicht schlecht gemacht waren, in Paris von einem Mathematikprofessor aus Prag, aber sie waren etwas gefälscht.
„Ich sah Sie, wie Sie das Schiff betrachteten“, sagte der Mann. „Deshalb dachte ich…“
Ich streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick. Er sah nicht aus wie ein Polizist; aber der letzte Gendarm, der mich in Bordeaux* erwischt hatte, hatte so erbarmungswürdig ausgesehen wie Lazarus* nach drei Tagen im Grabe, und er war der unbarmherzigste von allen gewesen. Er hatte mich verhaftet, obschon er wusste, dass die deutschen Truppen in einem Tage in Bordeaux sein sollten, und ich wäre verloren gewesen, hätte mich ein barmherziger Gefängnisdirektor nicht ein paar Stunden später freigelassen.
„Möchten Sie nach New York?“ fragte der Mann.
Ich antwortete nicht. Ich brauchte nur noch zwanzig Meter, um ihn niederstoßen und entfliehen zu können, wenn es notwendig war.
„Hier sind zwei Fahrkarten für das Schiff, das drüben liegt“, sagte der Mann und griff in seine Tasche.
Ich sah die Scheine. Ich konnte sie im schwachen Licht nicht lesen. Aber wir waren jetzt weit genug gekommen. Ich konnte riskieren, stehenzubleiben.
„Was soll das alles?“ fragte ich auf portugiesisch. Ich kannte ein paar Worte davon.
„Sie können sie haben“, sagte der Mann. „Ich brauche sie nicht.“
„Sie brauchen sie nicht? Was heißt das?“
„Ich brauche sie nicht mehr.“
Ich starrte den Mann an. Ich begriff ihn nicht. Er schien tatsächlich kein Polizist zu sein. Um mich festzunehmen, hätte er solche ausgefallenen Tricks nicht nötig gehabt. Aber wenn die Fahrscheine echt waren, weshalb konnte er sie dann nicht gebrauchen? Und wozu bot er sie mir an? Um sie zu verkaufen? Etwas in mir begann zu zittern.
„Ich kann sie nicht kaufen“, sagte ich schließlich auf deutsch. „Sie sind ein Vermögen wert. Es soll in Lissabon reiche Emigranten geben; die werden Ihnen dafür zahlen, was Sie verlangen. Sie sind an den Falschen gekommen. Ich habe kein Geld.“
„Ich will sie nicht verkaufen“, sagte der Mann.
Ich blickte wieder auf die Scheine. „Sind sie echt?“
Er reichte sie mir, ohne zu antworten. Sie knisterten in meinen Händen. Sie waren echt. Sie zu besitzen war der Unterschied zwischen Untergang und Rettung. Selbst wenn ich sie nicht benutzen konnte, weil wir keine amerikanischen Visa hatten, konnte ich morgen vormittag noch versuchen, daraufhin welche zu bekommen – oder ich konnte sie zumindest verkaufen. Das bedeutete sechs Monate mehr Leben. Ich verstand den Mann nicht.
„Ich verstehe Sie nicht“, sagte ich.
„Sie können sie haben“, erwiderte er. „Umsonst. Ich verlasse Lissabon morgen vormittag. Ich habe nur eine Bedingung.“
Ich ließ die Hände sinken. Ich hatte gewusst, dass es nicht wahr sein konnte. „Was?“ fragte ich.
„Ich möchte diese Nacht nicht allein bleiben.“
„Sie wollen, dass wir zusammenbleiben?“
„Ja. Bis morgen früh.“
„Das ist alles?“
„Das ist alles.“
„Sonst nichts?“
„Sonst nichts.“
Ungläubig blickte ich den Mann an. Ich war zwar daran gewöhnt, dass Leute unserer Art manchmal zusammenbrachen; dass sie oft nicht allein bleiben konnten; dass sie die Platzangst von Menschen bekamen, für die nirgendwo mehr Platz ist; und dass ein Genosse in einer Nacht, sei er auch noch so fremd, einen vor dem Selbstmord bewahren konnte; aber es war dann selbstverständlich, dass man sich half; man setzte keine Preise dafür aus. Und nicht solche. „Wo wohnen Sie?“ fragte ich.
