Wie Fabian nicht wusste, was er sagen sollte. – Candida und Jungfrauen, die nicht Fische essen dürfen. – Mosch Terpins literarischer Tee. – Der junge Prinz.
Fabian gedachte, als er den Richtsteig quer durch den Wald lief, dem kleinen wunderlichen Knirps, der vor ihm davongetrabt, doch wohl noch zuvorzukommen. Er hatte sich geirrt, denn aus dem Gebüsch heraustretend, gewahrte er ganz in der Ferne, wie noch ein anderer stattlicher Reiter sich zu dem Kleinen gesellte und wie nun beide in das Tor von Kerepes hineinritten. – «Hm!» sprach Fabian zu sich selbst, «ist der Nussknacker auf seinem großen Pferde auch schon vor mir angelangt, so komme ich doch noch zeitig genug zu dem Spektakel, den es geben wird bei seiner Ankunft. Ist das seltsame Ding wirklich ein Studiosus, so weiset man nach dem ’Geflügelten Ross’ und hält er dort an mit seinem gellenden Prr – Prr! – und wirft die Reitstiefel voran und sich selbst nach und tut, wenn die Bursche lachen, wild und trotzig – nun! dann ist das tolle Possenspiel fertig!»
Als Fabian nun die Stadt erreicht, glaubte er in den Straßen, auf dem Wege nach dem «Geflügelten Ross» lauter lachenden Gesichtern zu begegnen. Dem war aber nicht so. Alle Leute gingen ruhig und ernst vorüber. Ebenso ernsthaft spazierten auf dem Platz vor dem «Geflügelten Ross» mehrere Akademiker, die sich dort versammelt, miteinander sprechend, auf und nieder. Fabian war überzeugt, dass der Kleine wenigstens hier nicht angekommen sein müsse, da gewahrte er, einen Blick ins Tor des Gasthauses werfend, dass soeben das sehr kennbare Pferd des Kleinen nach dem Stall geführt wurde. Auf den ersten besten seiner Bekannten sprang er nun los und fragte, ob denn nicht ein ganz seltsamer wunderlicher Knirps herangetrabt sei. – Der, den Fabian fragte, wusste ebensowenig etwas davon als die übrigen, denen Fabian nun erzählte, was sich mit ihm und dem Däumling, der ein Student sein wollen, begeben. Alle lachten sehr, versicherten indessen, dass ein solches Ding, wie das, was er beschreibe, keineswegs angelangt. Wohl wären aber vor kaum zehn Minuten zwei sehr stattliche Reiter auf schönen Pferden im Gasthause zum «Geflügelten Ross» abgestiegen. «Saß der eine von ihnen auf dem Pferde, das eben nach dem Stall geführt wurde?» so fragte Fabian. «Allerdings,» erwiderte einer, «allerdings. Der, der auf jenem Pferde saß, war von etwas kleiner Statur, aber von zierlichem Körperbau, angenehmen Gesichtszügen und hatte die schönsten Lockenhaare, die man sehen kann. Dabei zeigte er sich als den vortrefflichsten Reiter, denn er schwang sich mit einer Behendigkeit, mit einem Anstande vom Pferde herab, wie der erste Stallmeister unseres Fürsten.» – «Und,» rief Fabian, «und verlor nicht die Reitstiefel und kugelte euch nicht vor die Füße?» – «Gott behüte,» erwiderten alle einstimmig, «Gott behüte! – was denkst du Bruder! solch ein tüchtiger Reiter wie der Kleine!» – Fabian wusste gar nicht, was er sagen sollte. Da kam Balthasar die Straße herab. Auf den stürzte Fabian los, zog ihn heran und erzählte, wie der kleine Knirps, der ihnen vor dem Tor begegnet und vom Pferde herabgefallen, hier eben angekommen sei und von allen für einen schönen Mann von zierlichem Gliederbau und für den vortreflfichsten Reiter gehalten werde. «Du siehst,» erwiderte Balthasar ernst und gelassen, «du siehst, lieber Bruder Fabian, dass nicht alle so wie du über unglückliche, von der Natur verwahrloste Menschen lieblos spottend herfallen.» – «Aber du mein Himmel,» fiel ihm Fabian ins Wort, «hier ist ja gar nicht von Spott und Lieblosigkeit die Rede, sondern nur davon, ob ein drei Fuß hohes Kerlein, der einem Rettich gar nicht unähnlich, ein schöner zierlicher Mann zu nennen?» – Balthasar musste, was Wuchs und Ansehen des kleinen Studenten betraf, Fabians Aussage bestätigen. Die andern versicherten, dass der kleine Reiter ein hübscher zierlicher Mann sei, wogegen Fabian und Balthasar fortwährend behaupteten, sie hätten nie einen scheußlicheren Däumling erblickt. Dabei blieb es, und alle gingen voll Verwunderung auseinander.