Er machte eine abwehrende Bewegung. „Dahin will ich nicht. Gibt es keine Kneipe, in der man noch sitzen kann?“
„Es gibt sicher noch welche.“
„Gibt es keine für Emigranten? So wie das Cafe de la Rose in Paris?“
Ich kannte das Cafe de la Rose. Ruth und ich hatten dort zwei Wochen geschlafen. Der Wirt erlaubte es einem, wenn man einen Kaffee bestellte. Man brachte ein paar Zeitungen mit und legte sich auf den Boden. Ich hatte nie auf den Tischen geschlafen; vom Fußboden konnte man nicht herunterfallen.
„Ich weiß keines“, erwiderte ich. Ich wusste eines; aber man führt einen Mann, der zwei Schiffskarten verschenken wollte, nicht dahin, wo Leute ein Auge hergegeben hätten, um sie zu bekommen.
„Ich kenne hier nur ein einziges Lokal“, sagte der Mann. „Aber wir können es versuchen. Vielleicht ist es noch offen.“
Er winkte ein einsames Taxi heran und sah mich an.
„Gut“, sagte ich.
Wir stiegen ein, und er nannte dem Chauffeur eine Adresse. Ich hätte gern Ruth noch benachrichtigt, dass ich die Nacht nicht zurückkäme; aber plötzlich, als ich in das schlecht riechende, dunkle Taxi einstieg, sprang mich eine so wilde, entsetzliche Hoffnung an, dass ich fast taumelte. Vielleicht war dies alles wirklich wahr; vielleicht war unser Leben noch nicht zu Ende, und das Unmögliche wurde Tatsache: unsere Rettung. Ich getraute mich nicht mehr, den Fremden auch nur eine Sekunde allein zu lassen.
Wir umfuhren die theatralische Kulisse der Praca do Comercio und kamen nach einiger Zeit in ein Gewirr von Treppen und Gassen, die aufwärts führten. Ich kannte diesen Teil Lissabons nicht; ich kannte, wie immer, hauptsächlich die Kirchen und die Museen – nicht weil ich Gott oder die Kunst so liebte, sondern einfach, weil man in Kirchen und Museen nicht nach seinen Papieren gefragt wurde. Vor dem Gekreuzigten und den Meistern der Kunst war man noch Mensch – nicht ein Individuum mit zweifelhaften Ausweisen.
Wir verließen das Taxi und stiegen die Treppen und winkligen Gassen empor. Es roch nach Fischen, Knoblauch, Nachtblumen, toter Sonne und Schlaf. Das Kastell St. George wuchs im steigenden Mond zur Seite aus der Nacht, und das Licht stürzte wie ein Wasserfall in Kaskaden die vielen Stufen hinab. Ich wandle mich um und sah zum Hafen hinunter. Da unten war der Fluss, und der Fluss war die Freiheit, er war das Leben, er mündete in das Meer, und das Meer war Amerika.
Ich blieb stehen. „Ich hoffe, Sie machen keine Scherze mit mir“, sagte ich.
„Nein“, erwiderte der Mann.
„Keine Scherze mit den Schiffskarten, meine ich.“ Er hatte sie auf dem Quai wieder in seine Tasche gesteckt,
„Nein“, sagte der Mann, „ich mache keine Scherze.“ Er zeigte auf einen kleinen Platz, der von Bäumen eingefasst war.,,Da drüben ist das Lokal, das ich meine. Es ist noch offen. Wir fallen nicht auf. Es kommen fast nur Ausländer dahin. Man wird uns für Leute halten, die morgen reisen werden. So wie die andern, die dort ihre letzte Nacht in Portugal feiern und morgen aufs Schiff gehen.“
Das Lokal war eine Art von Bar mit einem kleinen Viereck zum Tanzen und einer Terrasse, ein Platz, zurechtgemacht für den Touristenverkehr. Man hörte eine Gitarre und sah im Hintergrund eine Fadosängerin*. Auf der Terrasse waren einige Tische mit Fremden besetzt. Eine Frau in einem Abendkleid und ein Mann in einem weißen Smoking waren dabei. Wir fanden einen Platz am Ende der Terrasse. Man konnte auf Lissabon hinabsehen, auf die Kirchen im blassen Licht, die erleuchteten Straßen, den Hafen, die Docks und auf das Schiff, das eine Arche war.