Der späte Abend brach ein, die beiden Freunde begaben sich zusammen nach ihrer Wohnung. Da fuhr es dem Balthasar, selbst wusste er nicht wie, heraus, dass er dem Professor Mosch Terpin begegnet, der ihn auf den folgenden Abend zu sich geladen. «Ei, du glücklicher,» rief Fabian, «ei, du überglücklicher Mensch! – da wirst du dein Liebchen, die hübsche Mamsell Candida, sehen, hören, sprechen!» – Balthasar, aufs Neue tief verletzt, riss sich los von Fabian und wollte fort. Doch besann er sich, blieb stehen und sprach, seinen Verdruss mit Gewalt niederkämpfend: «Du magst recht haben, lieber Bruder, dass du mich für einen albernen verliebten Gecken hältst, ich bin es vielleicht wirklich. Aber diese Albernheit ist eine tiefe schmerzhafte Wunde, die meinem Gemüt geschlagen, und die, auf unvorsichtige Weise berührt, im heftigeren Weh mich zu allerlei Tollheit aufreizen könnte. Darum, Bruder, wenn du mich wirklich lieb hast, so nenne mir nicht mehr den Namen Candida!» – «Du nimmst,» erwiderte Fabian, «du nimmst, mein lieber Freund Balthasar, die Sache wieder entsetzlich tragisch, und anders lässt sich das auch in deinem Zustande nicht erwarten. Aber um mit dir nicht in allerlei hässlichen Zwiespalt zu geraten, verspreche ich, dass der Name Candida nicht eher über meine Lippen kommen soll, bis du selbst mir Gelegenheit dazu gibst. Nur so viel erlaube mir heute noch zu sagen, dass ich allerlei Verdruss vorausgehe, in den dich dein Verliebtsein stürzen wird. Candida ist ein gar hübsches herrliches Mägdlein, aber zu deiner melancholischen, schwärmerischen Gemütsart passt sie ganz und gar nicht. Wirst du näher mit ihr bekannt, so wird ihr unbefangenes heitres Wesen dir Mangel an Poesie, die du überall vermissest, scheinen. Du wirst in allerlei wunderliche Träumereien geraten, und das Ganze wird mit entsetzlichem eingebildeten Weh und genügender Verzweiflung tumultuarisch enden. – Übrigens bin ich ebenso wie du auf morgen zu unserm Professor eingeladen, der uns mit sehr schönen Experimenten unterhalten wird! – Nun gute Nacht, fabelhafter Träumer! Schlafe, wenn du schlafen kannst vor solch wichtigem Tage wie der morgende!»
Damit verließ Fabian den Freund, der in tiefes Nachdenken versunken. – Fabian mochte nicht ohne Grund allerlei pathetische Unglücksmomente voraussehen, die sich mit Candida und Balthasar wohl zutragen konnten; denn beider Wesen und Gemütsart schien in der Tat Anlass genug dazu zu geben.