„Glauben Sie an ein Weiterleben nach dem Tode?“ fragte der Mann mit den Billetts.
Ich blickte auf. Ich hätte alles andere erwartet. Es war eine zu unvermutete Frage. „Ich weiß es nicht“, erwiderte ich schließlich. „Ich war in den letzten Jahren zu sehr mit dem Weiterleben vor dem Tode beschäftigt. Wenn ich in Amerika bin. werde ich gern darüber nachdenken“, fügte ich hinzu, um ihn daran zu erinnern, dass er mir die Billetts versprochen hatte.
„Ich glaube nicht daran“, sagte er.
Ich atmete auf. Ich war bereit, einem Unglücklichen zuzuhören, aber ich hätte nicht gern diskutiert. Ich hatte keine Ruhe dazu. Unten lag das Schiff.
Der Mann saß eine Zeitlang da, als schliefe er mit offenen Augen. Dann, als der Gitarrespieler auf die Terrasse kam, wachte er auf. „Ich heiße Schwarz“, sagte er. „Es ist nicht mein richtiger Name; er ist der, der auf meinem Pass steht. Aber ich habe mich an ihn gewöhnt, und er wird für heute nacht genügen. Waren Sie lange in Frankreich?“
„Solange es ging.“
„Interniert?“
„Als der Krieg ausbrach. Wie alle andern.“
Der Mann nickte. „Wir auch. Ich war glücklich“, sagte er dann plötzlich leise und rasch, den Kopf gesenkt, die Augen abgewandt. „Ich war sehr glücklich. Glücklicher, als ich je geglaubt hätte, sein zu können.“
Ich drehte mich überrascht um. Er sah wahrhaftig nicht so aus. Er wirkte eher wie ein mittelmäßiger, etwas schüchterner Mann.
„Wann?“ fragte ich. „Etwa im Lager?“
„Im letzten Sommer.“
„1939? In Frankreich?“
„Ja. Im Sommer vor dem Kriege. Ich begreife jetzt noch nicht, wie alles kam. Deshalb muss ich mit jemand darüber reden. Ich kenne niemand hier. Wenn ich mit jemand darüber rede, wird es noch einmal dasein. Es wird mir dann ganz klar werden. Und es wird bleiben. Ich muss es nur noch einmal…“ Er brach ab. „Verstehen Sie?“ fragte er nach einer Weile.
„Ja“, erwiderte ich und fügte behutsam hinzu: „Es ist nicht schwer zu verstehen, Herr Schwarz,“ „Es ist überhaupt nicht zu verstehen!“ erwiderte er, plötzlich heftig und leidenschaftlich. „Sie liegt da unten in einem Zimmer, in dem die Fenster geschlossen sind, in einem scheußlichen Holzsarg, tot, und sie ist es nicht mehr! Wer kann das verstehen? Niemand! Sie nicht und ich nicht, und niemand, und wer sagt, er verstehe es, der lügt!“
Ich schwieg und wartete. Ich hatte schon öfter so mit jemand gesessen, Verluste waren schwerer durchzustehen, wenn man ohne eigenes Land war. Nichts stützte einen dann, und die Fremde wurde schrecklich fremd. Ich hatte es in der Schweiz erlebt, als ich die Nachricht erhielt, dass man meine Eltern in Deutschland im Konzentrationslager umgebracht und verbrannt hatte. Ich hatte immerfort an die Augen meiner Mutter im Feuer des Ofens denken müssen. Es verfolgte mich jetzt noch.
„Ich nehme an, Sie wissen, was der Emigranten-Koller* ist“, sagte Schwarz ruhiger.
Ich nickte. Ein Kellner brachte eine Schüssel Garnelen*. Ich fühlte plötzlich, dass ich sehr hungrig war, und erinnerte mich daran, dass ich seit mittags nichts gegessen hatte. Unschlüssig sah ich zu Schwarz hinüber. „Essen Sie nur“, sagte er. „Ich werde warten.“
Er bestellte Wein und Zigaretten. Ich aß rasch. Die Garnelen waren frisch und würzig. „Es tut mir leid,“ sagte ich, „aber ich bin sehr hungrig.“
Ich beobachtete Schwarz, während ich aß. Er saß ruhig da und sah auf die theatralische Stadt hinunter, weder ungeduldig noch verärgert. Ich spürte etwas wie Zuneigung. Er schien mit den Geboten falschen Anstandes aufgeräumt zu haben und zu wissen, dass man hungrig sein und essen konnte, während neben einem jemand litt, ohne dass man deshalb gefühllos zu sein brauchte. Wenn man nichts für den andern tun konnte, war es ebenso gut, sein Brot zu essen, wenn man hungrig war, bevor es einem weggenommen wurde. Man wusste nie, wann es einem weggenommen wurde.
Ich schob den Teller beiseite und nahm eine Zigarette. Ich hatte lange nicht geraucht. Ich hatte das Geld gespart, um heute etwas mehr zum Spielen zu haben.
„Ich bekam den Koller im Frühjahr 39“, sagte Schwarz. „Ich war über fünf Jahre in der Emigration gewesen. Wo waren Sie im Herbst 38?“
„In Paris.“
„Ich auch. Ich hatte damals aufgegeben. Es war die Zeit vor dem Münchner Pakt*. Die Agonie der Angst. Ich versteckte und verteidigte mich zwar noch automatisch, aber ich hatte abgeschlossen. Es würde Krieg geben, und die Deutschen würden kommen und mich holen. Das war mein Schicksal. Ich hatte mich damit abgefunden.“
Ich nickte. „Es war die Zeit der Selbstmorde. Sonderbar, als die Deutschen eineinhalb Jahre später wirklich kamen, waren die Selbstmorde seltener.“
„Dann kam der Münchner Pakt“, sagte Schwarz. „Das Leben wurde einem plötzlich neu geschenkt in diesem Herbst 38! Es war von einer solchen Leichtigkeit, dass man unvorsichtig wurde. Die Kastanien blühten sogar zum zweitenmal in Paris, erinnern Sie sich? Ich wurde so leichtsinnig, dass ich mich wie ein Mensch fühlte und mich leider auch so benahm. Die Polizei fasste mich und steckte mich wegen wiederholter unerlaubter Einreise für vier Wochen ein. Dann begann das alte Spiel: ich wurde bei Basel über die Grenze geschoben, von den Schweizern zurückgeschickt, von den Franzo sen an einer anderen Stelle wieder hinübergebracht, eingesperrt – Sie kennen ja dieses Schachspiel mit Menschen…“
„Ich kenne es. Es war kein SPass im Winter. Schweizer Gefängnisse waren die besten. Warm wie Hotels.“
Ich begann wieder zu essen. Unangenehme Erinnerungen hatten etwas Gutes: sie überzeugen einen, dass man glücklich war, wenn man eine Sekunde vorher noch geglaubt hat, es nicht zu sein. Glück ist eine Sache von Graden. Wer das beherrscht, ist selten ganz unglücklich. Ich war glücklich in Schweizer Gefängnissen gewesen, weil es keine deutschen waren. Aber vor mir saß ja ein Mann, der behauptete, das Glück gepachtet zu haben, obschon irgendwo in Lissabon ein Holzsarg in einem ungelüfteten Zimmer stand.
„Als man mich das letztemal freiließ, drohte man mir, dass man mich nach Deutschland abschieben müsse, wenn man mich noch einmal ohne Papiere erwische“, erklärte Schwarz. „Es war nur eine Drohung; aber sie erschreckte mich. Ich fing an nachzu denken, was ich tun müsste, wenn es wirklich geschähe. Dann begann ich nachts zu träumen, ich wäre drüben und die SS wäre hinter mir her. Ich träumte es so oft, dass ich mich schließlich fürchtete einzuschlafen. Kennen Sie das auch?“
„Ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben,“ erwiderte ich. „Leider.“
„Eines Nachts träumte ich, dass ich in Osnabrück wäre, der Stadt, wo ich gelebt hatte und wo meine Frau noch wohnte. Ich stand in ihrem Zimmer und sah, dass sie krank war. Sie war sehr mager und weinte. Ich wachte verstört auf. Ich hatte sie über fünf Jahre nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Ich hatte ihr auch nie geschrieben, weil ich nicht wusste, ob ihre Post überwacht würde. Vor der Flucht hatte sie mir versprochen, sich von mir scheiden zu lassen. Es sollte ihr Schwierigkeiten ersparen. Einige Jahre glaubte ich auch, sie hätte es getan.“
Schwarz schwieg eine Weile. Ich fragte ihn nicht, weshalb er Deutschland verlassen hatte. Es gab dafür genug Gründe. Keiner von ihnen war interessant, denn jeder war ungerecht. Ein Opfer zu sein ist nicht interes sant. Er war entweder Jude, oder er hatte einer politischen Partei angehört, die dem bestehenden Regime feindlich war, oder er hatte Feinde, die plötzlich einflussreich geworden waren – es gab Dutzende von Gründen, um in Deutschland in ein Konzentrationslager gesteckt oder totgeschlagen zu werden.