Candida war, jeder musste das eingestehen, ein bildhübsches Mädchen, mit recht ins Herz hinein strahlenden Augen und etwas aufgeworfenen Rosenlippen. Ob ihre übrigens schönen Haare, die sie in wunderlichen Flechten gar fantastisch aufzunesteln wusste, mehr blond oder mehr braun zu nennen, habe ich vergessen, nur erinnere ich mich sehr gut der seltsamen Eigenschaft, dass sie immer dunkler und dunkler wurden, je länger man sie anschaute. Von schlankem hohen Wuchs, leichter Bewegung, war das Mädchen, zumal in lebenslustiger Umgebung, die Huld, die Anmut selbst, und man übersah es bei so vielem körperlichen Reiz sehr gern, dass Hand und Fuß vielleicht kleiner und zierlicher hätten gebaut sein können. Dabei hatte Candida Goethes «Wilhelm Meister», Schillers Gedichte und Fouqués «Zauberring» gelesen und beinahe alles, was darin enthalten, wieder vergessen; spielte ganz passabel das Pianoforte, sang sogar zuweilen dazu; tanzte die neuesten Françaisen und Gavotten und schrieb die Waschzettel mit einer feinen leserlichen Hand. Wollte man durchaus an dem lieben Mädchen etwas aussetzen, so war es vielleicht, dass sie etwas zu tief sprach, sich zu fest einschnürte, sich zu lange über einen neuen Hut freute und zuviel Kuchen zum Tee verzehrte. Überschwenglichen Dichtern war freilich noch vieles andere an der hübschen Candida nicht recht, aber was verlangen die auch alles. Fürs erste wollen sie, dass das Fräulein über alles, was sie von sich verlauten lassen, in ein somnambüles Entzücken gerate, tief seufze, die Augen verdrehe, gelegentlich auch wohl was weniges ohnmächtle oder gar zurzeit erblinde als höchste Stufe der weiblichsten Weiblichkeit. Dann muss besagtes Fräulein des Dichters Lieder singen nach der Melodie, die ihm (dem Fräulein) selbst aus dem Herzen geströmt, augenblicklich aber davon krank werden und selbst auch wohl Verse machen, sich aber sehr schämen, wenn es herauskommt, ungeachtet die Dame dem Dichter ihre Verse, auf sehr feinem wohlriechenden Papier mit zarten Buchstaben geschrieben, selbst in die Hände spielte, der dann auch seinerseits vor Entzücken darüber erkrankt, welches ihm gar nicht zu verdenken ist. Es gibt poetische Aszetiker, die noch weiter gehen und es aller weiblichen Zartheit entgegen finden, dass ein Mädchen lachen, essen und trinken und sich zierlich nach der Mode kleiden sollte. Sie gleichen beinahe dem heiligen Hieronymus, der den Jungfrauen verbietet Ohrgehänge zu tragen und Fische zu essen. Sie sollen, so gebietet der Heilige, nur etwas zubereitetes Gras genießen, beständig hungrig sein, ohne es zu fühlen, sich in grobe, schlecht genähte Kleider hüllen, die ihren Wuchs verbergen, vorzüglich aber eine Person zur Gefährtin wählen, die ernsthaft, bleich, traurig und etwas schmutzig ist!
Candida war durch und durch ein heitres unbefangenes Wesen, deshalb ging ihr nichts über ein Gespräch, das sich auf den leichten luftigen Schwingen des unverfänglichsten Humors bewegte. Sie lachte recht herzlich über alles Drollige; sie seufzte nie, als wenn Regenwetter ihr den gehoften Spaziergang verdarb oder, aller Vorsicht ungeachtet, der neue Shawl einen Fleck bekommen hatte. Dabei blickte, gab es wirklichen Anlass dazu, ein tiefes inniges Gefühl hindurch, das nie in schale Empfindelei ausarten durfte, und so mochte mir und dir, geliebter Leser, die wir nicht zu den Überschwenglichen gehören, das Mädchen eben ganz recht sein. Sehr leicht konnte es mit Balthasar sich anders verhalten! – Doch bald muss es sich ja wohl zeigen, inwiefern der prosaische Fabian richtig prophezeit hatte oder nicht!
Dass Balthasar vor lauter Unruhe, vor unbeschreiblichem süßen Bangen die ganze Nacht hindurch nicht schlafen konnte: was war natürlicher als das. Ganz erfüllt von dem Bilde der Geliebten, setzte er sich hin an den Tisch und schrieb eine ziemliche Anzahl artiger wohlklingender Verse nieder, die in einer mystischen Erzählung von der Liebe der Nachtigall zur Purpurrose seinen Zustand schilderten. Die wollt’ er mitnehmen in Mosch Terpins literarischen Tee und damit losfahren auf Candidas unbewahrtes Herz, wenn und wie es nur möglich.
Fabian lächelte ein wenig, als er, der Verabredung gemäß, zur bestimmten Stunde kam, um seinen Freund Balthasar abzuholen, und ihn zierlicher geputzt fand, als er ihn jemals gesehen. Er hatte einen gezackten Kragen von den feinsten Brüssler Kanten umgetan, sein kurzes Kleid mit geschlitzten Ärmeln war von gerissenem Samt. Und dazu trug er französische Stiefeln mit hohen spitzen Absätzen und silbernen Fransen, einen englischen Hut vom feinsten Kastor und dänische Handschuhe. So war er ganz deutsch gekleidet und der Anzug stand ihm über alle Maßen gut, zumal er sein Haar schön kräuseln lassen und das kleine Stutzbärtchen wohl aufgekämmt hatte.