„Es gelang mir, wieder nach Paris zu kommen“, sagte Schwarz. „Aber der Traum verließ mich nicht. Er kam wieder. Um dieselbe Zeit zerbrach auch die Illusion des Münchner Paktes. Im Frühjahr wusste man, dass es bestimmt Krieg geben würde. Man roch ihn, wie man einen Brand riecht, lange bevor man ihn sieht. Nur die Diplomatie der Welt hielt sich hilflos die Augen zu und träumte Wunschträume – von einem zweiten und dritten München, von allem, aber nur keinem Krieg. Nie hat es soviel Glauben an Wunder gegeben wie in unserer Zeit, wo es keine mehr gibt.“
„Es gibt noch welche,“ erwiderte ich. „Sonst wären wir alle nicht mehr am Leben.“
Schwarz nickte. „Sie haben recht. Private Wunder. Ich habe selbst eines erlebt. Es begann in Paris. Ich erbte plötzlich einen gültigen Pass. Es ist der Pass, der auf den Namen Schwarz lautet. Er gehörte einem Österreicher, mit dem ich im Cafe de la Rose bekannt geworden war. Der Mann starb und hinterließ mir den Pass und sein Geld. Er war erst vor drei Monaten angekommen. Ich hatte ihn im Louvre* kennengelernt – vor den Bildern der Impressionisten*. Ich verbrachte damals viele Nachmittage dort, um mich zu beruhigen. Wenn man vor diesen sonnegetränkten, stillen Landschaften stand, glaubte man nicht, dass eine Tierrasse, die so etwas schaffen konnte, gleichzeitig einen mörderischen Krieg vorhaben könne – eine Illusion, die den Blutdruck für eine Stunde etwas senkte. Der Mann mit dem Pass auf den Namen Schwarz saß oft vor den Seerosen- und Kathedralenbildern von Monet. Wir kamen ins Gespräch, und er erzählte mir, dass es ihm gelungen sei, nach der Machtergreifung in Österreich freizukommen und das Land zu verlassen, indem er auf sein Vermögen verzichtete. Es hatte aus einer Sammlung von Impressionisten bestanden, die an den Staat gefallen war. Er bedauerte es nicht. Solange in Museen Bilder ausgestellt wären, könne er sie wie seine eigenen betrachten, sagte er, ohne die Sorge um Feuer und Diebstahl zu haben. Außerdem wären in den Museen in Frankreich viel bessere Bilder, als er je besessen hatte. Anstatt an seine eigene limitierte Sammlung gekettet zu sein wie ein Vater au seine Familie, mit der Verpflichtung, die Seinen zu bevorzugen und dadurch beeinflusst zu werden, gehörten ihm nun alle Bilder in öffentlichen Sammlungen, ohne dass er dafür etwas tun müsse. Er war ein sonderbarer Mann, still, sanft und heiter trotz allem, was hinter ihm lag. Er hatte fast kein Geld mitnehmen dürfen; aber er hatte eine Anzahl alter Briefmarken gerettet. Briefmarken sind das Kleinste, um es zu verstecken, besser als Diamanten. Auf Diamanten kann man schlecht gehen, wenn man sie in den Schuhen versteckt hat und zum Verhör geführt wird. Sie sind auch nicht ohne große Verluste und viele Fragen zu verkaufen. Briefmarken sind für Sammler. Sammler fragen nicht viel.“
„Wie hat er sie herausbekommen?“ fragte ich, mit dem professionellen Interesse jedes Emigranten.
„Er hat alte, belanglose, geöffnete Briefe mitgenommen und die Marken zwischen das Futter und den Umschlag gesteckt. Die Zollbeamten revidierten die Briefe, nicht die Umschläge.“ „Gut“, sagte ich.
„Er hatte außerdem noch zwei kleine Porträts von Ingres* mitgenommen. Bleistiftzeichnungen. Er hatte sie in breite Passepartouts* und geschmacklose Talmirahmen gesteckt und behauptet, es seien Porträts seiner Eltern. Hinter die Passepartouts hatte er zwei Degas-Zeichnungen so geklebt, dass sie nicht zu sehen waren.“
„Gut“, sagte ich wieder.
„Er bekam einen Herzanfall im April und gab mir seinen Pass, die Marken, die er noch hatte, und die Zeichnungen. Er gab mir auch die Adressen von Leuten, die die Marken kaufen würden. Als ich am nächsten Morgen nach ihm sah, lag er tot in seinem Bett, und ich erkannte ihn kaum, so verändert hatte die Stille ihn. Ich nahm das Geld, das er noch besaß, und einen Anzug und etwas Wäsche mit mir. Er hatte mir am Tage vorher gesagt, es zu tun; es sei besser, Schicksalsgenossen bekämen es, als der Wirt.“
„Sie haben den Pass geändert?“ fragte ich. „Nur das Photo und das Geburtsjahr. Schwarz war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Unsere Vornamen waren gleich.“
„Wer hat es gemacht? Brünner?“
„Jemand aus München.“
„Das war Brünner, der Passdoktor, Er war sehr tüchtig.“
Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen. Er hatte manchem geholfen, besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefasst wurde, weil er abergläubisch war; er glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte. Vor der Emig ration hatte er eine kleine Druckerei in München gehabt.
„Wo ist er jetzt?“ fragte ich.
„Ist er nicht in Lissabon?“
Ich wusste es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.
„Es war merkwürdig, als ich den Pass hatte“, sagte Schwarz II. „Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Elysees*und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; – mit scharfer Stimme: „Schwarz!“, um sofort aufzuspringen und zu antworten: „Das bin ich!“ —, oder ich schnarrte, „Name!“ um sofort automatisch daherzuleiern: „Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898.“ Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Pass oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.
Ich verkaufte die beiden Ingres-Zeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.
Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Pass nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte…“
Schwarz sah mich an. „Sie kennen das ja sicher! Den Emigranten-Koller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde ge stampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!
Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie frü her zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissaros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum – aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr – sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern – an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen grünen Kirchtürme – und an meine Frau.
Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man so zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt – eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, dass Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermissten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern. Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzukla gen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland musste siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuss umgelegt werden, wenn ich Glück hatte? Der Pass, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, dass ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller*: ich hörte sie vom Hinterhof des Hotels um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Cafe de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte – bleich, mit trostlosen Augen – und dann wegglitt. Es war so deutlich, dass ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.
Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: dass sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlusslichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.
Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau* gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. „Finden Sie eine Frau“, sagte er.
Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen lässt mit dem schalen Geschmack, dass man sich missbraucht hat?
Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich musste zurück. Ich musste meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, dass sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich musste sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.
Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, dass Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland*, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg musste kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich musste mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wusste ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrükte tun.
Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkünde ten für jeden, der sie lesen konnte.
Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Pass auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.
Der Mann sah den Pass an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, dass er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Pass zurück.
„Sie haben vergessen, ihn zu stempeln“, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch.
Der Beamte lächelte. „Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?“
„Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.“
Der Mann stempelte den Pass und ging. Ich biss mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, dass der Pass mit dem Stempel schon etwas echter aussah.
In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wusste auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloss trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.
In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Cafe Greif – dem Gegenstück zum Cafe de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, dass es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, musste ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?
Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, dass ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?
Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wusste sofort, dass einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Pass wurde misstrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, dass der Pass gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, dass ich legal eingereist und „erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten, vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?“
Ich nickte. „Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muss. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zuwenig Zeit dazu. Zuwenig Ruhe.“
Schwarz schüttelte den Kopf. „Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt,“ „Konnten Sie es halten?“ fragte ich. „Das weiß ich nicht,“ erwiderte Schwarz langsam. „Das ist es ja, was ich herausfinden muss. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still erst, wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?“
Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erste Mal, dass er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.
„Ich habe es nie gekannt“, sagte ich. „Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?“
Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter. „Darling, warum müssen wir zurück?“ sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking. „Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.“