Das Herz bebte dem Balthasar vor Entzücken, als in Mosch Terpins Hause Candida ihm entgegentrat, ganz in der Tracht der altdeutschen Jungfrau, freundlich, anmutig in Blick und Wort, im ganzen Wesen, wie man sie immer zu sehen gewohnt. «Mein holdseligstes Fräulein!» seufzte Balthasar aus dem Innersten auf, als Candida, die süße Candida selbst, eine Tasse dampfenden Tee ihm darbot. Candida schaute ihn aber an mit leuchtenden Augen und sprach: «Hier ist Rum und Maraschino, Zwieback und Pumpernickel, lieber Herr Balthasar, greifen Sie doch nur gefälligst zu nach Ihrem Belieben!» Statt aber auf Rum und Maraschino, Zwieback oder Pumpernickel zu schauen oder gar zuzugreifen, konnte der begeisterte Balthasar den Blick voll schmerzlicher Wehmut der innigsten Liebe nicht abwenden von der holden Jungfrau und rang nach Worten, die aus tiefster Seele aussprechen sollten, was er eben empfand. Da fasste ihn aber der Professor der Ästhetik, ein großer baumstarker Mann, mit gewaltiger Faust von hinten, drehte ihn herum, dass er mehr Teewasser auf den Boden verschüttete, als eben schicklich, und rief mit donnernder Stimme: «Bester Lukas Kranach, saufen Sie nicht das schnöde Wasser, Sie verderben sich den deutschen Magen total – dort im andern Zimmer hat unser tapfere Mosch eine Batterie der schönsten Flaschen mit edlem Rheinwein aufgepflanzt, die wollen wir sofort spielen lassen!» – Er schleppte den unglücklichen Jüngling fort.
Doch aus dem Nebenzimmer trat ihnen der Professor Mosch Terpin entgegen, ein kleines, sehr seltsames Männlein an der Hand führend und laut rufend: «Hier, meine Damen und Herren, stelle ich Ihnen einen mit den seltensten Eigenschaften hochbegabten Jüngling vor, dem es nicht schwer fallen wird, sich Ihr Wohlwollen, Ihre Achtung zu erwerben. Es ist der junge Herr Zinnober, der erst gestern auf unsere Universität gekommen und die Rechte zu studieren gedenkt!» – Fabian und Balthasar erkannten auf den ersten Blick den kleinen wunderlichen Knirps, der vor dem Tore ihnen entgegengesprengt und vom Pferde gestürzt war.
«Soll ich,» sprach Fabian leise zu Balthasar, «soll ich denn noch das Alräunchen herausfordern auf Blasrohr oder Schusterpfriem? Anderer Waffen kann ich mich doch nicht bedienen wider diesen furchtbaren Gegner.»
«Schäme dich,» erwiderte Balthasar, «schäme dich, dass du den verwahrlosten Mann verspottest, der, wie du hörst, die seltensten Eigenschaften besitzt und so durch geistigen Wert das ersetzt, was die Natur ihm an körperlichen Vorzügen versagte.» Dann wandte er sich zum Kleinen und sprach: «Ich hoffe nicht, bester Herr Zinnober, dass Ihr gestriger Fall vom Pferde etwa schlimme Folgen gehabt haben wird?» Zinnober hob sich aber, indem er einen kleinen Stock, den er in der Hand trug, hinten unterstemmte, auf den Fußspitzen in die Höhe, so dass er dem Balthasar beinahe bis an den Gürtel reichte, warf den Kopf in den Nacken, schaute mit wildfunkelnden Augen herauf und sprach in seltsam schnurrendem Basston: «Ich weiß nicht, was Sie wollen, wovon Sie sprechen, mein Herr! Vom Pferde gefallen? – ich vom Pferde gefallen? – Sie wissen wahrscheinlich nicht, dass ich der beste Reiter bin, den es geben kann, dass ich niemals vom Pferde falle, dass ich als Freiwilliger unter den Kürassieren den Feldzug mitgemacht und Offizieren und Gemeinen Unterricht gab im Reiten auf der Manège! – hm hm – vom Pferde fallen – ich vom Pferde fallen!» – Damit wollte er sich rasch umwenden, der Stock, auf den er sich gestützt, glitt aber aus, und der Kleine torkelte um und um, dem Balthasar vor die Füße. Balthasar griff herab nach dem Kleinen, ihm aufzuhelfen, und berührte dabei unversehens sein Haupt. Da stieß der Kleine einen gellenden Schrei aus, dass es im ganzen Saal widerhallte und die Gäste erschrocken auffuhren von ihren Sitzen. Man umringte den Balthasar und fragte durcheinander, warum er denn um des Himmels willen so entsetzlich geschrien. «Nehmen Sie es nicht übel, bester Herr Balthasar,» sprach der Professor Mosch Terpin, «aber das war ein etwas wunderlicher Spaß. Denn wahrscheinlich wollten Sie uns doch glauben machen, es trete hier jemand einer Katze auf den Schwanz!» «Katze Katze – weg mit der Katze!» rief eine nervenschwache Dame und fiel sofort in Ohnmacht, und mit dem Geschrei: «Katze – Katze» – rannten ein paar alte Herren, die an derselben Idiosynkrasie litten, zur Türe hinaus.
Candida, die ihr ganzes Riechfläschchen auf die ohnmächtige Dame ausgegossen, sprach leise zu Balthasar: «Aber was richten Sie auch für Unheil an mit Ihrem hässlichen gellenden Miau, lieber Herr Balthasar!»
Dieser wusste gar nicht, wie ihm geschah. Glutrot im ganzen Gesicht vor Unwillen und Scham, vermochte er kein Wort herauszubringen, nicht zu sagen, dass es ja der kleine Herr Zinnober und nicht er gewesen, der so entsetzlich gemauzt.
Der Professor Mosch Terpin sah des Jünglings schlimme Verlegenheit. Er nahte sich ihm freundlich und sprach: «Nun, nun, lieber Herr Balthasar, sein Sie doch nur ruhig. Ich habe wohl alles bemerkt. Sich zur Erde bückend, auf allen Vieren hüpfend, ahmten Sie den gemisshandelten grimmigen Kater herrlich nach. Ich liebe sonst sehr dergleichen naturhistorische Spiele, doch hier im literarischen Tee» – «Aber,» platzte Balthasar heraus, «aber, vortreflichster Herr Professor, ich war es ja nicht.» – «Schon gut – schon gut,» fiel ihm der Professor in die Rede. Candida trat zu ihnen. «Tröste mir,» sprach der Professor zu dieser, «tröste mir doch den guten Balthasar, der ganz betreten ist über alles Unheil, was geschehen.»
Der gutmütigen Candida tat der arme Balthasar, der ganz verwirrt mit niedergesenktem Blick vor ihr stand, herzlich leid. Sie reichte ihm die Hand und lispelte mit anmutigem Lächeln: «Es sind aber auch recht komische Leute, die sich so entsetzlich vor Katzen fürchten.»
Balthasar drückte Candidas Hand mit Inbrunst an die Lippen. Candida ließ den seelenvollen Blick ihrer Himmelsaugen auf ihm ruhen. Er war verzückt in den höchsten Himmel und dachte nicht mehr an Zinnober und Katzengeschrei. – Der Tumult war vorüber, die Ruhe wieder hergestellt. Am Teetisch saß die nervenschwache Dame und genoss mehreren Zwieback, den sie in Rum tunkte, versichernd, an dergleichen erlabe sich das von feindlicher Macht bedrohte Gemüt, und dem jähen Schreck folge sehnsüchtig Hoffen!
Auch die beiden alten Herren, denen draußen wirklich ein flüchtiger Kater zwischen die Beine gelaufen, kehrten beruhigt zurück und suchten, wie mehrere andere, den Spieltisch.
Balthasar, Fabian, der Professor der Ästhetik, mehrere junge Leute setzten sich zu den Frauen. Herr Zinnober hatte sich indessen eine Fußbank herangerückt und war mittelst derselben auf das Sofa gestiegen, wo er nun in der Mitte zwischen zwei Frauen saß und stolze funkelnde Blicke um sich warf.
Balthasar glaubte, dass der rechte Augenblick gekommen, mit seinem Gedicht von der Liebe der Nachtigall zur Purpurrose hervorzurücken. Er äußerte daher mit der gehörigen Verschämtheit, wie sie bei jungen Dichtern im Brauch ist, dass er, dürfe er nicht fürchten, Überdruss und Langeweile zu erregen, dürfe er auf gütige Nachsicht der geehrten Versammlung hoffen, es wagen wolle, ein Gedicht, das jüngste Erzeugnis seiner Muse, vorzulesen.
Da die Frauen schon hinlänglich über alles verhandelt, was sich Neues in der Stadt zugetragen, die Mädchen den letzten Ball bei dem Präsidenten gehörig durchgesprochen und sogar über die Normalform der neuesten Hüte einig worden, da die Männer unter zwei Stunden nicht auf weitere Speis- und Tränkung rechnen durften, so wurde Balthasar einstimmig aufgefordert, der Gesellschaft ja den herrlichen Genuss nicht vorzuenthalten.
Balthasar zog das sauber geschriebene Manuskript hervor und las.
Sein eignes Werk, das in der Tat aus wahrhaftem Dichtergemüt mit voller Kraft, mit regem Leben hervorgeströmt, begeisterte ihn mehr und mehr. Sein Vortrag, immer leidenschaftlicher steigend, verriet die innere Glut des liebenden Herzens. Er bebte vor Entzücken, als leise Seufzer – manches leise Ach – der Frauen, mancher Ausruf der Männer: «Herrlich – vortreflich – göttlich!» ihn überzeugten, dass sein Gedicht alle hinriss.
Endlich hatte er geendet. Da riefen alle: «Welch ein Gedicht! – welche Gedanken – welche Fantasie – was für schöne Verse – welcher Wohlklang – Dank – Dank Ihnen, bester Herr Zinnober, für den göttlichen Genuss.»
«Was? wie?» rief Balthasar; aber niemand achtete auf ihn, sondern stürzte auf Zinnober zu, der sich auf dem Sofa blähte wie ein kleiner Puter und mit widriger Stimme schnarchte: «Bitte recht sehr – bitte recht sehr – müssen so vorlieb nehmen! – ist eine Kleinigkeit, die ich erst vorige Nacht aufschrieb in aller Eil’!» – Aber der Professor der Ästhetik schrie: «Vortreflicher – göttlicher Zinnober! Herzensfreund, außer mir bist du der erste Dichter, den es jetzt gibt auf Erden! – Komm an meine Brust, schöne Seele!» – Damit riss er den Kleinen vom Sofa auf in die Höhe und herzte und küsste ihn. Zinnober betrug sich dabei sehr ungebärdig. Er arbeitete mit den kleinen Beinchen auf des Professors dickem Bauch herum und quäkte: «Lass mich los – lass mich los – es tut mir weh – weh – weh ich kratz’ dir die Augen aus – ich beiß’ dir die Nase entzwei!» – «Nein,» rief der Professor, indem er den Kleinen niedersetzte auf den Sofa, «nein, holder Freund, keine zu weit getriebene Bescheidenheit!» – Mosch Terpin war nun auch vom Spieltisch herangetreten, der nahm Zinnobers Händchen, drückte es und sprach sehr ernst: «Vortreflich, junger Mann! – nicht zuviel, nein, nicht genug sprach man mir von dem hohen Genius, der Sie beseelt.» «Wer ist’s,» rief nun wieder der Professor der Ästhetik in voller Begeisterung aus, «wer ist’s von euch Jungfrauen, der dem herrlichen Zinnober sein Gedicht, das das innigste Gefühl der reinsten Liebe ausspricht, lohnt durch einen Kuss?»
Da stand Candida auf, nahete sich, volle Glut auf den Wangen, dem Kleinen, kniete nieder und küsste ihn auf den garstigen Mund mit blauen Lippen. «Ja,» schrie nun Balthasar, wie vom Wahnsinn plötzlich erfasst, «ja, Zinnober – göttlicher Zinnober, du hast das tiefsinnige Gedicht gemacht von der Nachtigall und der Purpurrose, dir gebührt der herrliche Lohn, den du erhalten!»
Und damit riss er den Fabian ins Nebenzimmer hinein und sprach: «Tu mir den Gefallen und schaue mich recht fest an und dann sage mir offen und ehrlich, ob ich der Student Balthasar bin oder nicht, ob du wirklich Fabian bist, ob wir in Mosch Terpins Hause sind, ob wir im Traume liegen – ob wir närrisch sind – zupfe mich an der Nase oder rüttle mich zusammen, damit ich nur erwache aus diesem verfluchten Spuk!»
«Wie magst,» erwiderte Fabian, «wie magst du dich denn nur so toll gebärden aus purer heller Eifersucht, weil Candida den Kleinen küsste. Gestehen musst du doch selbst, dass das Gedicht, welches der Kleine vorlas, in der Tat vortreflich war.» – «Fabian,» rief Balthasar mit dem Ausdruck des tiefsten Erstaunens, «was sprichst du denn?» «Nun ja,» fuhr Fabian fort, «nun ja, das Gedicht des Kleinen war vortreflich, und gegönnt hab’ ich ihm Candidas Kuss. – Überhaupt scheint hinter dem seltsamen Männlein allerlei zu stecken, das mehr wert ist als eine schöne Gestalt. Aber was auch selbst seine Figur betrift, so kommt er mir jetzt nichts weniger als so abscheulich vor wie anfangs. Beim Ablesen des Gedichts verschönerte die innere Begeisterung seine Gesichtszüge, so dass er mir oft ein anmutiger wohlgewachsener Jüngling zu sein schien, ungeachtet er doch kaum über den Tisch hervorragte. Gib deine unnütze Eifersucht auf, befreunde dich als Dichter mit dem Dichter!»
«Was,» schrie Balthasar voll Zorn, «was? – noch befreunden mit dem verfluchten Wechselbalge, den ich erwürgen möchte mit diesen Fäusten?»
«So,» sprach Fabian, «so verschließest du dich denn aller Vernunft. Doch lass uns in den Saal zurückkehren, wo sich etwas Neues begeben muss, da ich laute Beifallsrufe vernehme.»
Mechanisch folgte Balthasar dem Freunde in den Saal.
Als sie eintraten, stand der Professor Mosch Terpin allein in der Mitte, die Instrumente noch in der Hand, womit er irgendein physikalisches Experiment gemacht, starres Staunen im Gesicht. Die ganze Gesellschaft hatte sich um den kleinen Zinnober gesammelt, der, den Stock untergestemmt, auf den Fußspitzen dastand und mit stolzem Blick den Beifall einnahm, der ihm von allen Seiten zuströmte. Man wandte sich wieder zum Professor, der ein anderes sehr artiges Kunststückchen machte. Kaum war es fertig, als wiederum alle, den Kleinen umringend, riefen: «Herrlich – vortreflich, lieber Herr Zinnober!»
Endlich sprang auch Mosch Terpin zu dem Kleinen hin und rief zehnmal stärker als die übrigen: «Herrlich – vortrefflich, lieber Herr Zinnober!»
Es befand sich in der Gesellschaft der junge Fürst Gregor, der auf der Universität studierte. Der Fürst war von der anmutigsten Gestalt, die man nur sehen konnte, und dabei war sein Betragen so edel und ungezwungen, dass sich die hohe Abkunft, die Gewohnheit, sich in den vornehmsten Kreisen zu bewegen, darin deutlich aussprach.
Fürst Gregor war es nun, der gar nicht von Zinnober wich und ihn als den herrlichsten Dichter, den geschicktesten Physiker über alle Maßen lobte.
Seltsam war die Gruppe, die beide, zusammenstehend, bildeten. Gegen den herrlich gestalteten Gregor stach gar wunderlich das winzige Männlein ab, das mit hoch emporgereckter Nase sich kaum auf den dünnen Beinchen zu erhalten vermochte. Alle Blicke der Frauen waren hingerichtet, aber nicht auf den Fürsten, sondern auf den Kleinen, der, sich auf den Fußspitzen hebend, immer wieder herabsank und so hinauf und hinunter wankte wie ein Cartesianisches Teufelchen.
Der Professor Mosch Terpin trat zu Balthasar und sprach: «Was sagen Sie zu meinem Schützling, zu meinem lieben Zinnober? Viel steckt hinter dem Mann, und nun ich ihn so recht anschaue, ahne ich wohl die eigentliche Bewandtnis, die es mit ihm haben mag. Der Prediger, der ihn erzogen und mir empfohlen hat, drückt sich über seine Abkunft sehr geheimnisvoll aus. Betrachten Sie aber nur den edlen Anstand, sein vornehmes, ungezwungenes Betragen. Er ist gewiss von fürstlichem Geblüt, vielleicht gar ein Königssohn!» – In dem Augenblick wurde gemeldet, das Mahl sei angerichtet. Zinnober torkelte ungeschickt hin zur Candida, ergriff täppisch ihre Hand und führte sie nach dem Speisesaal.
In voller Wut rannte der unglückliche Balthasar durch die finstre Nacht, durch Sturmwind und Regen fort, nach Hause.